Oxford, heute

Zoe sog den Geruch des alten Hauses in sich auf. Die Colleges hier in Oxford rochen genauso wie die in Cambridge, nach Büchern, Wachs und Reinigungsmitteln. Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, während sie in dem schmalen Korridor an den Hörsälen vorbeiging. Die alten Holzdielen knarrten unter ihren Schritten. Wieder an der Uni zu sein war fast wie nach Hause zu kommen, nur dass Zoe schon seit drei Jahren kein Zuhause mehr hatte. Und seit Mel fort war, hatte sie auch keinen Menschen mehr, bei dem sie so etwas wie Geborgenheit verspürte. Einen Moment lang blieb sie stehen und sah aus dem Fenster auf den gepflegten Rasen hinunter. Oxford war ein Neuanfang und das hatte etwas Tröstendes. In Cambridge hatte sie alles an Mel erinnert, in Liverpool alles an ihre Eltern. Ihr war bewusst, dass sie die Promotionsstelle bei Professor Charlotte Arlon nur aufgrund ihres Familiennamens bekommen hatte, aber sie hatte kein schlechtes Gewissen. Auch wenn sie sich geschworen hatte, ohne die Unterstützung der Earls of Wooverlough ihren Weg zu gehen, nahm sie diesen Vorteil gern in Anspruch. Ihre Chancen waren nämlich nicht besonders gut gewesen, als sie sich bei Professor Arlon beworben hatte.

Zoe wandte sich vom Fenster ab und setzte ihren Weg fort. Irgendwo auf diesem Flur musste das Büro ihrer neuen Professorin sein. Damals bei ihrem ersten Gespräch hatte sie Professor Arlon in einem großen Saal getroffen, zusammen mit weiteren Mitgliedern der Auswahlkommission. Jetzt kam ihr eine Gruppe Studenten entgegen und ihr Magen fing plötzlich an vor Aufregung zu kribbeln. Zum ersten Mal seit Monaten verspürte sie wieder so etwas wie Glück. Zum ersten Mal seit Mel gegangen war, hatte sie das Gefühl, endlich wieder nach vorn blicken zu können.

Sie blieb stehen, als sie das Schild mit der Aufschrift »Professor Dr. Charlotte Arlon« gefunden hatte. Zoe atmete tief durch. Wieso war sie plötzlich so aufgeregt? Sie hatte in den letzten Jahren doch ganz andere Situationen gemeistert. Ihre Hand zitterte leicht, als sie anklopfte.

Zoe hörte Schritte, die sich näherten, und im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet.

Professor Arlon lächelte ihr zu. »Herzlich willkommen in Oxford, Lady Zoe.«

»Oh, bitte nur Zoe«, erwiderte sie und schüttelte die Hand ihrer Professorin. »Ich freue mich sehr, bei Ihnen promovieren zu dürfen, Frau Professor.«

»Charlotte«, sagte diese, wich einen Schritt zurück und ließ Zoe eintreten.

Der dezente Duft eines teuren Parfüms lag im Raum. Die Wände des Büros waren mit Bücherregalen

Charlotte bedeutete Zoe, Platz zu nehmen, und setzte sich dann neben sie.

»Wie spannend, die Autorin von Der Übernächste als Doktorandin bei uns begrüßen zu dürfen!«

Zoe errötete. Obwohl sie eigentlich an den Ruhm gewöhnt sein sollte, den sie vor zwei Jahren durch ihren Roman erlangt hatte, war ihr die allgemeine Aufmerksamkeit immer noch unangenehm. Sie war froh, dass der größte Wirbel um ihre Person inzwischen vorbei war. Nach Erscheinen ihres Buches war sie zu mehreren Talkshows eingeladen gewesen und musste zahlreiche Interviews geben. Dabei hatte sich Zoe nie wirklich wohlgefühlt.

Sie wechselte das Thema. »Wie ich in meinem Motivationsschreiben ja erläutert habe, verfolge ich Ihre Arbeit schon lange, und ich habe in Cambridge meine Abschlussarbeit über das Thema Heldenentstehung und Heldentum geschrieben.«

»Ich weiß.« Charlotte klopfte mit ihren schlanken manikürten Fingern auf eine Mappe, die auf einem niedrigen Tischchen lag. Der Brillant an ihrem Ringfinger funkelte. »Kevin war so freundlich, sie mir zukommen zu lassen.«

»Oh«, stieß Zoe überrascht hervor. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Kevin Franklin, ihr Professor in Cambridge, bei dem sie ihre Masterarbeit geschrieben hatte, mit Charlotte bekannt war.

