London, Sommer 1851

Madeline wischte sich die feuchte Stirn mit ihrem Baumwolltuch trocken und beobachtete ihre Tochter, die mit leuchtenden Augen auf die vielen Fähnchen und Wipfel sah, die um den imposanten Kristallpalast im Londoner Hyde Park wehten, wo die Weltausstellung in diesem Jahr stattfand. Seit dem Frühjahr war die Stadt in einem Ausnahmezustand. Die Straßen quollen über von Menschen sämtlicher Hautfarben und Wortfetzen in fremden Sprachen drangen an Madelines Ohr. Ihre drei Kinder wollten am liebsten jeden Tag einen Ausflug zur Weltausstellung machen, der gigantische Glaspalast und die Besucher, die aus den unterschiedlichsten Ländern herbeiströmten, faszinierten die Kleinen. Rund um das Gebäude waren Buden aufgebaut worden, an denen man Süßigkeiten, Getränke und Souvenirs kaufen konnte. Im Inneren des gewaltigen Bauwerks waren Madeline und Thomas mit ihren Kindern allerdings nur ein einziges Mal gewesen, denn die Eintrittskarten waren teuer. Doch es war eindrucksvoll genug, den Palast aus Eisen, Stahl und Glas von der Straße aus zu bewundern und an den bunten Verkaufsständen vorbeizubummeln.

»Mummy, schau mal da, die Frau!« Der sechsjährige

»Tommy, man zeigt nicht mit dem Finger auf Leute«, ermahnte ihn seine ältere Schwester.

Madeline lächelte ihrer Tochter zu und warf einen Blick auf ihren jüngsten Sohn, den kleinen Andrew, der friedlich in seinem Kinderwagen schlief. Wenn er aus ihm herausgewachsen war, würden sie den Wagen an eine andere Familie verschenken, denn Thomas hatte Madeline unmissverständlich klargemacht, dass Andrew ihr letztes Kind sein würde. Thomas litt jedes Mal schrecklich unter Madelines Schwangerschaften, und sie verstand ihn nur zu gut. Schließlich hatte er seine erste Frau und ihr gemeinsames Kind bei der Geburt verloren.

Wenn Thomas abends nach Hause kam, legte sich eine so tiefe Zärtlichkeit auf sein Gesicht, dass Madeline meinte, vor Glück zerplatzen zu müssen. Thomas vergötterte sie und die Kinder und hatte sein Versprechen gehalten. Madelines Leben war wunderschön, nicht frei von Sorgen, schließlich war das Geld knapp, aber sie hatte inzwischen gelernt, damit zu haushalten. Sie hatten Mrs Doulton, die für sie kochte und im Haushalt half, ansonsten gab es kein Personal. Das war anfangs eine große Umstellung für Madeline gewesen. Sie hatte die alltäglichen Arbeiten wie das Wäschewaschen, Putzen und Wischen erst erlernen müssen. Aber mit Thomas’ Hilfe war es ihr gelungen und jetzt machte es ihr sogar Spaß. Heute war es, als hätte es nie etwas anderes als ihren kleinen Haushalt und die Kinder in ihrem Leben gegeben.

»Och«, Tommy verzog sein kleines Gesicht, »ich will noch ein wenig hierbleiben und die Leute ansehen.«

»Ja, Mummy«, pflichtete ihm nun auch Erica bei. »Noch ein bisschen, ja? Wir beeilen uns nachher auch. Schau mal, der Junge dort! Was der für einen vornehmen Rock trägt.«

Madeline musste lächeln, während sie das Kind beobachtete, auf das Erica deutete. Es kam an der Hand eines Gentlemans den weißen Sandweg entlang auf sie zu. Sie waren ganz eindeutig auf dem Weg zum Kristallpalast, der sich hinter Madeline befand. Der Junge musste etwa zehn Jahre alt sein und trug einen eleganten Anzug wie sein Vater. Plötzlich hielt Madeline inne und betrachtete die beiden genauer. Ihr wurde schwindelig. Sie klammerte sich an dem Kinderwagen fest. Das war unmöglich! Und doch war sie sich sicher. Der Mann in dem eleganten Anzug war John. Sie erkannte den vertrauten Gang, die Figur, sein Gesicht. Er war älter geworden, graue Strähnen mischten sich unter das dunkle Haar, den Bart trug er etwas kürzer und die Koteletten länger als vor elf Jahren. In diesem Moment begegneten sich ihre Blicke und John erstarrte ebenfalls. Er hatte sie erkannt. Madeline hielt den Atem an, als er auf sie zukam. Ihr Blick wanderte zu dem Jungen und erst jetzt verstand sie. Das war ihr Sohn, Howard! Tränen traten ihr in die Augen, die sie schnell fortblinzelte. Sie spürte die fragenden Blicke ihrer Kinder auf sich, als John den Hut lüftete.

