Fleetwood und Wooverlough Court bei Liverpool, November 1839
Inspector Thomas Young betrat das Büro des Senior Police Officers und konnte nicht umhin, sich über die eher spartanische Einrichtung zu wundern. Whittey war ein Mann, der weit über die Grenzen Liverpools hinaus bekannt war, und Thomas hatte sogar in seinem Büro in London einiges über ihn gehört.
»Inspector«, der Senior Police Officer kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen und deutete dann auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand, »bitte, nehmen Sie Platz.«
Thomas lächelte verbindlich und ließ sich auf den unbequemen Holzstuhl fallen.
»Ich danke Ihnen, dass Sie so schnell herkommen konnten«, sagte Whittey und griff nach einer großen Papierrolle, die an seinem Schreibtisch lehnte. »Im Grunde genommen ist der Fall schon aufgeklärt. Aber da es sich um die einflussreichste Familie hier in der Gegend handelt, können Sie sicher begreifen, dass ich London einschalten musste.«
»Natürlich«, antwortete Thomas. »Die Metropolitan Police steht Ihnen zur Verfügung. Ich habe meine beiden besten Constables mitgebracht.«
»Die werden Sie nicht brauchen.« Whittey rollte das Papier auf seinem Schreibtisch aus, und Thomas erkannte, dass es sich um eine Landkarte handelte. »An dem Mordfall ist nicht viel Geheimnisvolles.«
Whittey deutete auf die Karte. »Die Leiche wurde gestern Morgen im Hafenbecken George’s Basin gefunden. Es muss auch dort passiert sein, meint der Doktor. Raubüberfall. Ganz klare Sache. Aber wie gesagt, das Opfer ist Gerald Farwell, Priester und Bruder des Earl of Wooverlough. Der Earl ist aufgebracht, zu Recht, versteht sich. Wo kommen wir denn da hin, wenn selbst Mitglieder des Adels auf unseren Straßen nicht mehr sicher sind?«
Thomas unterdrückte den Einwand, dass der vermeintliche Räuber den Adelsstand des Opfers vielleicht nicht erkannt hatte. Stattdessen fragte er: »Weiß man, was Pfarrer Farwell zum Hafenbecken geführt hat?«
»Natürlich nicht, aber was soll uns das auch nützen? Schließlich war er nur ein zufälliges Opfer. Die Sache ist die«, Whittey beugte sich vor, »ich möchte nicht, dass die Zeitungen darüber berichten. Wir haben ein kleines …«, er schwieg einen Moment und schien nach den richtigen Worten zu suchen, »Problem mit dem Gehorsam bei der Polizei. Sehen Sie, unsere Truppe ist erst vor drei Jahren eingerichtet worden, und es ist schwer, die richtigen Männer zu finden.«
»Wie beinahe überall im Land«, warf Thomas ein.
Whittey nickte. »Meine Absicht ist es, ein seriöses Bild unserer Ordnungshüter für die Öffentlichkeit zu zeichnen, denn selbstverständlich lassen die Fehler, die ein paar Taugenichtse in unserer Truppe gemacht haben, an der Autorität meiner Männer zweifeln. Und das ist zurzeit äußerst hinderlich. Schließlich befinden sich unsere Truppen noch im Aufbau.«
»Sie haben drei Abteilungen, richtig?«, fragte Thomas. »Die Tagespolizei, die Nachtwache und die Hafenpolizei.«
Der Senior Officer nickte. »Dieser Mord ist natürlich Angelegenheit der Hafenpolizei.«
»Aber die ist nachts nicht im Einsatz, oder?«, erkundigte sich Thomas.
»Richtig«, bestätigte Whittey. »Immerhin stehen in der ganzen Stadt Wachhäuschen, in denen die Nachtwache Dienst tut.«
»Und ich nehme an, diese Wache hat nichts Ungewöhnliches bemerkt in der Nacht, als Pfarrer Farwell umgekommen ist?«
»So ist es.« Whittey stand auf. »Der Doktor sagt, Farwell wurde erschlagen und anschließend ins Wasser geworfen. Und nun entschuldigen Sie mich. Ich habe leider schon den nächsten Termin. Ich lasse Sie und Ihre Constables zur Hafenpolizei bringen, die kann Ihnen alle weiteren Fragen beantworten. Aber glauben Sie mir, es ist Zeitverschwendung, sich länger mit der Sache zu befassen. Ich erwarte Ihren Bericht spätestens morgen und werde ihn an den Earl of Wooverlough weiterleiten. Dann dürften alle zufrieden sein.«
Wenig später betrat Thomas mit seinen Constables die neu eingerichtete Polizeistation in der Harbour Street, die von einem hohen schmiedeeisernen Zaun umgeben war. Das Erste, was er wahrnahm, war der durchdringende Gestank nach Alkohol und Körperausdünstungen und dazu das laute Schnarchen des Diensthabenden, der hinter einer Art Tresen an einem Tisch saß. Thomas sah sich zu seinen beiden Kollegen um. Twicklehurst verzog das Gesicht, während Green sich laut räusperte. Als der schlafende Polizist jedoch nicht reagierte, machte Green sich auf den Weg um den Tresen herum und fegte mit einer ausladenden Handbewegung die Beine des Mannes hinunter, die auf dem wackligen Tisch geruht hatten. Der Polizist fiel polternd zu Boden. Er fluchte, während er langsam zu sich kam. Es dauerte eine Weile, bis er seine Gliedmaßen so weit sortiert hatte, dass er sich schwankend aufrichten konnte. Schwerfällig sah er sich um.