Die Professorin lachte und warf ihr langes blondes Haar zurück. »Kevin und ich haben zusammen studiert, und nach Ihrem Bewerbungsgespräch habe ich ihn gleich

»Ich bin achtundzwanzig«, erwiderte Zoe und hörte selbst den beinahe entschuldigenden Unterton in ihrer Stimme. »Mein Roman kam mir dazwischen …«

»Na, glücklicherweise.« Charlotte lachte. »Ich habe Der Übernächste verschlungen. Es ist ein ausgezeichnetes Porträt Ihrer Generation.«

Zoe nickte und errötete wieder. Sie überlegte, dass sie und Charlotte fast aus derselben Generation stammen könnten, die junge Professorin war nicht viel älter als Zoe selbst. Zoe hatte alles über Charlotte Arlon gelesen, was sie finden konnte. Die Professorin war achtunddreißig Jahre alt und ihre akademische Laufbahn beeindruckend. Mit achtundzwanzig hatte sie ihren Doktortitel bereits in der Tasche gehabt und zahlreiche Bücher, Artikel und wissenschaftliche Abhandlungen zum Thema Heldentum herausgebracht. Innerhalb weniger Jahre hatte sie sich einen Namen gemacht und mit dreißig schon eine Juniorprofessur in Harvard bekommen. Nur ein paar Jahre später übernahm sie den Lehrstuhl in Oxford. Dazwischen hatte sie es sogar noch geschafft, den Dekan der literaturwissenschaftlichen Fakultät zu heiraten und zwei Kinder zu bekommen, und dabei sah sie so umwerfend aus, als wäre sie Berufssportlerin.

Charlotte schaute Zoe fragend an, der auffiel, dass sie ihre Professorin wohl etwas zu eindringlich gemustert

Charlotte zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Ich war davon ausgegangen, dass Ihre Eltern Sie unterstützen.«

Zoe schüttelte den Kopf. »Ich habe zu meinen Eltern keinen Kontakt mehr.«

»Das ist schade«, sagte die Professorin und hob die Hand mit dem Brillantring. »Ich meine, ich will mich nicht in Ihre Familienangelegenheiten einmischen, aber ich habe ein Forschungsthema, das ich Ihnen gern vorschlagen würde, und für dieses Thema wäre der Kontakt zu Ihrer Familie sicher vorteilhaft.«

Zoe runzelte die Stirn. »Ich komme zwar aus einer alten Adelsfamilie, aber ich wüsste nicht, in welcher Hinsicht diese Herkunft hilfreich sein könnte. Die Geschichte der Earls of Wooverlough ist so langweilig, dass sie über eine dröge Familienchronik wohl kaum hinausreichen würde – die es übrigens schon gibt.«

»Ihr Vorfahre Gerald Farwell«, sagte Charlotte nur.

»Gerald der Gütige?«, erwiderte Zoe erstaunt.

Die Professorin nickte. »Genau um den geht es. Um Gerald den Gütigen. Gerald Farwell wird nicht nur in Liverpool und Umgebung als Held verehrt. Er ist landesweit bekannt, und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wäre beinahe ein Feiertag ihm zu Ehren geschaffen worden. Soweit ich weiß, war sogar seine Heiligsprechung vorgesehen. Auf jeden Fall gilt er im ganzen Land als Held.«

»Und in unserem Dorf Fleetwood, das jahrhundertelang meiner Familie gehört, gibt es jedes Jahr die großen Gerald-Farwell-Spiele«, warf Zoe ein. »Das ist ein Volksfest mit verschiedenen unterhaltsamen Wettkämpfen.«

»Er war Geistlicher«, erinnerte sich Zoe.

»Genau. Aber darüber hinaus ist erstaunlich wenig über ihn bekannt, und dennoch wird er als Held verehrt.« Charlotte hielt einen Moment inne. »Worum geht es bei diesen Gerald-Farwell-Spielen? Vielleicht liefert uns das den ersten Anhaltspunkt.«

Zoe lehnte sich in dem Sessel zurück und dachte einen Augenblick nach. »Es ist ein Fest für die ganze Familie. Eine Woche lang werden Wettbewerbe veranstaltet. Tauziehen und Sackhüpfen, ein Eierlauf, ein Kuchenwettbacken und eine Rosenmeisterschaft, bei der die schönste Rose des Dorfes gekürt wird.«

