Liverpool, November 1839

Sie haben Besuch«, sagte der Butler, als Madeline aus dem Pub nach Hause kam.

Sie sah den Mann überrascht an. Es war inzwischen sieben Uhr am Abend und etwas zu früh für Johns Besuch, der um diese Zeit normalerweise noch beim Dinner in Wooverlough Court saß. Sie hatte auch seine Kutsche nicht in der Einfahrt stehen sehen.

Nachdem sie ihren Hut abgelegt und den Mantel ausgezogen hatte, begab sie sich in den Salon. Als sie eintrat, stand ihr Besucher auf, der in dem Sessel am Fenster gesessen und auf sie gewartet hatte.

Sie fuhr zusammen.

Er war es. Er war gekommen. Gerald!

Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Sie hatte gehofft, dass er sie in jener schrecklichen Nacht, als sie Zeugin seiner jüngsten Gewalttat geworden war, vielleicht nicht erkannt hatte. Im Zimmer des Mädchens war es dunkel gewesen. Aber Gerald fand sich bei Nacht ebensogut zurecht wie Madeline, es war ein Trugschluss gewesen, zu glauben, er würde sie in Ruhe lassen.

»Habe ich dich erschreckt?«, fragte er mit einem seltsamen Lächeln und ging auf sie zu.

»Was willst du?«, fragte sie mit krächzender Stimme.

»Mit dir reden«, erwiderte er freundlich. »Ich habe gehört, du erzählst Lügen über mich, verbreitest unschöne Gerüchte?«

Madeline schluckte. Sie verwünschte in diesem Moment die Diskretion der Dienstboten. Warum konnte der Butler nicht kommen und fragen, ob alles in Ordnung sei? Aber natürlich konnte er nicht wissen, dass Madelines Gast ein unberechenbarer Mörder war.

Sie atmete tief durch. »Ich erzähle das, weil es die Wahrheit ist. Ich spreche sie aus. Aber dein Bruder hat mich gezwungen, meine Worte zu widerrufen. Dabei weiß ich genau, was ich gesehen habe, und ich werde nicht ruhen, bis ich sicher bin, dass du deine gerechte Strafe bekommen hast.«

»Richten kann mich nur Gott. Bitte, setz dich.« Gerald deutete auf das Sofa, als wäre er der Hausherr, und nahm dann selbst in einem der Sessel Platz. Er wartete, bis Madeline sich gesetzt hatte, ehe er weitersprach. »Das, was du glaubst, gesehen zu haben, ist ein Missverständnis.«

»Wie bitte?« Madeline stieß verblüfft die Luft aus. »Es war ein Missverständnis, dass du die Frau erwürgt hast? Und ihre Leiche, die ich mit eigenen Augen gesehen habe, war auch nur ein Missverständnis?«

»Allerdings.«

Gerald hob entwaffnend die Hände. Das Kaminfeuer warf tanzende Schatten auf sein Gesicht. »Nein, dazu habe ich mich tatsächlich hinreißen lassen. Meine Gefühle sind mit mir durchgegangen und ich entschuldige mich dafür. Deshalb bin ich hier. Ich will dich um Verzeihung bitten.«

»Du willst … was?«, stammelte Madeline irritiert. Was hatte Gerald vor? Wollte er sie verwirren?

Der Pfarrer sah sie mit großen Augen an. In diesem Moment wirkte er wie der kleine Junge, den Madeline aus ihrer Kindheit kannte. »Ich habe mich erschrocken, als du mich beobachtet hast. Ich hab mich geschämt in dieser Situation … Und da habe ich kurz die Kontrolle verloren.«

Madeline verstand noch immer nichts. »Du möchtest dich dafür entschuldigen, dass du versucht hast, mich zu töten, und streitest gleichzeitig die anderen Morde ab?«

»Nein, ich streite sie nicht ab, ich sage nur, dass das alles ein großer Irrtum deinerseits ist.« Er schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. »Ja, ich habe sie ermordet, das will ich nicht leugnen. Aber ich habe es nicht aus Bosheit getan.«

Madeline konnte nicht glauben, was er ihr da erzählte. Was war an einem Mord falsch zu deuten? Dieser Mann hatte vielen Menschen das Leben genommen. Ihr war schrecklich übel vor Angst. Dieser Alptraum musste ein Ende finden. Doch stattdessen wurde es immer schlimmer.