Thomas seufzte. Und der sollte für Ordnung auf den Straßen sorgen!
Ohne zu warten, bis der Mann endlich aufnahmefähig war, begann er: »Guten Tag. Ich bin Inspector Thomas Young von der Metropolitan Police in London und das sind meine Constables Twicklehurst und Green. Wir sind vom Senior Police Officer Whittey gerufen worden, um den Mord an Gerald Farwell aufzuklären.«
Der Diensthabende rieb sich den Kopf und schien immer noch Mühe zu haben, seine Gedanken zu ordnen. Dann spuckte er aus und griff nach der Schnapsflasche, die auf dem Tisch stand. Nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte, schien er sich langsam zu orientieren. »Farwell? Ach so, der Pfaffe.«
Thomas nickte Twicklehurst zu, seinem Mann fürs Grobe.
Der Constable gab dem Kerl zwei schallende Ohrfeigen. »Reiß dich zusammen. Der Inspector hat wenig Zeit und das Opfer ein Minimum an Respekt verdient.«
»Allmächtiger!« Der Polizist fasste sich an die schmerzende Wange und sah die drei Männer vor sich nun neugierig an. »Was wollen Sie?«
Thomas seufzte ungeduldig. »Sie haben eine Leiche aus dem George’s Basin gefischt?«
Der Polizist kratzte sich nachdenklich im Schritt, dann hellte sich seine Miene auf. »Ja, den Pfaffen. Gestern oder vorgestern war das.« Er wandte sich um und schrie in Richtung des langen Flurs, der sich hinter ihm in der Tiefe des Gebäudes verlor: »Fred!«
Nach einiger Zeit tauchten zwei weitere Polizisten auf. Ihre Uniformen waren stark zerknittert, das Hemd des einen hing aus der Hose, von Uniformjacken war nichts zu sehen. Sie schienen jedoch einigermaßen nüchtern zu sein, was ihr sicherer Gang und die wachsamen Augen erkennen ließen.
Der erste Polizist fragte: »Ihr wart doch gestern da, als der Pfaffe aus dem Wasser gezogen wurde, oder?«
»Ja«, murmelte der Kleinere von ihnen. »Wer will das wissen?«
»Metropolitan Police. Wir sind vom Senior Police Officer hergerufen worden, um den Mord an Gerald Farwell zu untersuchen. Wer ist hier der Verantwortliche?« Thomas war klar, dass sie so nicht weit kommen würden.
»Das bin ich.« Der Mann, dem das Hemd aus der Hose hing, trat vor. »Ich bin Constable Drew, Nummer 813 und Schichtleiter. Ich war am George’s Basin, als die Fischer den Pfaffen rausgezogen haben.«
»Bringen Sie uns bitte zu der Stelle, wo er gefunden wurde. Danach möchte ich den Leichnam sehen«, befahl Thomas.
»Jetzt?«, fragte Drew entsetzt. »Es ist gleich Mittag.«
»Stellt das ein Problem für Sie dar?«, erkundigte sich Thomas, dem der Geduldsfaden bald zu reißen drohte.
»Wir machen eigentlich gleich Pause«, mischte sich der erste Mann wieder ein, der gerade aus dem Tiefschlaf erwacht war.
»Dann bleibt Ihnen wohl nichts anderes übrig, als die Pause zu verschieben«, stellte Thomas nüchtern fest. »Wie weit ist es von hier aus zum George’s Basin?«
»Das ist ein ordentliches Stück«, ergriff nun der Kleinste wieder das Wort. »Sie sollten eine Droschke nehmen. Ist ganz einfach zu finden.«
Thomas schüttelte den Kopf. »Sie werden uns begleiten. Sie beide, die gestern die Leiche in Augenschein genommen haben. Also, können wir?«
Die Männer warfen sich einen Blick zu, verschwanden dann aber ohne einen weiteren Kommentar, um ihre Röcke zu holen. Thomas atmete tief durch. Er wusste, dass die Polizeibehörden auf dem Land alle noch recht neu waren, und kaum eine von ihnen funktionierte zuverlässig. Die staatliche Polizei war erst vor wenigen Jahren eingeführt worden, bis dahin hatten die Bürger private Wachmänner engagiert, wenn sie ein Verbrechen aufklären wollten. Diese Wachmänner waren fast alle korrupt, versoffen und unfähig gewesen. Viele von ihnen arbeiteten jetzt bei der Polizei. Dabei war der Polizeidienst alles andere als attraktiv – zwölf Stunden täglich, sieben Tage die Woche. Die meisten sahen ihre Arbeit als eine Notlösung an, die sie nur so lange ausführen wollten, bis sie etwas Besseres gefunden hatten. Obwohl Thomas das alles wusste, war er immer wieder erstaunt über die Unzulänglichkeit, die er überall vorfand.
