Wooverlough Court und Oxford, heute
Zoes Nacken war ganz steif geworden vom angespannten Lesen. Sie saß im Salon und hatte die Tagebücher vor sich auf dem Boden ausgebreitet. Es waren nur noch zwei Bände übrig, die sie bislang nicht kannte. Sie streckte sich und stand auf. Inzwischen war es dunkel geworden und die Comtess erwartete sie in wenigen Minuten zum Abendessen. Die beiden letzten Bücher mussten wohl bis morgen warten. Was für eine Geschichte! Ob es Madeline noch gelungen war, John zu verlassen? Zoe dachte an die Parallelen zwischen Madeline und Charlotte. Madeline war eine Gefangene gewesen und Thomas ihre Rettung. Charlotte hingegen war gelangweilt von ihrem perfekten Leben, sodass Zoe eine willkommene Abwechslung für sie war. Aber auch bei Charlotte war es nicht ganz klar, ob es ihr um Zoe ging oder nur um ein wenig Zerstreuung. Vermutlich war Zoe für sie wirklich nichts weiter als der Ausweg aus ihrer Langeweile, genau wie Thomas für Madeline nur eine Fahrkarte nach London gewesen war, damit sie einem Leben mit dem Earl entkam.
Das Vibrieren ihres Handys riss Zoe aus ihren Gedanken. Sie zog es aus der Tasche und erstarrte. Es war Charlotte! Wochenlang hatte sie sich nicht gemeldet, und genau in diesem Moment, in dem sie gerade so intensiv über sie beide nachdachte, rief sie an.
Mit zitternden Fingern nahm Zoe den Anruf an. »Ja? Charlotte?«
»Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gerührt habe«, sagte die Professorin statt einer Begrüßung. »Aber ich brauchte die Zeit.«
»Ich weiß«, antwortete Zoe und blickte zu den Tagebüchern, die sie gerade gelesen hatte.
»Ich möchte dich gern sehen, wenn das für dich in Ordnung ist«, sagte Charlotte vorsichtig. »Ich muss einiges mit dir besprechen.«
Zoe schluckte. Sie hasste es, auf die Folter gespannt zu werden. Charlottes Wunsch, Zoe zu treffen, konnte alles Mögliche heißen. Vielleicht sagte sie ihr, dass sie sie nicht mehr sehen wollte, dass es schön war, aber ihr Platz bei ihrem Mann und ihren Kindern sei. Oder aber …
»Bitte, Zoe …« Charlottes Stimme klang eindringlich. »So schnell wie möglich, ja?«
»Natürlich«, sagte Zoe.
»Heute Abend?«
»Ich bin gerade in Wooverlough Court«, erwiderte Zoe und atmete tief ein. »Ich kann morgen nach Oxford zurückfahren, dann könnten wir uns abends treffen.«
Charlotte seufzte. »Sehr gern. In unserem Pub?«
Zoe spürte, wie die Aufregung in ihr wuchs. »Ja. Bis morgen, Charlotte.«
Zoe starrte noch lange auf ihr Telefon. Die Zeit bis zum nächsten Abend kam ihr unendlich lang vor.
Am folgenden Tag brach Zoe gleich nach dem Frühstück auf, nicht ohne ihrer Mutter zu versprechen, dass sie sie bald wieder besuchen werde. Die Straßen waren voller Verkehr, und statt drei brauchte sie fast vier Stunden, bis sie endlich in Oxford war.
In ihrer Wohnung holte sie vorsichtig die Tagebücher aus ihrer Tasche und legte sie zu den anderen, die sie von ihrem letzten Besuch auf Wooverlough Court mitgebracht hatte. Sie war zu aufgeregt, um die restlichen Seiten jetzt lesen zu können. Solange sie mit ihren eigenen Problemen beschäftigt war, konnte sie sich nicht auf Madelines Geschichte einlassen.
Als es endlich Zeit war, zu dem Pub aufzubrechen, hatte sie so oft über Charlottes Worte nachgedacht, dass sie sich über sich selbst ärgerte. Ja, sie war verliebt, und ja, die Nacht mit Charlotte war großartig gewesen. Aber es gab noch mehr Frauen auf der Welt. Sie sollte lockerer an die Sache herangehen. Doch Zoe war schrecklich angespannt. Sie hatte sich dreimal umgezogen, als hätte ihre Kleidung irgendeinen Einfluss auf Charlottes Entscheidung, die sowieso längst schon getroffen war.