Charlotte nickte. »Das müsste man sich mal genauer anschauen. Ich weiß nicht, ob das Thema Stoff genug hergibt, um eine Dissertation darüber zu schreiben, aber für eine wissenschaftliche Abhandlung sollte es reichen. Und am Ende kann es zumindest ein Teil Ihrer Promotion werden.«

»Warum denken Sie, dass gerade ich mich mit diesem Thema beschäftigen soll?«, fragte Zoe, der nicht wohl war bei dem Gedanken, sich intensiv mit ihrer Familiengeschichte zu befassen. »Wäre ein Außenstehender mit genügend Abstand nicht viel besser geeignet?«

»Ich glaube, Sie könnten an viel mehr Informationen herankommen als jemand, der nicht zur Familie gehört«, erklärte Charlotte und riss Zoe damit aus ihren Gedanken. Ihre Hand legte sie auf die Armlehne des abgenutzten Ledersessels. »Es gibt bisher noch keine Literatur zu diesem Thema, und ich könnte mir vorstellen, dass Sie etwas über Gerald schreiben könnten, das einerseits wissenschaftlich fundiert ist, andererseits aber auch interessierte Laien anspricht. Denn Sie sind als Romanautorin bekannt, Familienmitglied der Wooverloughs und nicht zuletzt Wissenschaftlerin.«

Charlotte schien ihr Zögern zu bemerken. »Zunächst schlage ich vor, dass Sie nach London fahren und im Archiv von Scotland Yard und der Metropolitan Police recherchieren, ob es Akten über den Mord an Gerald Farwell gibt.«

»Er ist ermordet worden?«, fragte Zoe erstaunt.

Charlotte stutzte. »Ich dachte, das wäre Ihnen als Familienmitglied bekannt.«

Zoe schüttelte den Kopf.

»Es würde mich interessieren, ob er bereits zu Lebzeiten verehrt wurde oder ob er einen heldenhaften Tod gestorben ist«, fuhr Charlotte fort. »Es ist so wenig darüber bekannt. Ich weiß nur, dass er nicht auf natürliche Weise starb. Einer meiner Studenten ist zufällig auf eine Mitteilung in der Liverpooler Zeitung von 1839 gestoßen. Er forscht zum Thema Auswanderung, und da spielte Liverpool natürlich eine zentrale Rolle.«

Zoe sah sie nachdenklich an und lehnte sich in dem alten Sessel leicht nach vorn, in dem schon Generationen von Studenten und Professoren gesessen haben mussten. »Gut möglich, dass der gewaltsame Tod etwas mit der

»Wir haben nicht weiter nachgeforscht. Aber da Gerald Farwell aus einer hochangesehenen Familie stammte, hat man vermutlich nicht gerade einen Dorfpolizisten damit beauftragt, den Fall zu lösen. Damals war die Metropolitan Police gerade gegründet worden, und wenn Mitglieder der gesellschaftlichen Oberschicht Opfer von Gewalttaten wurden, kümmerten sich die Londoner Polizeibehörden um die Angelegenheit. Deshalb gehe ich davon aus, dass Sie dort eher fündig werden als in Liverpool. Dennoch sollten Sie auch dem Archiv der Liverpool Police einen Besuch abstatten.«

Zoe nickte. »Ich werde mich in London umschauen und zusammentragen, was es an Informationen über ihn gibt.«

»Beziehen Sie bitte auch die Zeit nach seinem Tod mit ein. Wie ist es zu der Verehrung gekommen? Das ist unser eigentliches Thema. Auch wenn der Schlüssel dazu tatsächlich häufig im Leben der Helden liegt.« Charlotte lächelte.

Zoe unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte sich im Vorfeld einige Promotionsthemen überlegt, die sie ihrer neuen Professorin vorschlagen wollte. Dass sie nun ausgerechnet über ihre eigene Familie forschen sollte, passte ihr gar nicht.

»Halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Charlotte. Sie stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin sehr gespannt auf Ihre ersten Ergebnisse.«

Zoe verabschiedete sich, und als sie in den schmalen Korridor trat, verspürte sie plötzlich den dringenden Wunsch, ihre Professorin auf keinen Fall zu enttäuschen.

 

Als sie endlich dazukam, sich mit Gerald Farwell zu befassen, musste sie schnell feststellen, dass das Internet ihr keine Informationen über diesen Mann lieferte. Es gab keinen einzigen Eintrag in den einschlägigen Suchmaschinen und Online-Datenbanken, und der Wikipedia-Artikel über Gerald Farwell enthielt nichts, was sie nicht schon gewusst hatte. Der einzig interessante Fund war das Literaturverzeichnis im Anhang, das auf zwei Biografien über ihn verwies.