Drew hatte inzwischen seinen Rock übergezogen und wirkte nun beinahe ordentlich.
»Das war ein Raubüberfall«, erklärte er. »Es ist eigentlich nicht nötig, dass Sie sich den Ort anschauen, wo es passiert ist. Hätte auch jeder andere sein können. Das kommt hier immer wieder vor.«
»Nicht nur in Liverpool gibt es Raubüberfälle«, erwiderte Thomas, während sie das Gebäude verließen. »Aber wenn ich einen Bericht über den Mord abliefern soll, muss ich mir selbst ein Bild machen.«
Während sie hinter den Hafenpolizisten her durch die Straßen liefen, verdrängte Thomas seinen Ärger über die unfähigen Männer und konzentrierte sich auf die Umgebung. Sie riefen eine Droschke und Drews Kollege nahm vorn beim Kutscher Platz, während sich die anderen vier Männer in das enge Gefährt zwängten.
Thomas sah aus dem Fenster. Er wusste, dass er ein Verbrechen erst dann aufklären konnte, wenn er das Umfeld des Tatorts genau verstanden hatte. Liverpool war jedoch schwer zu begreifen, das hatte er schon bei der Anreise bemerkt. Thomas war noch nie hier gewesen. Jetzt beobachtete er fasziniert das bunte Treiben, das überall auf den Straßen herrschte. Liverpool war eine Durchreisestadt. Hier lebten die unterschiedlichsten Menschen, viele nur wenige Tage oder Wochen lang, bis sie an Bord eines Schiffes gehen konnten, das sie nach Amerika, ins verheißene Land, brachte.
Thomas zuckte zusammen, als eine Möwe auf die Droschke zuflog und erst im letzten Moment auswich. Sie waren bereits in der Nähe des George’s Basin, und neben einigen Seeleuten, die unschwer an ihren blauen Uniformen zu erkennen waren, gingen die vielfältigsten Männer, Frauen und Kinder. Thomas hörte sie in verschiedenen Sprachen und Dialekten sprechen. In ihren Augen lagen Hoffnung und Angst, Vorfreude und Abschiedsschmerz. Er konnte ihre Gefühle durchaus verstehen. Alles hinter sich zu lassen, in einem neuen Land noch einmal ganz von vorn anzufangen, hatte etwas Wehmütiges und Verheißungsvolles zugleich. Die meisten von ihnen schienen nicht viel Geld zu haben, ihre Kleidung war zerlumpt, das Gepäck schäbig. Er wünschte ihnen, dass sie in ihrer neuen Heimat das fanden, was sie hier vergeblich gesucht hatten. Auch Thomas selbst hatte schon an manch einsamem Abend darüber nachgedacht, sich eine Fahrkarte nach Amerika zu kaufen. Aber im Grunde war er doch zufrieden mit dem, was er erreicht hatte, auch wenn seine Arbeit nicht leicht war und viel zu schlecht bezahlt wurde. Nur der Einsamkeit konnte er nicht entkommen, obgleich er immerhin ein paar wenige Freunde hatte. Er schüttelte sich unwillkürlich, um den Gedanken an Anni gar nicht erst aufkommen zu lassen. Und doch verging kein Tag, an dem er nicht an seine Frau und das kleine Mädchen denken musste. Der Tag seiner Geburt hatte der Anfang eines glücklichen gemeinsamen Lebens sein sollen, stattdessen war er zum schwärzesten Tag in seinem Leben geworden.
»Hier ist es, Sir«, sagte Drew.
Die Kutsche hielt an. Thomas kletterte hinaus und sah sich um.
Auf dem breiten Gehweg herrschte emsiges Treiben. Fässer wurden polternd hin und her gerollt, Kisten gestapelt, und Menschen eilten aufgeregt umher. Familien saßen auf ihren Koffern und warteten darauf, an Bord eines Schiffes gehen zu dürfen. Das Hafenbecken war voller kleiner Boote, deren Masten hoch aufragten. Weiter draußen lagen die großen Dampfer und Segelschiffe vor Anker. Möwen schrien, Karren ratterten über das Kopfsteinpflaster und laute Stimmen ertönten aus allen Richtungen. Es roch nach Fisch und dem Mist des Viehs, das durch die Straßen getrieben wurde.
»Muss hier passiert sein, wenn Sie mich fragen«, sagte Drew, als sie das George’s Dock erreicht hatten. »Da unten hat er sich in einem Haken verfangen.«
»Hier?« Twicklehurst sah in die Tiefe, dann richtete er sich auf und betrachtete die Menschenmenge um ihn herum. »Ist es nicht ein bisschen zu belebt, um hier einen Mann unbemerkt erschlagen zu können und dann ins Wasser zu werfen?«
»Nachts nicht.« Drew schüttelte den Kopf. »Zwischen elf und drei Uhr morgens ist es im Hafen ziemlich ruhig.«
Thomas versuchte, sich den Platz ohne das Menschengewimmel vorzustellen. »In der Nacht scheint dieser Ort gut geeignet zu sein, wenn man jemanden umbringen will.« Er deutete auf die dunklen Ecken, die Toreinfahrten und Fischerboote, die viele Möglichkeiten boten, sich zu verstecken.