Als Zoe in dem Pub ankam, saß ihre Professorin bereits an ihrem angestammten Tisch und hatte zwei Gläser Weißwein bestellt.
Zoe lächelte nervös und rutschte neben sie auf die Bank.
»Wie geht’s dir?«, wollte Charlotte wissen. »Bist du auf Wooverlough Court ein Stück weitergekommen?«
»Oh ja«, Zoe trank einen Schluck Wein, »ich habe die restlichen Tagebücher gefunden.«
»Wirklich?« Charlotte hob die Augenbrauen und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Das ist ja fantastisch. Ich habe tatsächlich kaum noch daran geglaubt, dass sie irgendwo auftauchen würden. Erzähle mir alles darüber. Wo waren sie denn und was steht drin?«
Zoe zögerte. »Entschuldige, Charlotte, aber würde es dir etwas ausmachen, wenn wir heute nicht über meine Promotion sprechen?«
»Natürlich nicht.« Charlotte lächelte und sofort breitete sich Wärme in Zoes Körper aus. Hinter ihr stritten sich gerade ein paar Jugendliche, aber sie bekam es kaum mit. Sie hing an den Lippen ihrer Professorin, als diese fortfuhr: »Du hast recht, Zoe. Du hast mich nicht gedrängt und dafür danke ich dir.«
Zoe atmete tief ein. »Kein Problem. Auch wenn ich lügen müsste, wenn ich behaupten wollte, dass es nicht die reinste Folter für mich war.«
Charlotte nippte an ihrem Glas. »Ich habe ebenfalls schlimme Wochen hinter mir, und es hat eine Weile gedauert, bis ich mir über uns klar werden konnte. Außerdem musste ich einiges mit meiner Familie besprechen.«
»So?«, fragte Zoe vorsichtig. Das konnte vieles bedeuten.
»Ich habe lange versucht, das Problem allein zu lösen. Erst als ich offen mit meinem Mann und unseren Kindern darüber sprach, ging es mir besser.« Sie machte eine Pause und beobachtete den Kellner, der mit einem vollbeladenen Tablett an ihnen vorbeieilte. Dann fuhr sie fort: »Ich dachte immer, unsere Ehe sei gut, aber das stimmt nicht. Ich habe es nur nie bemerkt. Schon lange habe ich nicht mehr so viel für Paul empfunden wie früher, aber das ist mir erst bewusst geworden, als ich mich neu verliebt habe.« Sie machte eine Pause, bevor sie weitersprach. »Ich habe mit ihm darüber gesprochen und ihm auch ganz offen gesagt, dass ich ihn betrogen habe.«
»Und?«, fragte Zoe und hörte die Unsicherheit in ihrer eigenen Stimme.
»Er war nicht gerade begeistert, aber er hat es verstanden.«
»Er hat dir also verziehen?«, fragte Zoe, der plötzlich übel geworden war. Das bedeutete wohl, dass Charlotte bei ihrer Familie bleiben würde.
»Ja, das hat er.« Charlotte umklammerte ihr Weinglas.
Zoe zupfte nervös an einem harten Wachstropfen, den die Kerze auf dem Tisch hinterlassen hatte. »Verstehe.«
»Nein«, erwiderte die Professorin. Sie streckte ihre Finger aus und strich sanft über Zoes Unterarm. »Wir haben uns nicht getrennt, aber wir werden nicht so weitermachen wie bisher.«
Zoe hörte das Stimmengewirr der Menschen um sich herum, ihr stieg der Duft von Essen in die Nase. Doch all das war nicht wichtig. Nur Charlotte zählte.
Charlottes Lippen schimmerten in dem schummrigen Licht des Pubs.
