Wooverlough Court, November 1839
Madeline stand am Fenster und sah in das graue Regenwetter hinaus. John hatte sie gestern Abend nach Wooverlough Court und in den Turm gebracht, der neben seinem Schlafzimmer lag. Madeline kannte das Zimmer noch aus ihrer Jugend, als sie und John es beim Spielen zufällig entdeckt hatten. Damals hatte sie sich nicht vorstellen können, dass es einmal ihr Gefängnis werden würde. John hatte die Tür zu seinem Schlafzimmer zugesperrt.
Madeline stützte sich auf die Fensterbank des Türmchens. Von hier aus hatte sie über das Dach des Anwesens einen guten Blick hinunter in die Gärten. Neben dem schmalen Bett gab es einen zweiten Zugang zum Turmzimmer. Dahinter lag ein dunkler Flur, an dessen Ende man über eine Wendeltreppe in eine verborgene Bibliothek gelangte.
Madelines Gedanken wanderten wieder zu dem gestrigen Abend. Nachdem Thomas gegangen war, hatte John sie gezwungen, ihre Habseligkeiten einzupacken, und sie dann zu seiner Kutsche gebracht. John hatte kein einziges Wort mit ihr gesprochen, während sie durch die Nacht zum Herrenhaus gefahren waren. Hier hatte er seinem Diener aufgetragen, das Turmzimmer herzurichten, und sie wenig später darin eingeschlossen. In der Nacht war er gekommen und hatte sich zu ihr gelegt, um sie danach wieder allein zu lassen. Heute Morgen hatte ein Hausmädchen ihr Frühstück und warmes Wasser zum Waschen gebracht. Als sie ging, hatte sie die Tür wieder verschlossen.
Jetzt starrte Madeline in den Regen hinaus, unschlüssig, was sie tun sollte. Natürlich könnte sie durch die Bibliothek in den großen Saal gehen und von dort ins Herrenhaus. Aber John erwartete offenbar von ihr, dass sie den Turm nicht verließ. Und ihr Gesicht brannte noch immer höllisch an der Stelle, wo sie gestern sein Schlag getroffen hatte. Madeline war nicht erpicht darauf, Johns Zorn erneut auf sich zu ziehen. Dennoch wandte sie sich vom Fenster ab und öffnete die Tür, die in den dunklen Gang hinausführte. Vielleicht fand sie in der geheimen Bibliothek ja ein Buch, das sie von ihrem traurigen Schicksal ablenken konnte. Da sie vom Turm aus die Uhr nicht sehen konnte, die über dem Tor von Wooverlough Court angebracht war, hatte sie nur eine vage Vorstellung davon, wie spät es war. Es musste früher Mittag sein, da es draußen schon eine ganze Weile hell war.
Sie tastete sich vorsichtig durch den dunklen Flur, bis sie die Tür zur Bibliothek erreicht hatte. Sie stieg die steile metallene Wendeltreppe hinab. Bei jedem Schritt schwangen die Stufen unter ihr. Sie hatten diese Bibliothek entdeckt, als sie als Kinder in den langen Fluren des Anwesens gespielt hatten.
Nun betrachtete Madeline die Bücher in den Regalen etwas genauer. Schnell stellte sie fest, dass keine Romane oder Enzyklopädien hier zu finden waren, sondern ausschließlich Tagebücher und Reisebeschreibungen früherer Bewohner von Wooverlough Court. Enttäuscht setzte sie sich auf die unterste Stufe der Treppe. Wie schade, dass es kein Buch hier gab, mit dem sie sich ein wenig die Zeit hätte vertreiben können, aber die Tagebücher erschienen ihr zu langweilig. Da fiel ihr Blick plötzlich auf ein paar unbenutzte Hefte, die im untersten Regal gestapelt lagen. Ihr Einband hob sich deutlich von dem der anderen ab. Auf dem Schreibtisch in der Mitte des Zimmers lagen Federn und einige Tintenfässer.
Kurzentschlossen nahm Madeline eines der leeren Bücher, eine Feder und Tinte mit in ihr helles Turmzimmer und setzte sich an den Tisch unter dem Fenster. Solange sie darauf warten musste, dass John sie wieder nach Hause ließ, konnte sie die ganze Geschichte aufschreiben. Natürlich durfte niemand das Buch zu Gesicht bekommen, aber es würde ihr guttun, auf diese Weise alles loszuwerden.