»Stimmt«, pflichtete Green ihm bei. »Trotzdem ist es riskant. Auch nachts wird hier immer wieder jemand vorbeikommen.«
»Er soll erschlagen worden sein, bevor er ins Wasser fiel?«, fragte Thomas nach.
Drew nickte.
»Wurde das Tatwerkzeug gefunden?«
Die beiden Polizisten sahen sich ratlos an.
»Haben Sie überhaupt danach gesucht?«
Twicklehurst lief vor Wut rot an, und Thomas war nah daran, die Geduld zu verlieren.
»Ähm, also wir haben nicht gedacht, dass das wichtig ist.« Drew sah hilflos zu seinem Kollegen.
Der hob nun die Schultern. »Er war doch im Wasser, woher sollten wir wissen, dass er erschlagen wurde, bevor er da reinfiel? Das hat der Leichenwäscher erst hinterher gesagt.«
Twicklehurst ging einen Schritt auf die beiden Männer zu, aber Thomas hielt ihn am Ärmel zurück.
»Das hilft uns nicht weiter«, sagte er zu seinem Constable. Er musterte die beiden Polizisten. »Sie schauen sich jetzt nach dem möglichen Tatwerkzeug um, ist das klar?«
Drew zog die Augenbrauen zusammen. »Nichts ist klar. Hier bestimme immer noch ich, wie es läuft, und …«
Thomas nickte Twicklehurst zu, der Drew einen Kinnhaken verpasste. Green kümmerte sich derweil um den anderen Polizisten.
Drew ging sofort zu Boden. Thomas beugte sich über ihn. »Verdammt noch mal, Sie sollen in dieser Stadt für Ordnung sorgen. Aber wie soll das gehen, wenn Sie dermaßen nachlässig arbeiten? Sie folgen ab sofort meinen Anweisungen. Wir brauchen mehr Männer, die sollen den Hafen auf den Kopf stellen und sich nach der Mordwaffe umsehen, auch wenn ich ziemlich sicher bin, dass sie im Wasser liegt.«
»Männer? Ich hab keine Männer. Miller, Franklin und ich, das ist alles«, nuschelte Drew und tastete vorsichtig nach seinem schmerzenden Kinn. »Aber um drei Uhr kommt die nächste Schicht. Vielleicht können die …?«
Thomas seufzte. Mit diesen Faulpelzen würde er nicht viel anfangen können.
»Bringen Sie uns jetzt ins Leichenschauhaus. Bevor wir das Opfer und seine Verletzungen nicht gesehen haben, können wir hier nicht viel ausrichten«, sagte er zu Drew.
Der Polizist saß noch immer auf dem Boden und schaute Thomas erschrocken an. »Jetzt? Wir haben jetzt Pause.«
»Die Zeit der Pausen ist vorbei, meine Herren.« Thomas machte eine schnelle Handbewegung, und Green und Twicklehurst zogen Drew unsanft auf die Beine. »Ich nehme an, wir brauchen eine Droschke, um zur Leichenhalle zu gelangen?«
Drew sah ihn missmutig an. »Nee, ist nur drei Straßen weiter.«
Schweigend machten sie sich auf den Weg ins Leichenschauhaus, ein langgestrecktes Gebäude in der Nähe des Hafens. Der Geruch von scharfen Reinigungsmitteln, Kräutern und Verwesung stieg ihnen in die Nase, als sie das Haus betraten. Der Schein des Gaslichts zuckte über die Wände des langen Flurs, von dem mehrere Räume abgingen. Das Mordopfer lag in einem der hinteren Zimmer, das sie wenig später betraten.
»Wo ist der Doktor?«, fragte Thomas, während er an den hohen Tisch in der Mitte trat, auf dem das Opfer lag.
»Der ist nicht hier«, antwortete Drew. »Hat eine Praxis zu führen und immer wenig Zeit. Ich hole Jones her, den Leichenwäscher.«
Thomas verdrehte die Augen und zog das fleckige Laken von dem Leichnam. Der Mann, der vor ihm lag, war Gerald Farwell, wie er wusste, der Bruder des Earl of Wooverlough und Pfarrer in Fleetwood, einem kleinen Dorf außerhalb von Liverpool. Er musste in seinen mittleren Jahren gewesen sein. Auch wenn Thomas das von seinem Gesicht nicht ablesen konnte. Er war übel zugerichtet worden.
»Da muss jemand eine ordentliche Wut auf den Pfarrer gehabt haben«, stellte er fest und betrachtete dessen vollkommen zertrümmerte Stirn. Thomas verstummte, als sein Blick über den Körper wanderte.
»Was sind das für Striemen auf dem Oberkörper des Mannes?«
Er sah den Polizisten Miller fragend an, der nur die Schultern zuckte.
Thomas seufzte. So viel Ignoranz und Unfähigkeit waren ihm selten begegnet.
Green und Twicklehurst traten zu ihrem Vorgesetzten.
»Manche der Narben scheinen schon alt zu sein, andere sind noch frisch«, sagte Green und nickte Twicklehurst zu. »Hilf mir mal, ihn umzudrehen.«
Die beiden Männer wälzten den Körper auf den Bauch und verzogen das Gesicht, als sie den von Narben, Striemen und offenen Wunden überzogenen Rücken sahen.