Als Nächstes nahm Zoe Kontakt zum zentralen Polizeiarchiv in London auf. Als sie endlich zu der zuständigen Archivarin durchgestellt worden war, wurde ihr erklärt, dass sie in Arbeit ersticken würden und dass sie sich selbst auf den Weg ins Polizeiarchiv machen müsse, wenn sie etwas über Gerald Farwells Tod herausfinden wolle. Immerhin rief der Archivar aus Liverpool sie zwei Tage später zurück, um ihr mitzuteilen, dass es keine Akte und auch

Sie nahm den Zug und erreichte um halb zehn Uhr morgens das Polizeigebäude, wo sie schon eine halbe Stunde später die Akten durchforstete. Als das Archiv um fünf Uhr schloss, hatte sie jedoch nicht einmal den geringsten Hinweis auf den Mord an ihrem Vorfahren gefunden. Daher fuhr sie auch am nächsten Tag noch einmal nach London, doch wieder ohne Erfolg. Allmählich begann sie daran zu zweifeln, dass Gerald wirklich ermordet worden war. Konnte es sich vielleicht um einen tragischen Unfall gehandelt haben, bei dem es keine Ermittlungen gegeben hatte?

Zoe erinnerte sich an die beiden Biografien, die in dem Wikipedia-Artikel erwähnt worden waren, und über den Online-Bibliothekskatalog wurde sie schnell fündig. In Oxford gab es offenbar ein Exemplar von einer der Biografien, es stand in der Bibliothek des Balliol College.

Zoe machte sich sofort auf den Weg in die alte Bücherei. Es dauerte ein wenig, bis sie sich in den Räumen zurechtgefunden hatte und das Werk vor ihr auf dem Tisch lag. Es war in rissiges Leder gebunden. Ausleihen konnte man sich das Buch nicht, aber es war nur achtzig Seiten dick. Es stammte aus dem Jahr 1845, war also sechs Jahre nach Geralds Tod veröffentlicht worden.

Das Licht der Morgensonne fiel durch das Fenster auf den schmalen Tisch, an dem Zoe saß, während sie den Text las, der in einer altmodischen Sprache verfasst war. Sie vertiefte sich in die detailreichen Ausführungen über den gottesfürchtigen und gütigen Geistlichen, der sich wohl von klein auf dazu berufen gefühlt hatte, sein Leben in den

Zoe hob die Augenbrauen, als sie am Ende der Biografie angekommen war. Der Bericht über Geralds Leben brach beinahe abrupt ab. Irritiert blätterte sie weiter, aber da stand nichts mehr. Sie betrachtete den Namen des Verfassers: Hanno Nym. Das klang nach einem anonymen Autor. Und als sie den Namen in ihrem Smartphone googelte, fand sich auch tatsächlich kein Eintrag zu einem Schriftsteller mit diesem merkwürdigen Namen.

Zoe seufzte und stand auf. Nachdem sie das Buch ins Regal zurückgestellt hatte, trat sie gedankenverloren in den Herbsttag hinaus. Diese Biografie hatte ihr kaum neue Erkenntnisse gebracht. Gerald hatte sich anscheinend häufig für andere Menschen eingesetzt, aber dieses soziale Engagement rechtfertigte sicher nicht, dass er nach seinem Tod derart zum Helden stilisiert worden war. Nein, Zoe wurde das Gefühl nicht los, dass sein Heldentum auf irgendeine Weise mit seinem Tod zusammenhängen musste. Er war eines Todes gestorben, der ihn zum Helden gemacht hatte.

Zoe zog ihren Schal enger um den Hals, es war plötzlich frisch geworden. Orangerote Blätter segelten an ihr vorbei auf den Schotter des Gehwegs, als sie das Gelände des Colleges verließ. Wenn sie mit ihrem Vater hätte sprechen

Sie schüttelte den Kopf, während sie am Christ Church College vorbeischlenderte, und zog ihr Smartphone aus der Tasche. Laut Wikipedia gab es ja noch ein zweites Buch, das sich mit dem Leben von Gerald Farwell beschäftigte, aber dieses schien öffentlich nicht zugänglich zu sein. Zoe fand zwar die Biografie im Internet, aber keine Bibliothek, wo sie einsehbar gewesen wäre. Plötzlich war Zoe sich sicher, dass dieses Buch und vielleicht noch weitere Unterlagen zu Gerald Farwell in Wooverlough Court zu finden sein würden. Die Bibliothek ihrer Familie war so umfassend, dass es an ein Wunder grenzen würde, wenn ausgerechnet die Bücher über ihren Vorfahren Gerald nicht dort aufbewahrt wären. Aber es war unmöglich für sie, dorthin zurückzukehren.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, suchte sie in ihrem Telefon nach der Nummer ihrer Tante Vicky, der Schwester ihres Vaters. Vicky war eine der Wenigen in ihrer Familie, die Zoe nicht wegen ihrer Beziehung mit Mel und ihrer lesbischen Neigung verurteilten.