»Ich habe diese Frauen geopfert«, erklärte Gerald. »Sie mussten sterben, damit die Welt gereinigt wird.«

»Und warum muss die Welt gereinigt werden?«, fragte

»Weil ich ein Sünder bin«, stieß er aus und sprang auf. Er fuhr sich mit den Händen nervös durch sein Haar. »Ich habe mich geschämt. Ich konnte mir selbst nicht mehr ins Gesicht sehen, nach dem, was ich … mit ihnen …«

Madeline war ebenfalls aufgestanden. Mit angehaltenem Atem bewegte sie sich in Richtung Tür. Sie wollte nach ihrem Butler rufen oder nach einem Hausmädchen. Die Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Ob er vorhatte, sie zu töten? Vorsichtig näherte sie sich dem Ausgang, ohne den Blick von Gerald abzuwenden.

»Halt!« Er kam zu ihr und hielt sie am Arm fest.

Madeline zuckte zusammen. Er hatte ihre Absicht durchschaut.

»Es ist noch zu früh, um zu gehen. Wir unterhalten uns doch gerade so schön, Madeline.« Nun führte er sie zurück zum Sofa, und Madeline ließ sich zitternd auf das Polster fallen. Ihre Knie waren weich, ihr war heiß und kalt zugleich. Es fiel ihr schwer, sich auf Geralds Worte zu konzentrieren. Aber sie durfte jetzt nicht die Fassung verlieren. Sie musste sich zusammenreißen, nur so konnte sie es schaffen, zu überleben.

Er setzte sich wieder in den Sessel. »Ich bin schwach, und mein Körper hatte gewisse Bedürfnisse. Ich habe ihnen nachgegeben und es anschließend bereut. Ich bin in Zwiesprache mit Gott gegangen und er hat mir einen Ausweg gezeigt. Er trug mir auf, die Frauen zu opfern. Das war vor zwei Jahren. Schon davor bin ich einige Male zu ihnen gegangen und habe … Es war unwürdig. Ich habe mich so geschämt. Aber dann sprach Gott zu mir und sagte, dass

»Du meinst, Gott hat dich beauftragt, Frauen zu ermorden?«, fragte Madeline entsetzt. Der Wahnsinn des Pfarrers offenbarte sich ihr mehr und mehr.

Er lächelte. »Nicht alle, nur die, mit denen mein Körper sich vereinigt hat. Daher war es auch falsch, dich töten zu wollen, denn du warst unschuldig. Gott hat es verhindert. Er hat dir die Kraft gegeben, dich gegen mich zur Wehr zu setzen.«

Madeline unterdrückte die Bemerkung, dass Gott sicher nichts mit ihrer Rettung zu tun gehabt habe, sondern diese vielmehr ihrem Knie zuzuschreiben sei, das Geralds Unterleib getroffen hatte.

Der Pfarrer saß im Sessel und sah sehr zufrieden aus. Das traf Madeline beinahe am meisten. Dieser Mann hatte inzwischen fünfzehn Frauen umgebracht und er schien kein bisschen Reue zu verspüren. Keinerlei Gewissensbisse plagten ihn. Vielleicht konnte Gerald nicht einmal etwas dafür. Er war ernsthaft krank.

Madeline räusperte sich und versuchte, ihrer Stimme eine Selbstsicherheit zu geben, die ihr gerade fehlte. »Aber es ist doch völlig normal, dass du diese Bedürfnisse hast. Du bist ein erwachsener Mann und nicht verheiratet. Du hast also keine Frau, die du betrügen würdest …«

»Nein«, entgegnete Madeline in festem Ton. »Du bist Anglikaner. Du bist nicht zum Zölibat verpflichtet.«

»Damit hat das nichts zu tun«, schrie er wieder und fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. »Es ist unwürdig, es ist verabscheuungswürdig. Allein der Gedanke daran … Aber diese Gedanken kommen mir immer wieder. Sie schleichen sich in meinen Kopf, in meine Träume. Ich versuche alles, um sie zu vertreiben.«

»Die Selbstkasteiung!«, flüsterte Madeline und dachte an ihre schreckliche Entdeckung. »Deshalb schlägst du dich.«

»Ich prügle die unreinen Gedanken aus mir heraus! Ich reinige mich auf diese Weise. Aber sie kommen wieder, immer wieder, diese schmutzigen Gedanken, das Verlangen …« Er verbarg seinen Kopf zwischen den Händen.

»Hätte es denn nicht gereicht, dich selbst zu züchtigen? Mussten die Frauen sterben, nur weil du dich geschämt hast?«, fragte Madeline mit Tränen in den Augen.