»Was ist dem denn zugestoßen?« Thomas beugte sich über die Leiche.
Green sah ihn fragend an. »Seltsam. Auch manche Striemen sind anscheinend schon Jahre alt, andere dagegen noch recht neu.«
Sie wurden unterbrochen, als Drew mit einem großen hageren Mann in das Zimmer zurückkehrte.
»Inspector?« Er ging auf die drei Männer zu, mit dem gebeugten Gang, der großen Menschen oft anhaftete. »Doktor White ist leider nicht verfügbar.«
»Das habe ich schon gehört. Mr Jones, nehme ich an?«
Der Mann nickte. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel sagen. Für mich sieht es aus, als wäre er mit einem Schlag auf die Stirn niedergestreckt worden, und danach wurde noch mehrmals mit großer Wucht auf ihn eingeprügelt.« Er deutete auf den schwer verletzten Hinterkopf.
»Sieht nach einem großen Gegenstand aus, vermutlich ein Stein oder etwas Ähnliches«, stellte Thomas fest.
»Genau. An der Stirn sehen Sie mehrere Abdrücke, vielleicht von einem Ziegel. Daran ist er jedoch nicht gestorben. Es waren wohl eher die Schläge auf den Hinterkopf, die ihm später zugefügt wurden«, sagte der Leichenwäscher. »Jemand hat ihm den Schädel regelrecht zu Brei geschlagen. Mal was anderes. Nach den ganzen Würgemorden an den Frauen.«
»Welche Würgemorde?« Thomas sah überrascht auf.
»Na die Dirnen, die in den letzten Monaten erwürgt wurden.« Jones schüttelte den Kopf. »Dieses Jahr waren es schon sechs, letztes Jahr sieben.«
»Wie bitte?« Thomas’ Blick wanderte zu Drew.
»Es waren doch nur leichte Mädchen«, stellte dieser klar.
»Und? Was wissen Sie darüber?« Der Inspector konnte sich nur mühsam beherrschen. Musste man dem Kerl denn alles aus der Nase ziehen?
»Was gibt’s da schon groß zu wissen? Dirnen, die Männer mit zu sich nach Hause nehmen. Was denken die denn? Damit muss man rechnen, wenn man so ein Leben führt«, sagte Drew und streckte die Arme in Richtung Decke.
Thomas atmete tief durch. »Jetzt sagen Sie mir bitte nicht, dass Sie in diesen Mordfällen nichts unternommen haben?«
»Was hätten wir denn tun sollen?«, ergriff nun Miller das Wort. »Diese Frauen wurden erwürgt und an Händen und Füßen festgenagelt.«
»Was?« Green trat einen Schritt auf Miller zu. »Festgenagelt?«
Der sah den Constable nur stumm an.
»Mit großen Eisennägeln hat man sie auf die Dielen ihrer Stuben oder an ihre Betten genagelt«, übernahm der Leichenwäscher die Erklärung.
»Sie wurden also gekreuzigt?«, fragte Twicklehurst nach.
Jones schüttelte den Kopf. »Sie starben nicht durch die Nägel. Sie waren schon vorher tot. Bei einer Kreuzigung sterben die Opfer an Organversagen, wenn sie lange Zeit am Kreuz hängen. Hier schien es mehr eine symbolische Bedeutung zu haben.«
Thomas nickte nachdenklich.
»Was waren das für Frauen?«, fragte Twicklehurst. Er hatte ein kleines Buch aus der Tasche genommen, in das er sich jetzt mit einer Bleimine Notizen machte. »Alles leichte Mädchen?«
»Soweit ich weiß, ja«, antwortete Jones.
»Nee, eine von ihnen war Näherin, und ein Küchenmädchen war auch dabei«, mischte sich Drew in die Unterhaltung ein.
»Aber das hat doch alles nichts mit dem Pfarrer zu tun, oder?«, fragte Jones und sah Thomas an.
Der hob die Schultern. »Wohl nicht, nur haben auch diese Frauen ein Recht darauf, dass man das Verbrechen aufklärt, das zu ihrem Tod geführt hat. Ich bin sprachlos, dass in dieser Hinsicht bislang nichts unternommen wurde.«
Immerhin hatte Drew den Anstand, beschämt zu Boden zu blicken, doch Thomas war überzeugt davon, dass er das eher tat, um nicht wieder von den Constables verprügelt zu werden.
»Jones, hatte Mr Farwell irgendetwas bei sich?«, wandte er sich nun an den Leichenwäscher.
»Oh ja, Sir.« Jones verließ den Raum und kam wenig später mit einem Korb zurück, in dem einige Gegenstände lagen. »Hier, das haben wir in den Taschen des Toten gefunden.«
Thomas betrachtete die Sachen, es waren eine goldene Taschenuhr, ein Gebetbuch und ein Schlüsselbund. Der Inspector runzelte die Stirn.
»Wie kommen Sie darauf, dass es sich um einen Raubmord handelte?«, fragte er Drew und Miller.
