Liverpool, November 1839

Jetzt kennst du die Wahrheit, Thomas«, flüsterte Madeline. Sie saßen noch immer auf dem Sofa in ihrem Salon. »Ich bin eine Mörderin, aber ich hatte keine Wahl.« Sie zögerte. »Denn ich konnte nicht in dem Wissen leben, dass weitere Frauen sterben würden. Ich konnte es verhindern und das habe ich getan. Auch wenn ich dafür zur Sünderin wurde.«

Thomas atmete tief ein. Er starrte in das prasselnde Kaminfeuer. Was sollte er jetzt tun? Er hatte Gerald Farwells Mörderin gefunden, wie es sein Auftrag gewesen war, und gleichzeitig fünfzehn weitere Morde aufgeklärt. Doch wie konnte er vor Gericht beweisen, dass der verstorbene Gerald Farwell der Mörder der Dirnen gewesen war? Die Nägel in Fleetwood und die Ketten und Peitschen waren keine brauchbaren Indizien. Schließlich hätte sie jeder dort hinlegen können. Und Madelines Aussage würde vor Gericht wohl kaum von Bedeutung sein. Außerdem würde der Earl of Wooverlough die Schuld seines Bruders vehement bestreiten und ihm vermutlich falsche Alibis liefern. Nein, Thomas würde sich nur gehörigen Ärger einhandeln und Madeline würde gehängt werden.

Er drehte sich zu ihr und studierte sie genau. Madeline

»Ich bereue es nicht«, sagte sie jetzt, als hätte sie Thomas’ Gedanken gelesen. »Es war die einzige Möglichkeit, die ich gesehen habe, und ich musste sie nutzen.«

Er nickte. Sie hatte recht.

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie ihn, nicht ängstlich, nur interessiert.

Thomas fuhr sich erschöpft mit der Hand über das Gesicht. »Ich muss mit Whittey sprechen.«

Es war der schwerste Gang, den er je hatte tun müssen. Noch nie hatte er so tiefes Verständnis für eine Mörderin gehabt wie in diesem Fall. Aber er war Polizist und dafür da, das Gesetz zu schützen.

 

Als Thomas eine halbe Stunde später das Gebäude betrat, in dem der Senior Police Officer sein Quartier hatte, war sein Entschluss gefasst. Er nahm sich einen Moment Zeit, Notizen für seinen Abschlussbericht niederzuschreiben. Dann machte er sich auf den Weg zu Whitteys Büro.

»Inspector Young«, begrüßte ihn der Polizeibeamte, der hinter den Aktenstapeln hervorspähte. »Haben Sie Ergebnisse für mich?«

Thomas nickte und setzte sich. Nervös drehte er seinen Hut in den Händen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er dabei, das Gesetz zu verletzen.

Thomas winkte ab. Im Augenblick würde er sowieso nichts hinunterbringen. »Für mich nichts, vielen Dank.«

Er wartete mit klopfendem Herzen, bis Whittey sich einen Drink eingegossen und ihm gegenüber Platz genommen hatte. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, der sein Leben in zwei Hälften teilen sollte. In ein Davor, als er ein gesetzestreuer Police Inspector gewesen war, unbestechlich und nur der Wahrheit verpflichtet. Und in ein Danach, als er eine Mörderin gedeckt hatte, in die er sich längst verliebt hatte. Aber es waren nicht nur die Gefühle, die er für Madeline hegte, die ihn zu der folgenden Lüge trieben. Es war vor allem sein persönliches Gerechtigkeitsempfinden, das Wissen um die Richtigkeit von Madelines Handeln. Es war undenkbar für ihn, eine Frau dem Henker auszuliefern, die gemordet hatte, um andere zu schützen.

Thomas’ Stimme klang merkwürdig schrill, als er schließlich sagte: »Wir können mit absoluter Sicherheit davon ausgehen, dass es sich bei dem Mord an Gerald Farwell um einen Raubüberfall handelte.«

Whittey sah ihn überrascht an. »Ach, Sie sind also endlich meiner Meinung? Was ist mit der Taschenuhr, die Sie erwähnten?«

Thomas biss sich auf die Unterlippe. Dann erklärte er schnell: »Ja, wegen der Taschenuhr hatte ich ursprünglich an Ihrer Theorie gezweifelt. Aber es ist wohl anzunehmen, dass der Räuber bei seiner Tat in jener Nacht gestört wurde.