Als eine Stunde später das Hausmädchen das Mittagessen brachte, schob Madeline das Tagebuch unter ihr Kopfkissen. Sie aß die Suppe und trank den Tee, den das Mädchen ihr dagelassen hatte. Dann schrieb sie weiter. So verging ein ganzer Tag. Als es zu dunkel zum Schreiben wurde, legte sie das Buch unter ihr Bett, wo John und das Personal es nicht entdecken würden. Heute war der Earl noch nicht bei ihr gewesen. Wusste Mary davon, dass seine Geliebte hier war? Und wie lange würde Thomas noch in Liverpool bleiben? Wie lange würde er auf sie warten, ehe er nach London zurückkehrte?
Madeline stand auf. Sie musste dringend nach Hause und versuchen, Thomas zu finden. Sie sah sich nach ihrem Mantel um, der aber nicht hier im Turm zu sein schien. Das Hausmädchen hatte ihn offenbar mitgenommen. Und auch eine Klingelschnur gab es nicht. Schließlich machte sie sich auf den Weg durch die Bibliothek nach unten. Sie begegnete niemandem, während sie durch die langen Flure des alten Anwesens eilte. Die Dielen knarrten unter ihren Füßen, das Echo ihrer Absätze hallte von den Wänden wider. Der Geruch des Hauses war ihr vertraut. In der Eingangshalle angekommen, sah sie sich nach einem Dienstboten um. Es war jedoch niemand zu sehen. Also zog sie an der Klingelschnur neben dem Kamin, und einen Augenblick später erschien ein Hausmädchen, das Madeline nicht kannte. Sie bat das Mädchen, ihr den Mantel zu bringen. Um eine Kutsche zu bitten, wagte sie nicht. Aber sie wollte so schnell wie möglich von John fortkommen.
»Madeline!«
Sie fuhr herum. Der Earl war in die Halle getreten.
»Was hast du hier unten zu suchen?« Er sah sie an und auf seinem Gesicht zeigte sich Ärger.
Madeline streckte ihr Kinn vor. »Warum sollte ich nicht hier sein? Ich kann tun und lassen, was ich will.«
Johns Augen blitzten vor Zorn. Er sah sich um, ob ein Dienstbote in der Nähe war. Aber niemand außer ihnen war in der Eingangshalle. »Du bleibst oben im Turm, bis ich dir etwas anderes sage.«
Sie stutzte. »Sperrst du mich etwa ein?«
»Nenn es, wie du willst.« Er ging einen Schritt auf sie zu und fuhr mit leiser Stimme fort: »Du trägst mein Kind in dir und ich werde gut auf den Kleinen achtgeben. Außerdem wissen wir beide, was du getan hast. Ich werde dich nicht frei herumlaufen lassen, damit du weiteren Schaden anrichtest.«
Madeline wich zurück. »Ich soll Schaden anrichten? Und was war mit Gerald? Du hast ganz genau gewusst, was er getan hat, und hast die Augen davor verschlossen.«
»Madeline«, er fasste ihren Oberarm und hielt ihn so fest, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht laut aufzuschreien. »Gerald hat nichts Schlechtes getan. Und du hörst sofort auf, weitere Lügen über ihn zu verbreiten. Gerade deshalb muss ich dafür sorgen, dass du hier bei mir bleibst.«
»Ich werde mich nicht wie eine Gefangene behandeln lassen«, rief Madeline zornig und funkelte ihn an.
»Das ist nicht deine Entscheidung.« John führte sie zur Treppe und zog sie unsanft die Stufen hinauf. »Du hast dir das Recht auf eine bessere Behandlung verwirkt, als du das Leben meines Bruders ausgelöscht hast.«
Ohne auf Madelines Protest einzugehen, brachte er sie in das Türmchen zurück.
»Und wage es ja nicht, noch einmal durch die Bibliothek zu fliehen. Ich werde heute Nacht einen Posten dort aufstellen, der mich wecken wird, sobald du versuchst, das Haus auf diesem Wege zu verlassen. Und morgen werde ich einige Handwerker beauftragen, die Treppe zur Bibliothek abzureißen. In dem verborgenen Turmzimmer kannst du keinen Schaden anrichten. Niemand wird dich dort hören, falls du auf die Idee kommen solltest zu schreien.«
»Das kannst du nicht machen!« Madeline hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
»Ich diskutiere nicht mit dir.«
Er stieß sie zurück, sodass sie in die Mitte des Zimmers stolperte, und zog die Tür zu seinem Schlafgemach hinter sich zu. Madeline hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde.