»Na, der Mann hatte kein Geld in den Taschen.« Drew hob die Augenbrauen. »Nicht mal eine Münze.«
»Und die Taschenuhr?« Thomas schnaubte. »Wie erklären Sie sich, dass der Räuber ein so wertvolles Stück nicht an sich genommen hat, sondern mitsamt dem Leichnam ins Meer geworfen hat?«
»Er hat die Uhr nicht gesehen, nehme ich an«, erwiderte Drew.
Thomas verzog unzufrieden das Gesicht. Er war sicher gewesen, dass sie den Fall schnell abschließen würden, da er ebenfalls vermutet hatte, dass es sich um einen Raubmord handelte. Aber die Indizien passten nicht zusammen.
Er hob den schweren Schlüsselbund hoch. »Und wozu die vielen Schlüssel? Farwell hatte bestimmt genügend Angestellte, die hätten ihm die Tür doch nachts auflassen können.«
»Vielleicht wird das Pfarrhaus abends abgeschlossen und er wollte seine Angestellten nicht wecken«, schlug Green vor.
»Das ist eine mögliche Erklärung«, sagte Thomas, während er nachdenklich den dicken Schlüsselbund betrachtete. »Wann ist es wohl geschehen?«
»Es muss tief in der Nacht passiert sein, denn davor hat seine Haushälterin ihm noch das Abendessen serviert.«
»Wusste sie, dass er ausgehen wollte?«, fragte Thomas.
Jones zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht mit ihr gesprochen, das hat mir nur der Doktor erzählt. Ich denke, es muss irgendwann zwischen der Sperrstunde und drei Uhr morgens passiert sein, wenn die Fischer mit ihren Booten hinausfahren.«
»Also gut.« Thomas sah seine Constables an, dann wandte er sich an den kleineren der beiden Polizisten. »Miller, Sie gehen mit meinen Männern noch einmal zum Hafen und in die dahinterliegenden Arbeitersiedlungen und hören sich um. Vielleicht wurde Farwell dort irgendwo gesehen, vielleicht sogar an diesem Abend. Und ich will alles über die toten Dirnen wissen. Beschaffen Sie mir so viele Informationen wie möglich.«
Green und Twicklehurst nickten. Fred Miller sah missmutig zu seinem Vorgesetzten. Aber Drew schien nur erleichtert zu sein, dass Thomas nicht ihn angesprochen hatte.
»Und Sie, Drew«, sagte der Inspector aus London da aber schon zu dem Polizisten, der auf dem Weg zum Ausgang war. »Sie rufen uns eine Droschke und begleiten mich nach Fleetwood. Ich möchte mich mit Gerald Farwells Haushälterin und dem Earl of Wooverlough unterhalten.«
Von Liverpool aus brauchten sie mit der Kutsche eine gute halbe Stunde. Das Pfarrhaus in Fleetwood lag direkt neben der Kirche. Es war ein imposanter dreistöckiger Backsteinbau, über dessen Eingangstür sich aufwändige Fresken befanden. Dass diese Gemeinde einem reichen Adelsgeschlecht gehörte, war nicht zu übersehen. Drew zog an der Klingel neben der Haustür, und wenig später öffnete eine schwarzgekleidete Frau die Tür. Thomas stellte sich vor und die Männer wurden in die Eingangshalle geführt.
»Ich bin Mrs Slotsky, die Haushälterin des Pfarrers«, sagte sie und machte eine weit greifende Handbewegung. »Da ich nicht weiß, wann ein Nachfolger gefunden sein wird, habe ich vorerst alle Möbel hier abdecken lassen.«
Thomas fiel auf, wie nüchtern diese Frau wirkte, und er forschte in ihrem Gesicht nach Anzeichen, ob der Tod ihres Arbeitgebers ihr wohl nahegegangen war, konnte aber nichts dergleichen finden. Mrs Slotsky schien um die fünfzig Jahre alt zu sein. Alles an ihr wirkte streng, die zum Knoten gebundenen schwarzen Haare, die schmalen Lippen, das altmodische schwarze Kleid.
»Kennen Sie diesen Schlüsselbund?«, fragte Thomas und hielt ihr den Bund entgegen, den er aus dem Leichenschauhaus mitgenommen hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht unser Hausschlüssel, soweit ich sehen kann. Der Pfarrer hatte seinen oben im Schreibtisch verwahrt. Aber die Seitentür ist immer offen, er brauchte also keinen Schlüssel, wenn er ausging.«
Das war sonderbar. »Könnte es der Schlüssel der Kirche sein?«
Mrs Slotsky hob die Schultern. »Das weiß ich nicht, aber eigentlich ist die nie verschlossen. Vielleicht sind es die Schlüssel der Sakristei?«
Thomas nickte und nahm sich vor, das zu überprüfen.
»Sie haben ausgesagt, Pfarrer Farwell habe vorgestern Abend ganz normal sein Dinner eingenommen?« Er sah die Frau prüfend an.
Sie nickte und wartete, bis er weitersprach.
»War er allein beim Essen?«
»Pfarrer Farwell hatte selten Gäste zum Dinner.«
»Hat er Ihnen gesagt, dass er noch ausgehen würde? Hat er vielleicht erwähnt, wohin er wollte?«, fragte Thomas und schlug sein Notizbuch auf.