»Hallo?«, meldete sich die Stimme ihrer Tante.

»Ich bin’s, Zoe. Alles okay bei dir?«, fragte Zoe und wich einem Studenten aus, der mit seinem Fahrrad in halsbrecherischer Geschwindigkeit über den Gehweg raste.

»Was für eine Überraschung, Zoe! Ich habe gestern

»Ich hoffe, ihr habt nur Gutes über mich gesprochen«, scherzte Zoe. »Sag mal, Vicky, hast du eigentlich schon mal von Gerald dem Gütigen gehört?«

»Gerald? Natürlich. Aber warum fragst du?« Ihre Tante klang erstaunt.

»Leider weiß ich nur sehr wenig über ihn«, erwiderte Zoe. »Ich überlege gerade, ob ich über Gerald promovieren soll, und brauche dringend mehr Informationen.«

Vicky schwieg einen Moment und sagte dann: »Das ist eine ausgezeichnete Idee. Ich verstehe sowieso nicht, warum über sein Leben bisher nur so wenig geschrieben wurde. Gerald war ein Held, er war ein ganz besonderer Mensch, weißt du?«

»Ja, aber warum war er das?« Zoe strich sich fröstelnd über die Oberarme und beschleunigte ihren Schritt.

»Kennst du denn die Zeitungsberichte nicht?«, fragte ihre Tante.

»Welche Zeitungsberichte?« Zoe blieb stehen. »Ich wusste gar nicht, dass es welche über ihn gibt.«

»Ich muss sie hier irgendwo haben. Sie sind schon ziemlich alt.« Im Hintergrund raschelte Papier. »Ich hab sie irgendwann mal aus Wooverlough Court mitgenommen.«

»Vicky, könntest du mir diese Berichte zuschicken? Das würde mir sehr weiterhelfen.« Zoe hielt vor Aufregung den Atem an.

»Aber ja, du bist ja jetzt Wissenschaftlerin. Wenn du sie durchgesehen hast, kannst du sie einfach deinem Vater zurückgeben, ja? Sie gehören schließlich in die Bibliothek

»Wie auch immer.« Zoe ging langsam weiter. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der kalten Oktoberluft. Sie nannte ihrer Tante ihre neue Anschrift in Oxford und verabschiedete sich von ihr.

 

Als sie zwei Tage später von der Universität nach Hause kam, lag ein dicker Umschlag in ihrem Postkasten. Sie öffnete ihn und fand darin einen Stapel vergilbter Zeitungsberichte. In die obere Ecke war jeweils mit schwarzer, schon ziemlich verblichener Tinte das Erscheinungsdatum geschrieben worden. Zoe musste das Papier unter helles Licht halten, um die Zahlen entziffern zu können. Der älteste Artikel stammte aus dem Jahr 1839. Es war nur eine kurze Notiz über den tragischen Tod von Gerald Farwell, dem Bruder des Earl of Wooverlough und Pfarrer von Fleetwood, dessen Leiche Ende November aus dem George’s Basin geborgen worden war. Der Text enthielt keine Einzelheiten über seinen Tod.

Zoe blätterte weiter. Zwei Tage später war ein ausführlicher Bericht erschienen.

Im Falle des Pfarrers Gerald Farwell aus Fleetwood, der vor zwei Tagen tot aufgefunden wurde, verdichten sich die Hinweise darauf, dass es sich keineswegs um einen Unfalltod handelte. Die Metropolitan Police schickte Inspector Thomas Young, einen ihrer erfahrensten Ermittler, nach

Zoe blätterte durch die Zeitungsausschnitte, konnte aber keinen anderen Beitrag finden, der über die Umstände, die zu Gerald Farwells Tod geführt hatten, Auskunft gab. Sie lehnte sich zurück. Entweder waren damals keine Berichte mehr über diesen Fall erschienen oder man hatte sie nicht aufbewahrt. Trotzdem hatten ihr diese kleinen Notizen bereits weitergeholfen, denn sie zeigten, dass Gerald keines heldenhaften Todes gestorben war, wie Zoe zunächst vermutet hatte. Die spätere Verehrung für ihn musste also doch in seinem Leben begründet liegen. Und tatsächlich schien der nächste Zeitungsausschnitt, den sie in die Hand nahm, diese Vermutung zu bestätigen. Der Bericht war im Sommer 1840 veröffentlicht worden. Es war ein Nachruf des Earl of Wooverlough.