So schnell sie konnte, rannte sie in die Bibliothek und schlüpfte in den Flur, der zur Haupttreppe führte. Sie wollte gerade hinuntergehen, als sie Schritte hörte. Vorsichtig spähte sie über das Geländer. Tatsächlich kam einer der Diener die Treppe herauf. Er schien es eilig zu haben. Bestimmt hatte John ihm befohlen, so schnell wie möglich seinen Wachposten einzunehmen. Hoffentlich sah er nicht nach, ob Madeline noch im Turmzimmer war! Sie schlich sich um die Ecke und wartete, bis der Diener in den Flur abgebogen war. Dann huschte sie so leise wie möglich die Treppe hinunter und durch die Eingangshalle und schlüpfte hinaus in die Kälte. Sie hatte keinen Mantel an, und es war ungemütlich, eiskalt und nass, aber ihre Entschlossenheit trieb sie voran. Sie würde nicht die Auffahrt hinunterlaufen, wo John sie mit der Kutsche oder einem Pferd schnell finden konnte, sondern den Weg durch die Gärten nehmen. Dort konnte sie sich besser verstecken, wenn ihm auffiel, dass sie verschwunden war. Aber das würde hoffentlich noch eine Weile dauern, sodass sie genügend Vorsprung bekam.
Mit großen Schritten hastete sie durch den Park bis zur Landstraße. Der Saum ihres Kleides war voller Dreck, ihre Schuhe waren schmutzig und durchnässt. Auf der Straße wirkte alles ruhig. Sie schlich sich den schmalen Gehweg entlang. Als sie ein Pferd hörte, sprang sie in einen Garten, an dem sie gerade vorüberkam, und kauerte sich hinter einen Busch. Erst als der Reiter vorbei war, lief sie zitternd vor Kälte und Aufregung weiter. Sie wusste, dass sie nicht nach Hause gehen konnte, denn John würde sicher dort hinkommen, sobald er ihre Flucht bemerkt hatte. Nein, sie musste Thomas finden, den einzigen Menschen, der ihr jetzt noch helfen konnte.
Auf dem Weg nach Liverpool musste Madeline sich noch mehrere Male hinter Mauern und Hausecken verbergen, immer wenn sie eine Kutsche oder ein einzelnes Pferd hörte. Aber dann hatte sie die Stadt endlich erreicht und versuchte, sich an die Adresse zu erinnern, die Thomas ihr genannt hatte. Es war inzwischen elf Uhr nachts, die Kirchturmuhren hatten gerade geschlagen. Madeline kannte sich gut in Liverpool aus und wusste, in welchen Hotels am Hafen Geschäftsleute zu wohnen pflegten, wenn sie sich in der Stadt aufhielten. Sie fing in der Nähe der Harbour Police Station an und arbeitete sich bis zum Hafen vor. Gleich im ersten dieser Gasthäuser fragte sie nach Thomas Young, doch der Portier schüttelte nur den Kopf. Ein Gast namens Young wohne nicht bei ihnen. Schnell lief Madeline zum nächsten Hotel, das am Ende der Straße lag. Auch hier hatte sich Thomas nicht einquartiert. Erst als sie zum fünften Hotel kam, das ganz in der Nähe des Leichenschauhauses lag, hatte sie Glück. Der Nachtportier weigerte sich zwar zunächst in Anbetracht der späten Stunde, aber als Madeline ihm erklärte, dass es sich um einen Notfall handele, ließ der Mann Thomas Bescheid geben. Es war ein kleines Haus, das vermutlich über kaum mehr als zwanzig Zimmer verfügte.
Während Madeline in der Hotelhalle wartete, betrachtete der Portier sie immer wieder misstrauisch. Sie musste einen erbärmlichen Anblick bieten. Schließlich trug sie noch immer die dreckverschmierten Kleider von gestern, in denen sie schon die vergangene Nacht verbracht hatte, und sie hatte weder einen Hut noch einen Mantel.
»Madeline!«, rief Thomas und eilte auf sie zu.
Sie musste sich beherrschen, um sich nicht in seine Arme zu stürzen.
»Wo können wir uns unterhalten?«, fragte sie mit einem Blick in Richtung des Portiers.
Thomas führte sie in einen Nebenraum, anscheinend ein Lesesaal, der jetzt einsam, dunkel und still war. Es roch nach dem alten Leder der Sessel, die um Tischchen verteilt im Raum standen.
»John will mich auf Wooverlough Court gefangen halten«, platzte es aus Madeline heraus, sobald er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
Thomas betrachtete sie einen Moment lang im schwachen Schein der Gaslaterne, die vor dem Fenster leuchtete. »Hat er gesagt, was er vorhat?«
Madeline strich mit beiden Händen über ihren Bauch. »Nein, aber es geht ihm bestimmt um das Baby, und er will verhindern, dass ich etwas über Gerald sagen kann. Du musst mich mit nach London nehmen, bitte, Thomas.«
Der Inspector fasste Madelines Schultern. »Einverstanden, ich lasse ich dich natürlich nicht hier zurück. Aber es ist gefährlich. Er wird nicht so schnell aufgeben.«
In diesem Moment hörten sie vor der Tür laute Männerstimmen. Madeline zuckte zusammen. Es waren offenbar John und Drew. Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet und der Schein der Öllampen, die die Männer in den Händen hielten, erleuchtete das Zimmer.