Mrs Slotsky schüttelte den Kopf. »Ich war sicher, dass er die ganze Nacht zu Hause gewesen war. Erst als er nicht zum Frühstück erschien, habe ich nachgesehen und festgestellt, dass sein Bett nicht benutzt war.«
»Wohnen Sie hier im Haus?«
Wieder nickte die Haushälterin.
»Und normalerweise haben Sie bemerkt, wenn er das Haus verlassen hat?« Thomas machte sich eine Notiz in seinem Buch.
»Oh ja, Sir.« Sie schaute ihn an. »Meine Kammer liegt unter der Treppe in der Eingangshalle. Ich hätte seine Schritte hören müssen.«
»Gibt es eine weitere Treppe im Pfarrhaus?« Thomas sah sich in der Halle um. Das Haus war so groß, dass es mindestens noch eine Treppe hier geben musste.
»Ja, die Hintertreppe«, bestätigte Mrs Slotsky dann auch Thomas’ Vermutung. »Aber die hat der Pfarrer nie benutzt. Die ist nur für das Personal.«
»Wie viele Angestellte arbeiten hier?«, erkundigte sich der Inspector.
»Zwei Zimmermädchen, die Köchin und ich. Aber die anderen sind jetzt alle im Herrenhaus beim Earl of Wooverlough, hier brauchen wir ja momentan niemanden mehr, bevor kein neuer Pfarrer eingezogen ist.«
Thomas steckte sein Notizbuch wieder in die Tasche. »Wir würden gern einen Blick in das Arbeitszimmer Ihres verstorbenen Dienstherrn werfen«, sagte er und folgte der Frau die Treppe hinauf. »Hatten Sie in den letzten Tagen das Gefühl, dass ihn etwas bedrückt hat oder dass er vor irgendjemandem Angst hatte?«
Mrs Slotsky war vor einer Tür stehen geblieben. »Nein. Aber selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätte er es mir niemals gesagt. Wir standen uns nicht besonders nah. Er war ein schweigsamer Mensch und hat viel gebetet.«
»War Gerald Farwell verheiratet?«, fragte Thomas.
»Um Himmels willen, nein!« Mrs Slotsky sah den Inspector beinahe erschrocken an.
»Aber er war kein Katholik, oder?«, fragte er weiter.
»Gott bewahre!« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Hand ruhte noch immer auf dem Türknauf. »Selbstverständlich nicht. Die Earls of Wooverlough waren immer Königstreue.«
»Als Pfarrer der anglikanischen Kirche hätte er sich doch verheiraten dürfen«, stellte Thomas fest und betrachtete die Zimmertür vor sich, die aus massivem Kirschbaumholz bestand.
»Ja, das hätte er tun können. Aber so war er nicht. Er ging voll und ganz in seiner Rolle als Pfarrer auf. Es gab keine Frauen in seinem Leben.«
Mrs Slotsky betrat den abgedunkelten Raum, während Thomas und Drew in der Tür stehen blieben und warteten, bis die Haushälterin die Fensterläden aufgestoßen hatte.
Thomas zog verärgert die Augenbrauen zusammen, als das Licht in das große Zimmer fiel. »Sie haben ja bereits alles abgedeckt!«
Die Frau nickte. »Das sagte ich Ihnen doch bereits. Ich mag keine unerledigten Sachen.«
»Das war übereilt von Ihnen. Wir müssen uns erst in Ruhe umsehen, bevor Sie etwas verändern dürfen. Haben Sie Dokumente entfernt oder irgendetwas auf dem Schreibtisch aufgeräumt?«
Mrs Slotsky schüttelte den Kopf. »Pfarrer Farwell ist …«, sie sah betreten zu Boden, »er war ein sehr ordentlicher Mensch. Es gab nichts, was ich hätte wegräumen können.«
»Na schön.« Er musste freundlich zu der Haushälterin sein, wenn er Informationen von ihr erhalten wollte. »Ich danke Ihnen, jetzt kommen wir allein zurecht.«
Nachdem Mrs Slotsky gegangen war, trat Thomas an den Schreibtisch. Vorsichtig hob er das feine Tuch an, das über dem Möbelstück ausgebreitet war. Ihm fiel das Laken aus dem Leichenschauhaus ein, mit dem die Leiche des Mannes abgedeckt gewesen war, vor dessen Schreibtisch er jetzt stand. Dieses Tuch hier war um einiges sauberer als das andere.
Der Schreibtisch barg keinerlei Überraschungen, genau wie die Haushälterin es vorhergesagt hatte. Der Pfarrer hatte Ordnung gehalten. Es lagen verschiedene Mappen darin, in denen die Texte der Predigten aufbewahrt waren. Sie waren mit sauberer Schrift geschrieben worden und nach Themen sortiert. Für seine Rechnungen hatte der Pfarrer ebenfalls mehrere Ordner angelegt, und auch für seine Korrespondenz.
Thomas betrachtete die Briefe und Lieferscheine.
»Seltsam«, murmelte er.
»Was meinen Sie?«, fragte Drew, der sich in einen Sessel neben dem Kamin hatte fallen lassen.