Whittey trank einen großen Schluck Whiskey und strich sich anschließend über den Bart. »Das habe ich doch von Anfang an gesagt, Young. Wenn Sie in London alle so umständlich arbeiten, haben die Verbrecher dort nichts zu befürchten.« Er lachte laut und schenkte sich Whiskey nach.

Thomas gab sich demütig. »Sie haben vollkommen recht, Sir. Ich hätte gleich auf Sie hören sollen.«

»Richtig, richtig«, rief Whittey und wirkte äußerst zufrieden. »Haben Sie den Earl of Wooverlough schon unterrichtet?«

»Nein, Sir«, antwortete Thomas. »Ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen.«

Whittey nippte wieder an seinem Glas. »Das ist löblich. Der Dienstweg muss eingehalten werden. Nun, ich sehe den Earl ohnehin heute Abend bei einer Dinnergesellschaft. Ich werde ihn informieren und Ihren Bericht an ihn weiterleiten. Ist der bereits verfasst?«

Thomas nickte und zog das Papier aus der Tasche, das er eben aufgesetzt hatte.

Whittey nahm das Schriftstück und las es sorgfältig durch. Schließlich legte er es zufrieden auf einen der Stapel auf seinem Schreibtisch. »Ich nehme an, es besteht keine Hoffnung, den Täter zu erwischen?«

Thomas hob bedauernd die Schultern. »Ich befürchte, das ist aussichtslos. Der Kerl ist sicher längst nicht mehr in

Der Senior Police Officer schnaubte. »War vermutlich einer der Seemänner. Auf diesen Schiffen arbeitet allerlei Pack.«

»So wird es wohl gewesen sein«, räumte Thomas ein und entschuldigte sich insgeheim bei allen Seeleuten für diesen falschen Verdacht.

»Gute Arbeit, Young, gute Arbeit.« Whittey leerte sein Glas und stand auf. »Der Earl wird Sie bestimmt bei Ihrem Vorgesetzten loben, wenn er ihn das nächste Mal trifft.«

Daran hatte Thomas zwar erhebliche Zweifel, aber die behielt er vorsichtshalber für sich. Als er das Gebäude verließ, hoffte er, dass die Angelegenheit damit erledigt sei.

 

Kurz darauf kehrte der Inspector noch einmal zu Madeline zurück. Sie schien ihn erwartet zu haben.

Sie saß auf dem Sofa im Salon und hatte sich umgezogen. Jetzt trug sie ein dunkles Reisekleid.

»Du musst mich verhaften, oder?«, fragte sie.

Thomas griff nach ihrer Hand. »Ich habe dem Senior Police Officer gesagt, dass wir von einem Raubüberfall ausgehen müssen und den Täter wohl nie finden werden.«

Madeline atmete erleichtert auf. Sie hatte ihm mit vor Aufregung geweiteten Augen zugehört. Jetzt zeigte sich die Freude nur allzu deutlich auf ihrem Gesicht. »Du lässt mich davonkommen, Thomas?«

Er lächelte. »Du bist eine starke Frau, Madeline. Nicht viele Menschen hätten so mutig für die Gerechtigkeit gekämpft. Du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt, um zahllose andere zu retten. Du hast dich nicht abschrecken lassen

Madeline seufzte und sank in die Kissen. Sie bedeutete ihm, Platz zu nehmen. »Ich habe schon immer zwischen den Welten gelebt. Meine Eltern waren nie für mich da, und ich wurde von fremden Menschen aufgezogen, die dem Earl verpflichtet waren. Doch ich bin gemeinsam mit Gerald und John aufgewachsen und habe auch von den Vorzügen profitiert, die ein Leben auf Wooverlough Court mit sich brachte. Meine Schönheit hat mich früh zu Johns Mätresse gemacht. Ich musste nie hungern und bekam alles, was ich haben wollte, auch wenn ich nicht frei war. Das hat mich nicht gestört, bis vor wenigen Wochen, als ich bemerkt habe, dass es John nie um meine Person gegangen ist. Ich war sein Besitz. Und es hat all die Jahre ja auch wunderbar funktioniert. Ich habe immer getan, was er wollte. Aber als ich begann, seinen Bruder zu verdächtigen, und mir nicht verbieten ließ, der Sache weiter nachzugehen, hat er mir eine Seite von sich gezeigt, die schrecklich ist. Er ist nicht weniger brutal als sein Bruder, Thomas. Aber er ist nicht krank. John ist nicht wahnsinnig.«