»Young, Sie werden sich doch nicht strafbar machen wollen, indem Sie eine Frau entführen?«, rief der Earl wütend.
Madeline wurde übel. Ihre Knie gaben nach. Mit letzter Kraft schleppte sie sich zu einem der Ledersessel und ließ sich hineinfallen.
»Natürlich nicht«, erwiderte Thomas und Madelines Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. »Ich wollte Miss Brown nur noch einmal die Gelegenheit geben, eine offizielle Aussage zu machen.«
Der Earl knurrte etwas, das Madeline nicht verstehen konnte. Ihr Blick wanderte zu Thomas. Würde er sie etwa fallen lassen? Dabei hatte er gerade doch noch ganz anders gesprochen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schloss die Augen. Das alles war wie ein entsetzlicher Alptraum.
»Los, Drew, bringen Sie sie in meine Kutsche!«, befahl John und deutete mit seinem Spazierstock in Richtung Straße.
»Bitte, lassen Sie mich mitkommen.« Thomas war plötzlich neben ihr und fasste sanft ihren Arm. »Ich begleite Miss Brown zur Kutsche.«
»Na schön, aber Drew wird Sie beide im Auge behalten.« John schien dem Inspector nicht zu trauen.
Madeline ließ sich von Thomas aus dem Sessel helfen und stützte sich auf seinen Arm. Plötzlich fühlte sie sich unendlich müde und kraftlos.
»Ich lasse mir etwas einfallen«, flüsterte Thomas ihr zu, während sie die Hotelhalle verließen. »Ich werde eine Lösung finden.«
Wenig später hatten sie die Kutsche erreicht und Thomas half ihr die Stufen hinauf. Dann sprang der Earl hinein und ließ sich neben ihr auf die Bank fallen. Madeline sah aus dem Fenster, und Thomas’ besorgter Blick war alles, was sie noch wahrnahm, bevor John den Blickschutz am Fenster herunterzog.
Am nächsten Tag stand Madeline am Fenster und sah in den Nieselregen hinaus, der die Dächer von Wooverlough Court wie ein Schleier einhüllte. Es machte sie verrückt, nicht aus diesem engen Turmzimmer herauszukönnen. John hatte recht, der Ort war so abgeschieden, dass niemand sie hören würde, selbst wenn sie sich die Lunge aus dem Leib schrie. Sie fuhr herum, als sie den Schlüssel in der Tür vernahm. Es war John. Unter dem Arm trug er einen Stapel Papier, eine Feder und Tinte.
»Ich habe eine Aufgabe für dich, die dir die Zeit hier oben ein wenig vertreiben wird.« Er grinste. »Und die dich lehren soll, nie wieder schlecht über ein Mitglied der Familie Wooverlough zu sprechen.«
»Du willst mich also bestrafen?«, erwiderte Madeline spöttisch. »Was hast du mit mir vor?«
»Du wirst einen Nachruf auf meinen Bruder schreiben, über die Heldentaten des Gerald Farwell«, erklärte John. »Ich muss sichergehen, dass kein Makel an dem Namen unserer Familie haften bleibt. Und wer ist besser dafür geeignet als du mit deiner blühenden Fantasie!«
Madeline sah ihn verständnislos an. »Ich soll aufschreiben, was Gerald getan hat?«
»Nein.« John näherte sich ihr, griff nach ihrem Arm und bog ihn so weit zurück, dass Madeline vor Schmerz aufschrie. »Ich werde dir nicht weiter wehtun, mein Liebling, solange du nette Sachen über Gerald schreibst. Ich möchte einen Nachruf auf ihn haben, in dem er beschrieben wird, wie er tatsächlich war: gütig und aufopferungsvoll. Er hat sich großmütig um seine Gemeinde gekümmert.«
»Aber das glaubt mir doch niemand«, protestierte Madeline. »Gerald war nie besonders gütig. Und mir ist nicht aufgefallen, dass er sich jemals um andere Menschen geschert hat. Sein Glaube war alles, was ihn interessiert hat.«
»So? Das ist dir nicht aufgefallen?« Der Earl fasste ihr Handgelenk und drückte so fest zu, dass Madeline aufheulte. Doch John ließ nicht los, sondern packte sie nur noch fester. »Dann denk noch einmal nach, und bemühe dich dieses Mal ein bisschen mehr. Fällt dir nicht doch etwas ein?«
Madeline wimmerte leise und versuchte ihre Hand wegzuziehen. Aber er war zu stark für sie. »Ja, hör bitte auf, ich werde etwas Gutes über Gerald schreiben.« Sie hätte ihm in diesem Moment alles versprochen, nur damit er ihre Hand losließ.