»Ich bin noch nicht so weit, dass ich Paul hinter mir lassen könnte«, sagte sie. »Wir haben uns alles offengehalten. Aber ich bin erst mal ausgezogen, bis wir die Sache geklärt haben.«
Zoe sog zitternd die Luft ein. Dieses Gespräch war anstrengend und verwirrend. »Und was bedeutet das jetzt für uns?«
»Das weiß ich nicht«, gestand Charlotte. »Ich habe mir ein kleines Haus gesucht und ein paar Sachen eingepackt, und ich lebe jetzt mein eigenes Leben. Die Kinder haben natürlich auch ein Zimmer bei mir und besuchen mich, so oft sie können.«
»Wie … wie haben sie es aufgenommen?«, stotterte Zoe. Plötzlich war Hoffnung in ihr aufgestiegen, und gleichzeitig schämte sie sich dafür, da diese Hoffnung Leid für andere Menschen bedeutete.
Charlotte verzog leicht den Mund. »Nicht besonders gut, fürchte ich, und ich komme mir schlecht vor, dass ich diesen Schritt unternommen habe. Aber letztendlich ist es mein Leben und es gibt wohl nie den perfekten Zeitpunkt.«
Zoe betrachtete nachdenklich die tropfende Kerze auf dem Tisch. Dann sah sie auf. Auch sie musste ehrlich mit Charlotte sein. »Das tut mir leid. Jetzt komme ich mir schäbig vor, weil ich der Auslöser dafür war. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Es war falsch, dass ich deine Ehe nicht akzeptiert habe, obwohl ich Paul sogar kannte.«
»Bitte nicht«, Charlotte lächelte Zoe liebevoll an, »es hatte ja nicht direkt mit dir zu tun. Wenn das mit uns nicht passiert wäre, dann wäre irgendetwas anderes gekommen, das mir meine Unzufriedenheit vor Augen geführt hätte. Eine andere Frau vielleicht.«
»Meinst du?« Zoe überlegte, ob sich Charlotte inzwischen über ihre lesbische Neigung klargeworden war. »Ich mache mir trotzdem Vorwürfe.«
Ihre Professorin schüttelte den Kopf. »Das brauchst du nicht. Ich bin überzeugt davon, dass jeder Mensch ein Recht darauf hat, glücklich zu sein. Und der Tag wird kommen, an dem auch meine Kinder anderen Menschen das Herz brechen werden, ohne es zu wollen.«
»Und du wirst weiterhin für sie da sein. Sie müssen sich nur daran gewöhnen, dass sich euer Leben gerade ändert«, ergänzte Zoe.
»Ja, vielleicht. Aber noch ist alles möglich. Es kann sein, dass ich zu Paul zurückgehe.«
Zoe schluckte. Dieses Gespräch war wie eine Achterbahn der Gefühle, genau wie ihre ganze kurze Beziehung, oder was immer sie beide verband. Sie lehnte sich auf der harten Bank des Pubs zurück. Eine Gruppe Studenten grüßte Charlotte im Vorbeigehen und Zoe wurde einmal mehr bewusst, wie viel Mut es ihre Professorin kosten musste, ihr Leben zu ändern und Menschen zu enttäuschen, die Erwartungen in sie gesetzt hatten. Als Zoe sich zu ihrer Homosexualität bekannt hatte, war sie noch sehr jung gewesen und ihr Weg hatte wie die unbeschriebene Seite eines Buches vor ihr gelegen. Aber Charlotte hatte bereits Versprechungen gemacht, es gab Menschen, die sich auf sie verließen.
Die Professorin wickelte den Schal ab, den sie um den Hals trug, und streichelte dann Zoes Hand. »Es ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht und mich nach dir gesehnt habe.«
In Zoes Bauch kribbelte es. »Ich denke auch ständig an dich.«
Charlotte rutschte ein bisschen näher an Zoe heran. »Paul und ich haben uns darauf geeinigt, dass wir jetzt erst einmal Abstand halten.«
Einen Moment lang schwiegen sie beide.
»Erzähl mir, was du herausgefunden hast«, wechselte Charlotte schließlich das Thema.
Es fiel Zoe schwer, sich in diesem Augenblick auf die Geschichte ihrer Vorfahren zu konzentrieren, wo sie doch zu gerne gewusst hätte, ob sie und Charlotte eine gemeinsame Zukunft hatten. Langsam und stockend begann sie zu erzählen, wie sie die restlichen Tagebücher im Tresor gefunden und was sie bisher darin gelesen hatte.