Der Inspector streichelte Madelines Hand, die noch immer in seiner lag. Er rückte näher an sie heran. »Dass er dir Gewalt angetan hat, ist unverzeihlich. Das darfst du dir nicht gefallen lassen.« Er biss sich auf die Unterlippe, denn er wusste selbst, dass Madeline als Frau kaum eine Möglichkeit hatte, sich zur Wehr zu setzen.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Gerald ist auf ein christliches Internat gegangen. Das hat ihn sehr verändert. Ich nehme an, dass sie ihm dort vermittelt haben,

Thomas betrachtete Madeline. Sie war wunderschön, und in ihren Augen lag eine unendlich große Weisheit. Wie falsch hatte er sie anfangs eingeschätzt! Sie war immer viel schlauer gewesen, als er geglaubt hatte.

»Küss mich, Thomas«, sagte Madeline in ernstem Ton.

Der Inspector lächelte. Was hatte er jetzt noch zu verlieren? Sie hatte ihn längst in ihren Bann gezogen, und er würde alles tun, um ihr zu helfen, dem Strick zu entkommen.

Er beugte sich zu ihr und tat, worum sie ihn gebeten hatte. Ihre Lippen waren voll und weich, ihr Atem heiß, und Thomas ließ sich ganz in diesen Kuss fallen. Sie schmiegte sich an ihn und die Welt stand still, während Thomas sie in seinen Armen hielt. Schließlich löste sie sich von ihm und stand auf.

»Madeline«, sagte der Inspector und räusperte sich. »Wohin willst du jetzt gehen?«

»Ob ich mich weiter frei bewegen kann, liegt nicht in meiner Macht«, stellte Madeline traurig fest, während sie ans Fenster trat.

Thomas erhob sich ebenfalls. »Nun, außer uns kennt niemand die Wahrheit und von mir wird sie auch niemand erfahren.«

»Ich werde die Mutter seines Kindes sein, John wird mich nie gehen lassen«, stellte Madeline fest.

»Warte, Thomas.« Madeline legte ihre Hand auf seinen Unterarm und zog ihn wieder auf das Sofa. »Ich … ich weiß, dass du mir nicht glauben wirst, wenn ich dir sage, dass ich dich sehr gern habe. Einer Frau wie mir traust du vermutlich keine echten Gefühle zu …«

Thomas’ Herz schlug auf einmal schneller. Er griff nach Madelines Hand. »Auch du hast ein Recht auf Gefühle. Jeder Mensch hat es.«

»Nimm mich mit nach London, Thomas.«

Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Madeline in seinem kleinen unscheinbaren Haus, die schillernde, wunderschöne Madeline in seiner Welt – dieser Gedanke war genauso verführerisch wie lächerlich.

Ihre Stimme war eindringlich, als sie sagte: »Ich habe das alles hier so satt. Alles ist falsch, alles ist verlogen.«

»Wie meinst du das?«

Sie machte eine abfällige Handbewegung. »John. Er hat viele Gesichter. In der Gesellschaft, bei mir in meinem Bett, bei seinen Freunden. Ich weiß nicht, wie er Mary behandelt, und ich weiß nicht, wie viele andere Frauen er noch hat. Im Grunde ist John nicht viel besser als Gerald. Er genießt es, wenn er mich brutal behandeln kann. Ich will das nicht mehr. Ich möchte seine Besuche nicht mehr ertragen. Ich möchte nicht mehr als seine Dirne leben und für ihn die Röcke heben, egal wann er kommt.« Sie errötete. »Alle Männer, die ich kenne, sind so. Alle, nur du nicht. Du bist anders, du siehst mich als ebenbürtig an.«

»Und du glaubst, ich kann dich glücklich machen?« Thomas streichelte Madelines Hand.