»Nein, nicht irgendetwas«, fauchte John. »Es muss etwas Grandioses sein! Ich will, dass du dir Mühe gibst, oder ich werde dir jeden einzelnen Finger brechen.«
Er ließ sie los. Madelines Handgelenk war feuerrot. Sie hatte Tränen in den Augen.
John wandte sich zur Tür. »Du hast bis morgen Zeit. Dann will ich mindestens drei Seiten von dir lesen.«
Damit verschwand er aus dem Turmzimmer und Madeline ließ sich zitternd auf das Bett fallen. Sie wusste, dass er gefühllos und manchmal auch grausam sein konnte, aber diese offene Brutalität war eine neue Seite, die sie an John noch nicht kannte. Hilflos blickte sie auf das leere Papier vor sich auf dem Tisch. Wie konnte John von ihr erwarten, dass sie eine Lobeshymne auf Gerald schrieb? Er wusste ganz genau, dass sein Bruder ein Mörder war, auch wenn er es nicht zugeben wollte. War John tatsächlich davon überzeugt, dass Geralds Taten nicht verwerflich gewesen waren? Wenn Madeline ihm nicht gehorchte, würde er ihr neue Gewalt antun, und inzwischen traute sie ihm durchaus zu, dass er ihr sämtliche Finger brechen würde. Aber es war ihr nicht möglich, ein Loblied auf einen Mörder zu schreiben.
Sie atmete tief durch. Hoffentlich kam Thomas bald, um sie hier herauszuholen. Aber wie sollte er das so schnell bewerkstelligen? Und bis es so weit war und er sie endlich aus diesem Turmzimmer befreite, würde sie diesen schrecklichen Nachruf auf Gerald wohl schreiben müssen.
Madeline setzte sich an den Tisch und tauchte die Feder in die Tinte. Na gut, John sollte seine Lobeshymne bekommen. Doch sie würde einen Text verfassen, den niemand ernstnehmen konnte. Sie würde in allem übertreiben, und jeder, der ein bisschen Verstand hatte, musste erkennen, dass es in Wirklichkeit nur eine Fantasiegeschichte war.
Ein Nachruf auf einen Mann, der vielen Menschen in Erinnerung bleiben wird. Ein Pfarrer, der Eindruck gemacht und die Welt verändert hat: Gerald Farwell, Pfarrer von Fleetwood
Wenn er morgens die Tür des Pfarrhauses öffnete, kamen die Vögel und Insekten, die Rehe und Hasen, die Fasane und Hirsche aus dem benachbarten Wald herbei, um an des Pfarrers Frühstückstafel zu speisen. Dabei berichteten sie ihm von den Sorgen der Wildtiere, des Viehs auf den Weiden, der Bienen und Hummeln, und es gab kein Leid, das der Pfarrer nicht hätte lindern können. Wie viele verletzte Flügel hat er geheilt, wie viele gebrochene Knochen geschient und wie viel Heu gespendet, um es den Tieren angenehm zu machen. Und kaum waren die Wildtiere versorgt, standen auch schon die ersten Bettler an seiner Tür, die er mit großzügigen Gaben beschenkte. Jeder erhielt eine Münze und einen Humpen Bier. Aussätzigen und Kranken legte er seine Hand auf, um sie zu heilen. Sünder ließen sich bei ihm von ihren Sünden reinwaschen, und er säuberte nicht nur ihre Seelen, sondern auch ihre Füße und trocknete sie mit dem Haar seiner Haushälterin. Kinder und Greise strömten herbei, um ein gütiges Wort des Pfarrers zu erhalten. Säuglinge krabbelten – notfalls auch gegen den Willen ihrer Eltern – heran, um sich seinen Segen geben zu lassen. Er spendete ihn, wie er auch Zuckerkaramell und gerösteten Ingwer verschenkte. Und dann kamen Eheleute und trugen dem Pfarrer ihren Kummer vor. Er hatte für jeden einen Rat, und es gab niemanden, dem es nach seinem Besuch beim Pfarrer nicht um ein Vielfaches besser ging als zuvor. Doch nicht genug damit, denn kaum war dieses Tagwerk getan, eilte der Pfarrer in die Kirche, um zu predigen und zu beten und sich von seinen Sünden reinzuwaschen. Und trotz seiner unendlichen Güte und Frömmigkeit, trotz seiner Untadeligkeit und Heiligkeit, gab es vieles, dessen er sich schämte. Er griff niemals zum Riemen, um andere zu strafen, doch reinigte er sich selbst mit strenger und harter Hand, um sich die Sünden auszutreiben, und er hatte große Freude dabei. Selbst mitten in der Nacht, wenn alles schlief, trieb es den Pfarrer noch immer um, den Schwachen und Einsamen zu helfen. Es gab keine Dirne, kein leichtes Mädchen, das er verachtet und dem er nicht seine Nähe und Liebe im Namen Gottes geschenkt hätte. Und sobald er auch dieses Werk getan, dem Herrn zu Ehren das Opfer dargebracht und das Kreuz geschlagen hatte, kroch er zurück in sein Bett und betete und bereute. Gerald der Gütige, er gab alles und behielt nichts für sich. Selbst der Mörder hörte auf zu morden, als der Pfarrer tot war.