»Dann musste Thomas Madeline also bei John zurücklassen?«, fragte Charlotte und drehte ihr Weinglas nachdenklich zwischen den Fingern.
»Ja, aber Madeline muss irgendwie zu Thomas gelangt sein. Erinnere dich an den Brief, den wir bei den ersten Tagebüchern gefunden haben. Darin schreibt Thomas, dass Madeline bei ihm in London sei. Das war im Jahr 1845.«
»Wir müssen unbedingt die restlichen Tagebücher lesen.« Charlottes Augen blitzten.
»Die liegen bei mir zu Hause«, sagte Zoe zögernd. »Wenn du willst, können wir gleich dort hinfahren.«
Charlotte lächelte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Wir wissen beide, wo das hinführen würde. Und auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünsche, würde mich das zu diesem Zeitpunkt nur verwirren. Ich brauche Abstand, Zoe. Ich muss mir erst über mich und mein Leben klar werden. Ich möchte wissen, wer ich wirklich bin, und nicht, was andere in mir sehen.«
»Ich verstehe«, sagte Zoe. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Aber was erwartest du von mir?«
Charlotte warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Wie stellst du dir das alles vor? Soll ich dich in Ruhe lassen? Oder um dich kämpfen?« Zoe verstand, dass Charlotte jetzt nichts entscheiden konnte. Aber sie brauchte zumindest einen Hinweis, wie es weitergehen sollte. Sie griff nach ihrem Glas. Die saure Flüssigkeit brannte in ihrer Kehle, als sie leise fortfuhr: »Ich war noch nie in einer solchen Situation. Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern kann und wie ich mich verhalten soll …«
»Ich habe ebenso wenig Erfahrung darin«, sagte Charlotte und lächelte sie traurig an. »Und ich wünschte, ich hätte uns beide nicht in diese schwierige Lage gebracht. Natürlich kann ich nicht von dir verlangen, dass du auf mich wartest, zumal ich dir nicht sagen kann, ob es sich überhaupt lohnen wird. Du bist jung, du bist wunderschön und erfolgreich. Wer bin ich, dich an mich zu binden, mit dem vagen Versprechen, dass ich dir eines Tages vielleicht doch mehr geben kann?«
»Es würde mir nichts ausmachen, ich bin geduldig«, erwiderte Zoe leise. Plötzlich war es unvorstellbar, Charlotte gehen zu lassen.
Charlotte nahm eine ihrer Haarsträhnen und wickelte sie sich um den Finger. »Am Ende wäre das alles umsonst gewesen. Nein, Zoe, bitte vergiss mich.«
Zoe wurde kalt. Übelkeit breitete sich in ihr aus. Die Stimmen um sie herum waren weit fort. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Ihre Stimme war nur ein raues Flüstern, als sie fragte: »Aber wie denn? Wir arbeiten zusammen, und ich will bei niemand anderem promovieren, falls du mir das jetzt vorschlagen möchtest.«
»Ja, das hätte ich wohl getan«, sagte Charlotte. »Lass uns darüber nicht heute entscheiden, es wird sich alles regeln. Mehr können wir im Moment nicht tun.«
Zoe stützte ihren Kopf in die Hände. Charlotte hatte recht. »Möchtest du trotzdem die Tagebücher mit mir zusammen lesen? Es ist immerhin unsere gemeinsame Geschichte.«
»Ja.« Charlotte lächelte Zoe an. »Vielleicht morgen? In meinem Büro?«
Am nächsten Vormittag war Zoe pünktlich um elf bei Charlotte im Büro. Jeder Blick, den sie miteinander tauschten, war aufgeladen mit Zärtlichkeit, und jedes Mal wenn sie sich nahekamen, musste Zoe sich zusammenreißen, um ihre Professorin nicht an sich zu ziehen und leidenschaftlich zu küssen. Und sie hatte den Eindruck, dass es Charlotte ähnlich erging. Aber sie musste respektieren, worum ihre Professorin sie gebeten hatte. Also nahm sie in dem abgewetzten Ledersessel Platz, in dem sie auch bei ihrem ersten Besuch hier gesessen hatte, und schlug das vorletzte Tagebuch von Madeline Brown auf. Sie begann vorzulesen.