»Du weißt, dass ich dir nicht viel bieten könnte. Mein ganzes Haus ist so groß wie dein Salon. Ich kann dir keine teuren Seidenstoffe und Spitzen kaufen. Ich kann dir nur meine Liebe schenken, meine Treue. Und ich weiß nicht, ob dir das reichen wird.«

Ihre Augen leuchteten. Tränen schimmerten darin. »Das ist genug, Thomas. Mehr als genug. Es ist alles, was ich mir wünsche.«

Thomas sah in ihr wunderschönes Gesicht. Die Versuchung war groß. Er atmete tief durch. »Unter anderen Umständen würde ich nicht zögern …«

Enttäuschung zeichnete sich auf ihren Zügen ab. »Du willst keine Mörderin lieben?«

»Du bist keine Mörderin. Nicht für mich. Aber ich bin mir nicht sicher, was deine Gründe dafür sind, mit mir zu gehen. Geht es dir wirklich um mich? Bin ich tatsächlich der richtige Mann für dich, oder bin ich nur derjenige, der dich vor John retten kann? Hegst du so starke Gefühle für mich, dass wir ein gemeinsames Leben darauf aufbauen könnten? Madeline, ich bin in einer gehobenen Stellung bei der Metropolitan Police, und anders als hier wird in London auf den untadeligen Ruf der Polizei geachtet. Ich kann nicht einfach eine Frau mitbringen, die mich ein paar Monate später wegen eines anderen Mannes verlässt.«

Sie sank zurück auf das Sofa und schloss die Augen. »Ich verstehe.«

»Nein, das glaube ich nicht. Madeline, wenn es nur um mich ginge, würde ich dich jetzt, in diesem Moment, um

»Glücklicher, als ich es mir je vorstellen könnte. Das weiß ich.« Dann fügte sie leise hinzu: »Und glücklicher als hier, als Geliebte des Earl of Wooverlough.«

Er seufzte. »Und genau das meine ich. Du hast nicht viele Optionen. Ich bin das kleinere Übel für dich.«

»Nein.« Jetzt liefen Tränen über Madelines Wangen, die er zu gern fortgeküsst hätte. Aber sie fuhr fort: »Ich denke an dich, jeden Tag, seit ich dich kennengelernt habe. Ich bewundere deine Stärke, deinen Verstand, deinen Mut und deine Unbestechlichkeit. Du bist all das, was ich bei einem Mann bisher nicht kannte.«

Er lächelte. »Nicht bei einem Mann, das mag sein, aber du kennst es von dir selbst. Du bist genauso, Madeline.«

»Und aus diesem Grund passen wir so gut zueinander, Thomas. Ich möchte mein Leben an deiner Seite verbringen, und wenn du mir heute deine Hand reichst, werde ich sie ergreifen, und ich verspreche dir, dass ich sie nie wieder loslassen werde.«

Madeline klang so leidenschaftlich, dass er nicht anders konnte, als ihren Worten zu glauben. Trotzdem sagte er: »Ich muss darüber nachdenken, Madeline. Denn auch ich bin nicht unempfänglich für deine Schönheit und deine Sinnlichkeit. Doch ich sehe mehr in dir als das. Ich will dir helfen, das steht außer Frage. Aber ich will dich nicht zu einem Leben an meiner Seite zwingen, wenn ich nicht sicher bin, dass es tatsächlich das ist, was dir guttut. »

»Was meinst du denn, wen ich an meiner Seite bräuchte?«, fragte sie ihn herausfordernd.

»Thomas, willst du etwa behaupten, dass arme Menschen nicht glücklich sein können? Dass sie kein erfülltes Leben führen können?« Sie hob den Zeigefinger. »Das ist Unsinn und das weißt du auch. Wir passen sehr gut zusammen. Aus diesem Grund fühlen wir uns zueinander hingezogen. Es ist mehr als die Unzufriedenheit mit meiner Situation.«

Er musste lächeln. »Du kannst sehr überzeugend sein. Ich werde darüber nachdenken.«

Plötzlich war ein Geräusch von draußen zu hören. Madeline zuckte zusammen und eilte ans Fenster. »Er kommt. John. Es ist seine Equipage.«

Thomas stand auf, um ebenfalls aus dem Fenster zu schauen, ob er in der Dunkelheit etwas erkennen konnte. Doch in diesem Moment wurde die Tür auch schon geöffnet und der Earl of Wooverlough trat ein. Als er Thomas sah, bildete sich eine steile Falte zwischen seinen Augen. »Was haben Sie hier zu suchen, Young? Um diese Tageszeit?«

»Guten Abend, Eure Lordschaft.« Thomas verneigte sich. »Ich habe Miss Brown mitgeteilt, dass ich keine weiteren Fragen mehr habe. Der Fall ist gelöst.«

Thomas beschloss, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. Er breitete entschuldigend die Arme aus und erklärte: »Senior Police Officer Whittey wird Sie gleich beim Abendessen darüber informieren, wie er mir heute Nachmittag mitteilte. Ich war bei ihm und habe ihn über meine abschließenden Erkenntnisse im Mordfall Ihres Bruders unterrichtet.«

»Und die wären?«, fragte der Earl.