Madeline befürchtete, dass John wüten und toben würde, wenn er ihren Nachruf las, aber er grinste zufrieden, als er am nächsten Tag die Aufzeichnungen entgegennahm. Er ließ den Text im Gemeindeblatt unter anonymer Verfasserschaft abdrucken. Dann befahl er Madeline, weitere Artikel über Gerald zu schreiben. Die Bezeichnung »Gerald der Gütige« gefiel ihm besonders gut, und Madeline musste sie möglichst oft verwenden. Sie hoffte, die Leser und Leserinnen würden ihre Übertreibungen erkennen und sich daran erinnern, dass Gerald niemals gütig gewesen war. Da sie jedoch das Turmzimmer nicht verlassen durfte, konnte sie das in den nächsten Wochen nicht überprüfen. John zwang sie, immer weitere Texte über Gerald zu schreiben, für die sie das Pseudonym Marcus Brown verwenden sollte.
Wooverlough Court, Oktober 1840
»Guten Morgen, Miss«, sagte das Hausmädchen und stellte ein Tablett mit Rührei, Toast und Tee auf den Tisch im Turmzimmer. Sie war anscheinend neu, jedenfalls war sie noch nie bei ihr gewesen.
Madeline blieb auf dem Bett sitzen und starrte vor sich hin. Seit der Geburt ihres Sohnes vor drei Monaten schien alles vollkommen unwichtig geworden zu sein. Denn John hatte ihr das Kind weggenommen, sie durfte es nicht mehr sehen.
»Miss, ich habe Ihnen Wasser zum Waschen gebracht. Bitte kommen Sie her, damit ich Ihr Bett machen und Ihnen beim Anziehen helfen kann.« Das Mädchen lächelte sie vom Tisch aus an, der unter einem der Fenster stand.
Madeline hatte nicht einmal die Kraft, sich zu widersetzen. Sie stand auf und ging mit schleppenden Schritten zur Waschschüssel.
»Hast du den Jungen gesehen? Wie geht es Howard?«, fragte sie die junge Frau. Die alte Dienerin, die John treu ergeben war und eigentlich für Madelines Versorgung zuständig war, antwortete ihr nie auf solche Fragen nach ihrem Baby.
»Oh ja, der Earl ist sehr stolz auf ihn.« Das Mädchen half Madeline, ihr Nachtgewand auszuziehen. »Es geht ihm gut.«
»Er ist mein Junge, weißt du?«, sagte Madeline mit Tränen in den Augen. »Er hat ihn mir gestohlen.«
»Ich weiß«, antwortete das Hausmädchen.
Madeline stutzte. Sie hatte damit gerechnet, dass die Dienerin fragen würde, welchen Jungen sie denn meine, und dass sie darauf beharren würde, Howard sei Marys Kind, wie John es seit Howards Geburt behauptete. Und wie es die alte Dienerin ihm nachplapperte.
»Du glaubst mir, dass er mir mein Kind gestohlen hat?«, fragte Madeline.
Das Hausmädchen nickte.
Wieder stieg Kummer in Madeline auf. Was half es schon, dass dieses Mädchen ihr glaubte? Die erste Zeit nach der Geburt hatte John das Kind bei ihr gelassen. Sie durfte es stillen und den ganzen Tag im Arm halten. Aber nach einigen Wochen hatte er eine Amme gefunden und ihr den Jungen weggenommen. Seitdem lebte Madeline in einem Alptraum. Neben ihrem Bett stand noch die Wiege und erinnerte sie schmerzhaft an ihren Verlust. Vermutlich hatte John sie absichtlich stehen lassen, um Madeline zu quälen. Sie wünschte sich, noch einmal das Köpfchen streicheln, den kleinen Körper halten zu dürfen und den Duft des Babys in sich aufzusaugen. Aber seit der Earl es ihr entrissen hatte, war sie im Turm eingesperrt und durfte das Kind nicht mehr sehen. Sie hatte geschrien und geweint, aber John hatte sich nicht erweichen lassen. Er verschloss die Tür und ließ nur ausgewählte Bedienstete zu ihr. Inzwischen hatte Madeline keine Tränen mehr, die sie weinen konnte, und auch keine Kraft mehr, um zu kämpfen.