Zoe las den Artikel.

Inzwischen ist ein halbes Jahr vergangen, seit mein geliebter Bruder, der Pfarrer Gerald Farwell, von uns gegangen ist. Es ist für mich und alle, die ihn kannten, noch immer unvorstellbar,

Nun habe ich mich gesammelt und trete dieser Aufgabe tapfer entgegen. Ich bin gern bereit, ein paar Worte der Würdigung zu finden und die Heldentaten meines geliebten Bruders zusammenzufassen.

Wenn ich mich an Gerald erinnere, denke ich zuerst an sein sanftes Wesen, seinen ruhigen Charakter, der immer ausgeglichen und niemals unbeherrscht war. Ich denke an sein freundliches, zuvorkommendes Wesen, das für jeden Menschen ein liebes Wort, für jeden Bedürftigen Zuspruch und für jeden Hoffnungslosen Zuversicht bereithielt. Mein Bruder war selbstlos, er hat sich niemals seinem eigenen Vorteil oder gar Vergnügen hingegeben. Seine Leidenschaft galt seiner Berufung, seine Liebe unserem Schöpfer und dessen Geschöpfen. Streit wusste er stets zu schlichten, Zorn zu besänftigen und Missgunst im Keim zu ersticken. Ja, mein Bruder glaubte an das Gute und weckte in seinen Mitmenschen nur das Beste. Eine Welt ohne Gerald ist

Zoe lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Gerald war offensichtlich ein großartiger Mann gewesen. Sie musste sich eingestehen, dass sie stolz darauf war, eine Nachfahrin dieses bewundernswerten Menschen zu sein. Sie dachte einen Moment darüber nach. Hatte die Welt ihn tatsächlich vergessen? Sie zuckte mit den Schultern. Auch wenn sein Name heute noch vielen Menschen geläufig war – schließlich gab es die Farwell-Spiele und in Fleetwood war sogar eine Straße nach ihm benannt worden –, konnte doch niemand mehr genau sagen, was Gerald eigentlich Bedeutsames vollbracht hatte.

Zoe stand auf und trat ans Fenster. Während sie auf die Straße hinuntersah, fragte sie sich, ob es überhaupt neue Erkenntnisse geben würde, die sie gewinnen und für ihre Doktorarbeit verwenden konnte. Vielleicht lag Geralds Ruhm ja schlicht in seinem außerordentlich freundlichen Wesen und liebenswürdigen Charakter begründet, den der Earl beschrieben hatte. Manchmal brauchte es keine großen Taten und Wunder, um zum Helden zu werden.

Zoe ging zurück zu ihrem Schreibtisch und sah sich auch noch die nächsten Artikel an. Man hatte anscheinend eine neue Rubrik ins Leben gerufen, die immer am ersten Mittwoch im Monat erschien und die Überschrift Erinnerungen an die Wundertaten des Gerald Farwell trug. Sie war von einem gewissen Marcus Brown, Liverpool Chronist, verfasst worden.

Zoe runzelte die Stirn, als sie den ersten dieser Berichte

Zoe stand auf, um sich eine Tiefkühlpizza warm zu machen, und ihre Gedanken wanderten unwillkürlich zu ihrer Professorin. Charlotte Arlon würde heute Abend bestimmt nicht vor einem Fertiggericht sitzen. Zoe stellte sich vor, wie sie im Kreis ihrer Familie am liebevoll gedeckten Esstisch saß und ihren Mann über die Köpfe ihrer Kinder hinweg verführerisch anlächelte. Schnell schüttelte sie diesen Gedanken ab und versuchte, sich wieder auf Gerald und ihre Recherche zu konzentrieren. Und wie sie es auch drehte und wendete, sie kam immer wieder zu derselben Erkenntnis: Sie musste nach Wooverlough Court fahren, um weitere Informationen zu bekommen. Aber wenn sie nur daran dachte, stieg wieder dieses beklemmende Gefühl in ihr auf, vor dem sie damals geflohen war.