Thomas holte tief Luft. »Wir müssen von einem Täter ausgehen, der vermutlich auf Geld aus war. Er hat die Börse des Pfarrers an sich genommen, ehe er jäh gestört wurde. Deshalb verblieb die Taschenuhr beim Opfer. Der Täter konnte die Leiche nur noch ins Wasser stoßen, ohne sein Vorhaben zu Ende zu bringen.« Mit jedem Mal schien die Lüge leichter über seine Lippen zu kommen.

Der Earl dachte nach. Sein Blick wanderte zu Madeline, dann wieder zurück zu dem Inspector. »Was geht hier vor?«

»Was meinen Sie?«, fragte Thomas überrascht.

Der Earl ging einen Schritt auf ihn zu. »Sie und Madeline. Sie können mich nicht hinters Licht führen, Young. Ich mag vielleicht gutmütig und Madeline gegenüber auch großzügig sein, aber ich bin bestimmt nicht dumm.«

Thomas errötete. »Sie unterstellen uns ein Verhältnis?«

»Ich unterstelle Ihnen gar nichts. Ich ziehe Schlüsse. Und wenn ich am Abend hierherkomme und einen fremden Mann vertraulich mit meiner Frau im Salon sitzen sehe, dann zähle ich eben eins und eins zusammen.«

Madeline richtete sich auf. »Ich werde mit ihm gehen, John. Ich werde Liverpool verlassen und dich auch.«

Thomas schwirrte der Kopf. Er hatte Madeline gebeten, ihm Zeit zu geben, um seine Entscheidung treffen zu können. Doch Madeline hatte sie in diesem Moment für ihn gefällt. Aber zuerst mussten sie den Earl von der Theorie des Raubüberfalls überzeugen.

»Du kannst mich nicht zwingen, hierzubleiben, John. Ich bin nicht deine Frau«, rief Madeline erzürnt und funkelte ihn an.

»Das bist du nicht auf dem Papier, aber du bist durch mein Kind an mich gebunden. Ich werde nicht zulassen, dass du es mitnimmst.« Der Earl griff nach ihrem Arm und drehte sie zu sich. »Du ziehst zu mir nach Wooverlough Court. Ich will dich in meiner Nähe haben.«

»Nein!«, schrie Madeline.

John holte aus, und ohne dass Thomas es verhindern konnte, schlug er Madeline mit einer solchen Wucht ins Gesicht, dass sie zurücktaumelte. Erschrocken fasste sie sich an ihre Wange, an der er sie getroffen hatte.

»Eure Lordschaft!«, rief Thomas und stürzte sich auf ihn. »Sie ist eine Frau!«

»Wie Ihnen ja offenbar nicht entgangen ist.« Der Earl riss sich los und blitzte den Inspector an. »Und das ist auch der Grund, warum Sie die Wahrheit in diesem Mordfall vertuschen, oder?«

Thomas schluckte. »Was meinen Sie?«

John stieß einen abfälligen Laut aus. »Madeline macht Gerald öffentlich für die Morde an den Frauen verantwortlich, aber niemand fällt auf ihre Lüge herein – und dann ist Gerald plötzlich tot.« Er lachte zynisch. »Man

»Was soll das heißen?«, fragte Thomas. »Wollen Sie die Ergebnisse meiner Ermittlungen etwa in Zweifel ziehen?«

»Oh ja«, sagte der Earl. Er ging zu dem Sessel, setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Mehr als das sogar. Ich behaupte, dass Madeline in Wirklichkeit Gerald getötet hat. Und sollte sie jemals auf die Idee kommen, mich zu verlassen, werde ich mich an meinen guten Freund Sir Robert Peel wenden, der, wie Sie wissen dürften, viel Einfluss auf Ihre Vorgesetzten hat. Dann endet nicht nur Ihre Karriere, Young, sondern auch Madelines Leben, und zwar am Strang.«

»Das würdest du nicht tun«, rief Madeline, deren Wange inzwischen angeschwollen war.