»Miss Brown!«

»Mrs Young«, korrigierte sie ihn.

»Howard«, flüsterte Madeline. Und einen Augenblick lang blieb die Zeit für sie stehen. Plötzlich waren der Kristallpalast und die belebten Londoner Straßen mit all den vielen Menschen vergessen. Für Madeline gab es nur noch Howard.

Doch der Junge schenkte ihr nur einen flüchtigen Blick. Als er ihre Kleidung ansah, erkannte Madeline eine gewisse Abfälligkeit und Überheblichkeit in seinen Augen.

Er war ein hübscher Junge geworden, der große Ähnlichkeit mit seinem Vater, aber auch mit Madeline hatte. Sie wollte ihn in ihre Arme ziehen, ihm sagen, dass kein Tag vergangen war, an dem sie nicht an ihn gedacht hatte, aber sie wusste, dass sie damit die Welt des Jungen zerstören würde. Er fühlte sich als Marys Sohn, und sollte er je erfahren, dass er in Wirklichkeit das Kind dieser ärmlich gekleideten, einfachen Frau war, würde er vermutlich verzweifeln. Nein, Howard durfte die Wahrheit nie erfahren.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte John jetzt.

Madeline lächelte tapfer, obwohl ihr Herz gerade zu brechen drohte.

»Danke, gut. Und Ihnen?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie fragte: »Und Ihrem Sohn?« Wieder suchten ihre Augen Howard, der sich gelangweilt abgewandt hatte und zum Kristallpalast hinübersah.

»Es geht uns allen sehr gut«, erwiderte John. »Wir vermissen Sie in Fleetwood.«

Madeline nickte nur. Ja, sie vermisste manchmal auch die Tage, als alles noch unbeschwert zwischen ihr und John gewesen war. Als sie ihre erste Liebe zueinander entdeckt

»Sie sind zur Weltausstellung in die Stadt gekommen?«, fragte sie.

»Ja, wir wollen sie heute besuchen. In Fleetwood habe ich allerlei darüber gelesen und von Freunden die aufregendsten Berichte gehört. Das wollten wir uns nicht entgehen lassen«, erklärte John, während er zum Palast hinüber deutete.

»Nun, dann wollen wir Sie nicht aufhalten.« Madeline schluckte. »Ich wünsche Ihnen alles Gute.«

»Danke, Mrs Young.« John wandte sich an seinen Sohn. »Sag auf Wiedersehen, Howard.«

Der Junge verbeugte sich kurz vor Madeline, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Gedanklich war er wohl schon auf der Weltausstellung.

Madeline presste die Lippen zusammen. Tränen brannten in ihren Augen.

John hielt einen Moment inne, es schien ihm schwerzufallen, sich von Madeline abzuwenden. Dann fasste er entschlossen nach Howards Hand, und Madeline sah ihnen nach, wie sie auf den großen Glaspalast zusteuerten. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Das war ihr Sohn und er wusste es nicht. Sie dachte daran, wie sie das kleine Köpfchen gehalten, das Baby gestillt und in den Schlaf gewiegt hatte. Wie sie die kleine Stirn über und über mit Küssen bedeckt hatte. Ihr Blick verschwamm, und sie spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen.

In diesem Moment fasste eine kleine Hand nach ihrer und hielt sie fest. »Hat der Mann dich traurig gemacht?«

»War das dein Freund, als du klein warst?«, fragte ihre Tochter.

Madeline nickte. »Mein bester. Wir sind zusammen aufgewachsen.«

Sie bückte sich und nahm ihre beiden Großen in die Arme. Einen Moment lang hielt sie sie ganz fest, bis Tommy sich von ihr löste.

»Es wird Zeit, nach Hause zu gehen«, sagte Madeline schließlich und richtete sich auf.