Er sah auf und wirkte erstaunt. »Es geht nicht um mich. Es geht um Gott. Ich habe Gott erzürnt, ihn verhöhnt. Es war sein Auftrag, seine Idee. Er hat von mir verlangt, dass ich sie opfere. Ich hatte kein Recht auf diese Frauen. Sie gehören ihm, alles gehört ihm, und wenn er verlangt, dass ich sie ihm darbringe, dann weihe ich sie ihm.«

Madeline versuchte, ihre Fassungslosigkeit zu verbergen, aber es war schwer, da ihr der pure Wahnsinn gegenübersaß.

Gerald nickte gedankenverloren. Wie um sich selbst zu bestätigen, sagte er: »Deshalb musste ich sie kreuzigen.«

»Im Gebet natürlich. Er offenbart sich mir im Gebet.« Gerald ließ sich wieder in den Sessel sinken, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.

Er war ganz offensichtlich krank, etwas stimmte mit seinem Geist nicht, seine Nerven schienen völlig zerrüttet zu sein. Aber die Polizei interessierte sich nicht für Madelines Aussage. Sie würde noch einmal mit John sprechen müssen. Gerald war eine Gefahr für sich und andere. Er musste in ein Tollhaus gesperrt werden oder in eine der modernen Irrenanstalten. Aber wie konnte Madeline erreichen, dass man ihr Glauben schenkte?

Sie räusperte sich. Jetzt kam es darauf an, mit Bedacht vorzugehen. »Gerald, ich kann mir vorstellen, dass das sehr belastend für dich sein muss.«

Er nickte und in seine Augen traten Tränen. »Aber mein Leben mit Gott ist meine Berufung. Meine Sünde zeichnet mich als Menschen aus. Ich bin Gottes nicht würdig, ich bin ihm ein schwacher Untertan.«

»Natürlich bist du das, wir alle sind es«, versuchte sie ihn zu beruhigen.

Er funkelte sie an. Böse, enttäuscht und wütend.

Madeline schluckte. Sie hatte etwas Falsches gesagt, sie wusste es, bevor er weitersprach.

»Ihr alle«, er deutete mit einem Finger auf sie, seine Stimme war hasserfüllt, sein Gesicht zur Fratze verzogen, »ihr könnt euch nicht mit mir vergleichen. Ich bin sein Sohn.«

»Gottes Sohn?« Madeline unterdrückte ein hysterisches Lachen. Ihre Nerven waren bis zum Äußersten angespannt.

Er streckte seine Hände gen Himmel. »Und er hat mehr von mir erwartet. Mehr als das, was ich ihm geben kann. Ich habe ihn enttäuscht. Aber er hat mir eine zweite Chance gewährt. Wenn ich mich mit den Frauen vereinige und sie anschließend töte, säubere ich die Welt. Diese Frauen sind schmutzig, sie verhöhnen Gott, meinen Vater! Sie sind Versuchungen, die ausgelöscht werden müssen.«

Madeline entfuhr ein Seufzer der Verzweiflung.

»Du musst mit mir zur Polizei gehen«, sagte sie und lehnte sich nach vorn. »Sie werden dir helfen, ich verspreche es.«

Sie wusste, dass das nicht gelogen war. Denn der Strang, der Gerald erwarten würde, wäre eine Erlösung für ihn.

Wieder wanderte sein Blick nach oben zur Zimmerdecke. »Nur ich kann mein Werk vollenden. Gott vertraut auf mich, er erwartet, dass ich den Kampf für ihn kämpfe. Den Kampf gegen die Verlockungen des Fleisches.«

Madeline überlegte fieberhaft, was sie noch sagen, welche Argumente sie vortragen könnte, die ihn erreichen würden. Aber dieser Mann war vernünftigen Gedanken gegenüber nicht zugänglich.

»Ich werde dafür sorgen, dass du keine weiteren Frauen mehr umbringen kannst«, sagte Madeline schließlich. Sie beschloss, nun nicht mehr zu taktieren, sondern die Wahrheit zu sagen. Sollte es sie das Leben kosten, würde ihr Tod hoffentlich John und den Senior Police Officer endlich wachrütteln. »Es kann nicht Gottes Wille sein, dass unschuldige Menschen sterben. Es tut mir leid, Gerald. Du

Er lachte. »Niemand wird mich aufhalten, Madeline. Und niemand wird dir glauben. Ich bin der Pfarrer von Fleetwood, Bruder des Earls, ein Aristokrat und Theologe. Ich habe einen untadeligen Ruf. Und was hast du? Was bist du?«

Madeline atmete tief durch. In diesem Punkt hatte er recht. Resigniert ließ sie die Schultern hängen. Ihr gesamter Körper schmerzte von der Anspannung, in der sie noch immer auf der Sofakante saß.