»Ich würde es nicht darauf ankommen lassen«, antwortete der Earl. »Ich wusste es von Anfang an, dass du meinen Bruder getötet hast. Aber es war mir ganz recht, dass Whittey von einem Raubüberfall ausging. Schließlich hatte ich noch meine Pläne mit dir. Und jetzt läuft ja auch alles bestens. Mein Erbe ist unterwegs.«

»Dein Erbe?« Sie sah ihn verständnislos an.

Der Adelige wandte sich an Thomas. »Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte, Young. Ich habe mit Madeline heute noch amüsante Pläne.« Der Earl stand auf und deutete zur Tür.

Madeline zuckte zusammen. Ihr Blick wanderte zu Thomas. Er erkannte Angst und Verzweiflung darin.

»Eine Frage noch, Eure Lordschaft …« Der Inspector musste nun Zeit schinden, es musste ihm etwas einfallen, damit Madeline nicht mit dem Earl allein zurückblieb.

Der Earl fuhr herum. »Nun, ich ging davon aus, dass Sie die gleichen Schlüsse ziehen würden wie der Senior Police Officer. Und das haben Sie ja auch getan. Zumindest offiziell.«

»Und Sie halten es für richtig, sich an die Frau zu binden, die Ihrer Meinung nach Ihren Bruder getötet hat?«, fragte Thomas. Er musste Madeline aus den Fängen des Earls befreien. Er verstand immer mehr, warum sie nicht hier in Liverpool bleiben konnte. Der Adelige würde sie niemals in Ruhe lassen.

»Warum nicht? Mein Bruder hat mir nie viel bedeutet, und er war geistesgestört, das war mir schon lange bewusst«, erklärte der Earl. »Natürlich weiß ich, dass er all diese Frauen umgebracht hat. Als Madeline mir gegenüber ihren Verdacht zum ersten Mal äußerte, habe ich ein wenig nachgeforscht und bin schnell zu demselben Ergebnis gekommen.«

»Und du hast nichts unternommen?« Madeline starrte ihn fassungslos an.

Thomas warf ihr einen beschwichtigenden Blick zu. Dann sagte er: »Ich wundere mich ebenfalls. Wie konnten Sie es einfach hinnehmen, dass Ihr Bruder weitere Frauen ermordete?«

Der Earl lachte auf. »Das waren Dirnen, na und? Meinetwegen hätte er ein Dutzend von ihnen am Tag erledigen können. Es wären immer wieder welche nachgekommen. Was hatten diese Frauen denn für ein Leben? Was hat er ihnen schon genommen?«

Auch Thomas war erschrocken über so viel Gefühlskälte und Grausamkeit. »Etwas so Menschenverachtendes habe ich selten gehört.« Er wandte sich zu Madeline. »Komm, es lohnt sich nicht, mit Seiner Lordschaft darüber zu diskutieren. Wir sollten aufbrechen.«

Madeline wischte sich die Tränen der Wut von den Wangen. »Ja, ich werde keine weitere Nacht mehr in deinem Haus verbringen, John!«, rief sie mit vor Entsetzen rauer Stimme und griff nach Thomas’ Hand.

»Das solltest du nicht tun, Madeline«, erwiderte der Earl.

»Warum? Was willst du dagegen unternehmen?«, fragte Madeline. »Willst du mich Whittey übergeben?«

»Nicht, wenn ich es irgendwie verhindern kann. Du bist immerhin die Mutter meines Kindes.« John ging einen Schritt auf sie zu und streichelte ihr zärtlich über die Wange, die er vor wenigen Minuten noch geschlagen hatte. »Wenn du es nicht unmöglich machst, werde ich dich immer decken.« Dann sagte er zu Thomas: »Und jetzt verschwinden Sie und lassen Sie uns allein.«

Thomas’ Blick wanderte zu Madeline. Seine Brust wurde eng, als er realisierte, dass er sie hier zurücklassen musste. Aber er hatte keine Wahl. Es war das Haus seiner Lordschaft, der Earl hatte jedes Recht, ihm die Tür zu weisen.