Das Dienstmädchen riss sie aus ihren Gedanken, als es leise sagte: »Miss Brown, Inspector Young schickt mich …«
Madeline fuhr herum. Sie hatte sich das Gesicht gewaschen und wischte sich gerade ab. Plötzlich zitterten ihre Hände vor Aufregung. »Thomas?«
Das Hausmädchen nickte.
»Und ich dachte, er hätte mich vergessen. Ich habe so lange nichts von ihm gehört.« Madeline warf das Handtuch auf den Tisch.
»Nun, es dauerte seine Zeit. Er hat mich gebeten, in den Dienst des Earls zu treten, was mir auch schnell gelang, weil ich gute Referenzen hatte. Aber ich brauchte eine Weile, bis Seine Lordschaft und Mrs McDonalds mir vertrauten. Die alte Dienerin, die für Sie zuständig ist, ist nicht leicht zu gewinnen.«
Madeline nickte. »Ich weiß. Sie ist meine Gefängniswärterin.«
»Heute hat sie mir endlich erlaubt, zu Ihnen zu gehen.« Das Mädchen kicherte. »Wahrscheinlich weil sie selbst nicht mehr die Jüngste ist und Schwierigkeiten hat, die Treppe hier hochzusteigen.«
Madeline ließ sich von dem Mädchen beim Ankleiden helfen. Ihr schwirrte der Kopf. Nach den langen Wochen und Monaten des Wartens, der Gefangenschaft und Verzweiflung, war plötzlich Hoffnung da! Sie hätte das junge Hausmädchen am liebsten umarmt. »Und wie gehen wir jetzt vor? Hat der Inspector dir gesagt, wie er mich aus Wooverlough Court herausholen will?«
Madeline dachte an die Treppe, die John vor etwa einem Jahr hatte abmontieren lassen. In der Nacht, in der er sie auf sein Anwesen gebracht hatte, war Madeline noch einmal nach unten in die Bibliothek geschlichen und hatte alle leeren Tagebücher, Tintenfässer und Federn geholt, um sie in dem dunklen Gang vor ihrem Zimmer zu verstecken. Anscheinend fiel es niemandem auf, dass die Sachen fehlten. Aber Madeline hatten sie in den letzten Monaten davor bewahrt, den Verstand zu verlieren. Sie hatte die ganze Geschichte aufgeschrieben, um einen Ausgleich zu den Lügen zu schaffen, die sie über Gerald verfassen musste. Noch immer ließ John sie diese Texte schreiben, und da Madeline allmählich keine Lobpreisungen auf Gerald mehr einfielen, war sie dazu übergegangen, sich Wundertaten auszudenken, die so fantastisch waren, dass unmöglich jemand glauben konnte, sie hätten tatsächlich stattgefunden. John ließ ihre Geschichten offenbar weiterhin im Gemeindeblatt abdrucken, dessen Leserschaft inzwischen wohl weit über Fleetwood hinausreichte.
»Ich habe einen Brief für Sie, Miss«, sagte das Hausmädchen und reichte ihr einen weißen Umschlag. »Ich hoffe, dass ich jetzt regelmäßig kommen darf. Mr Young wird sicher bald einen guten Plan haben, um Sie zu befreien.«
Das Hausmädchen nahm die Waschschüssel und die schmutzige Wäsche. Dann wandte sie sich zur Tür.
»Warte«, sagte Madeline und hielt sie auf. »Bitte sage ihm, dass es einen Geheimgang gibt, dessen Zugang sich in einer Höhle hinter dem Garten des Pfarrers befindet. Durch diesen Geheimgang kann man hier in den Weinkeller gelangen.« Madeline hatte in den letzten Monaten immer wieder an diesen Gang als Fluchtweg gedacht, doch sie hatte keine Möglichkeit gesehen, aus dem Turmzimmer dorthin zu gelangen. Aber mit Thomas’ Hilfe und der des Hausmädchens würde sie es schaffen.
»Danke, Miss. Das werde ich ihm sagen.« Das Mädchen lächelte wieder und schlüpfte durch die Tür in Johns Zimmer.