Er beantwortete seine Fragen selbst. »Du bist eine Frau, eine Dirne, und verkaufst dich für ein bisschen Wohlstand. Niemand wird dir glauben.«

»Oh Gott!«, stöhnte Madeline.

»Nimm seinen Namen nicht in den Mund! Du bist seiner nicht würdig. Gott will mit dir nichts zu tun haben«, schrie er und stand auf. »Du hast keine Beweise gegen mich, Madeline. Aus diesem Grund lasse ich dich am Leben, und weil ich mich nicht versündigen will. Das ist dein großes Glück und deine Rettung. Und jetzt entschuldige mich, ich muss zurück zu meiner Gemeinde.«

Er nahm seinen Hut, der auf dem Tisch gelegen hatte, winkte ihr zu und verließ den Salon. Sie saß da wie erstarrt und lauschte. Erst als die Haustür ins Schloss fiel, sackte sie zitternd in sich zusammen. Er hatte ihr nichts angetan! Er hatte nicht einmal versucht, sie zum Schweigen zu bringen. Offenbar war Gerald der Meinung, dass er eine Sünde beging, wenn er Madeline umbrachte. Nur die Frauen, mit denen er sich zuvor vereinigt hatte, durfte er Gott als Opfer darbringen. Und da er einen göttlichen

Madeline schloss entsetzt die Augen. Gerald hatte recht. Sie hatte keinerlei Möglichkeit, ihn aufzuhalten. Die Polizei glaubte ihr nicht und John auch nicht. Es brachte nichts, noch einmal mit dem Earl über die Sache zu reden, er würde nur wütend werden und seinen Zorn an ihr auslassen.

Madeline stöhnte laut auf und ließ sich erschöpft zurück in die Sofakissen sinken. Noch nie hatte sie sich so hilflos gefühlt. Sie überlegte fieberhaft. Gerald würde weiter morden, wenn niemand ihn aufhielt. Sie musste das unbedingt verhindern.

Dann erhob sie sich. Sie ging zum Kamin, und nachdem sie eine Weile gedankenverloren in das prasselnde Feuer gestarrt hatte, stand ihr Entschluss fest. Wenn Gerald glaubte, sie sei machtlos gegen ihn, dann hatte er sich getäuscht. Denn das war sie nicht. Sie musste sich nur auf sich selbst besinnen. Ja, sie war eine Frau, und vor dem Gesetz zählte ihr Wort weniger als das eines Mannes. Aber in diesem Fall musste sie sich über das Gesetz hinwegsetzen, das den Tod zahlreicher unschuldiger Frauen nicht verhindert hatte. Nein, Madeline musste selbst etwas unternehmen. Sie musste Richter und Henker sein.

 

In den nächsten Wochen lebte Madeline ihr Leben weiter, als wäre nichts geschehen. Sie ertrug Johns regelmäßige Besuche, gestand ihm, dass sie tatsächlich sein Kind in sich trug, worüber er sich außerordentlich freute, und wartete. Sie wartete auf den Tag, an dem sie die toten Frauen rächen und unschuldige Leben retten konnte. Als einige

Madelines Gedanken kehrten zu ihrer Freundin Molly zurück, zu Gerda und Edwina, zu der Näherin, die sie vor wenigen Wochen tot vorgefunden hatte, und sie wusste, dass ihr keine andere Wahl blieb. Sie musste zur Mörderin werden, um all die anderen Frauen zu retten.

Ihr Blick fiel auf einen Backstein, der am Straßenrand lag. Vielleicht hatten Kinder ihn von einer nahe gelegenen Baustelle hierhergebracht. Sie hob ihn auf, ohne ihr Opfer aus den Augen zu lassen. Von Hausecke zu Hausecke schlich sie sich immer näher heran. Sie hatte keinen ausgereiften

Mit schnellen Schritten verließ sie den Hafen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie hatte es geschafft. Das Morden hatte ein Ende. Die Frauen waren wieder in Sicherheit. Und Madeline war zur Mörderin geworden.