Dann hörte Madeline, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Sie setzte sich an den kleinen Tisch, goss sich eine Tasse Tee ein und griff nach dem Brief. Mit zitternden Fingern brach sie das Siegel und faltete das dicke Papier auseinander.
Liebe Madeline,
verzeih mir, dass ich dir erst jetzt schreibe, aber ich musste zunächst eine Vertrauensperson ins Haus schleusen. Glücklicherweise habe ich einen sehr guten Freund, dessen Tochter Amanda in Diensten bei Lord Bernwick stand. Ich konnte sie davon überzeugen, uns zu helfen. Nun müssen wir mit Bedacht vorgehen, denn der Earl of Wooverlough ist ein starker Gegner mit den besten Kontakten bis in die obersten Reihen der Politik. Madeline, ich befürchte, er wird seinen Sohn nicht loslassen. Ich habe von der Geburt seines Erben in der Zeitung gelesen und von seiner Lüge, was die Mutterschaft betrifft. Aber es gibt Gerüchte in der Gesellschaft, ich habe mehr als eine kritische Stimme vernommen, die daran zweifelt, dass die Comtess die echte Mutter ist. Schließlich war sie noch wenige Monate zuvor ganz offensichtlich nicht in anderen Umständen. Seine Lordschaft hat es versäumt, die Comtess frühzeitig vor den Blicken der Gesellschaft zu verbergen, und kam wohl erst kurz vor der Geburt auf die Idee, das Kind als seinen ehelichen Sohn auszugeben. Ich bin sicher, dass du für ihn jetzt nicht mehr so interessant bist wie vor der Geburt. Wenn du deinen Sohn bei ihm zurücklässt – und ich hoffe, du bist dazu bereit –, wird er vermutlich keine Anstalten machen, uns aufzuhalten. Und sollte er sich doch erdreisten, uns mit seinem Wissen über den Mord an Gerald Farwell erpressen zu wollen, dann setzen wir unsere Kenntnisse ein, die seinen Sohn betreffen. Denn wenn Howard offiziell nicht der Sohn der Comtess, sondern deiner wäre, könnte er nicht sein Erbe werden. Das wird Seine Lordschaft verhindern wollen. Madeline, ich weiß, dass ich fast Unmögliches von dir verlange, aber vergiss nicht, auch ich habe mein Kind verloren und weiß, wie schwer ein solcher Verlust ist. Dabei habe ich von Amanda gehört, dass der Earl dich auf engstem Raum gefangen hält und dass du deinen Sohn ohnehin nie zu Gesicht bekommst.
Liebste Madeline, ich verspreche dir meinen Schutz und werde mich bemühen, dir das bestmögliche Leben zu bieten. Gib mir über Amanda Bescheid, wie du dich entschieden hast.
In aufrichtiger Zuneigung
Thomas
Madeline starrte auf den Brief. Sie musste nicht lange darüber nachdenken. Thomas hatte recht, hier in Wooverlough Court würde sie ihren Sohn genauso wenig sehen, wie wenn sie in London leben würde. Und John wäre vielleicht sogar froh, wenn sie fort war. Er schien nichts mehr mit ihr anfangen zu können und hielt sie vermutlich nur noch hier gefangen, weil sie zu viel über ihn und Gerald wusste und auch, weil sie ihm dabei half, eine Art Heiligenfigur aus seinem Bruder zu machen. Madeline schüttelte sich. Wie schnell sich dieser Heldenmythos im Umkreis von Fleetwood und Liverpool doch verbreitet hatte! Niemand schien die übertriebene Darstellung in ihren Texten anzuzweifeln. Im Dorf sollte im nächsten Sommer sogar ein Fest für den verstorbenen Pfarrer stattfinden. Madeline wurde bei der Vorstellung schlecht, dass dem Mörder, der so viele unschuldige Frauen getötet hatte, nun eine solche Ehre erwiesen werden sollte.
Sie verdrängte den Gedanken daran und holte eines der leeren Tagebücher aus ihrem Versteck. Vorsichtig trennte sie eine Seite aus dem Buch und schrieb eine Antwort an Thomas. Sie teilte ihm mit, dass sie zur Flucht bereit sei und Amanda bereits von einem Geheimgang erzählt habe. Anschließend versteckte sie das Tagebuch wieder und schob den Brief in ihre Rocktasche. Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, wenn sie daran dachte, dass sie ihren geliebten Jungen hier bei John zurücklassen musste. Sie würde ihn loslassen müssen, denn es war ausgeschlossen, dass sie Howard je wiedersehen durfte. Aber Madeline würde nach vorn blicken.
Nun musste sie hoffen, dass Amanda bald zurückkam, damit sie ihr die Nachricht für Thomas mitgeben konnte.