Thomas ignorierte den trägen Polizisten. Wenn Drew dort saß, konnte er ihm wenigstens nicht im Wege stehen. Er hatte ihn hauptsächlich mitgenommen, weil er seinem Müßiggang ein Ende setzen und nicht einsehen wollte, dass er die ganze Arbeit der hiesigen Behörden allein erledigen sollte. Große Hilfe versprach Thomas sich jedoch nicht von Drew.
»Es gibt keinerlei private Korrespondenz«, erwiderte Thomas, während er noch einmal durch den Stapel Briefe blätterte. »Merkwürdig.«
Er ging zu dem hohen Schrank, der zwischen den beiden Fenstern stand. Nachdem er auch hier das Tuch entfernt hatte, öffnete er ihn. Darin befanden sich neben Bibeln und goldenen Kelchen einige Kreuze und andere liturgische Gegenstände. Er sah sich noch eine Weile in dem Zimmer um, bis er ein lautes Schnarchen vernahm. Drew war eingeschlafen!
»Officer Drew!«, rief er tadelnd und wartete, bis der Polizist seine Augen wieder geöffnet hatte. »Schaffen Sie es denn nicht, ein paar Stunden am Stück wach zu bleiben? Kommen Sie, wir werden jetzt dem Earl einen Besuch abstatten. Vielleicht erfahren wir von ihm mehr.«
Als sie die Treppe hinunterstiegen, wartete im Erdgeschoss Mrs Slotsky bereits auf sie.
Thomas betrachtete die Frau forschend.
»War nach dem Tod des Pfarrers außer Ihnen sonst noch jemand hier?«, fragte er die Haushälterin.
Aber Mrs Slotsky schüttelte nur den Kopf.
»Nein, Sir. Nur der Arzt, um mir mitzuteilen, dass man den Pfarrer gefunden hatte. Er war aber lediglich in der Eingangshalle und ist dann gleich wieder weitergefahren.«
Der Inspector seufzte. »Und gibt es noch weitere Korrespondenz des Pfarrers irgendwo im Haus? Vielleicht einen zweiten Schreibtisch, noch ein anderes Arbeitszimmer?«
Sie schüttelte erneut den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«
Thomas befahl ihr, nichts mehr anzurühren und sich vom Zimmer des Pfarrers fernzuhalten. Er würde wiederkommen und sich gründlicher umsehen müssen.
»Ich werde heute Nachmittag das Haus verlassen, bis ich hier wieder gebraucht werde«, informierte ihn die Frau. »So lange werde ich zu meiner Schwester ziehen.«
Vom Pfarrhaus aus war es nur eine kurze Kutschfahrt bis nach Wooverlough Court. Das Anwesen lag am Ende einer langen Auffahrt, die einige Kilometer durch einen Park führte. Es war eines der ältesten englischen Landhäuser, dessen früheste Teile aus dem zwölften Jahrhundert stammten. Thomas bewunderte die hohe Fassade und die vielen Sprossenfenster. Die Gärten lagen nun zwar trist und abgestorben im leichten Novemberregen, aber im Sommer boten sie sicher einen wunderschönen Anblick.
Die Kutsche hielt in einem Innenhof. Als sie vor dem Eingangsportal standen, wurde die Tür geöffnet, noch ehe sie die Klingel betätigt hatten.
»Ja bitte?«
Thomas nickte dem Butler zu. »Inspector Thomas Young von der Metropolitan Police. Wenn möglich, würde ich gern mit dem Earl of Wooverlough sprechen. Es geht um den Mord an seinem Bruder.«
Der Butler wich zur Seite und sie betraten eine kleine Eingangshalle, von der mehrere Treppen und Türen abgingen. Durch eine dieser Türen führte der Butler sie in einen großen Empfangsraum.
Thomas sah sich neugierig in dem Zimmer um. Alte Teppiche hingen an den Wänden, im Kamin lagen einige trockene Holzscheite, und daneben standen mehrere alte Stühle. Drew warf sich sofort auf den erstbesten Stuhl, während Thomas ans Fenster trat und fröstelnd hinaussah. Die Haushälterin des Pfarrers kam ihm etwas zu wenig informiert vor. Normalerweise wussten Hausangestellte doch alle möglichen Geschichten über ihre Herrschaft zu berichten. Außerdem gab es keinerlei Hinweise darauf, was der Pfarrer in seiner Freizeit getrieben haben könnte. Ja, er war in seiner Arbeit aufgegangen, aber es musste doch mehr im Leben dieses Mannes gegeben haben als nur seine Gemeinde. Thomas hatte im Pfarrhaus nicht einmal Spuren von kleinen Leidenschaften finden können, denen sich der Pfarrer von Zeit zu Zeit hingegeben hatte, weder gute Zigarren noch Portwein oder Schokolade. War Gerald Farwell derart gottesfürchtig und enthaltsam gewesen, dass er nicht einmal ein gutes Ale oder andere Köstlichkeiten genossen hatte? Oder hatte die Haushälterin vielleicht alle privaten Gegenstände des Pfarrers nach seinem Tod weggeschafft? Mrs Slotsky war ihm eigenartig unbeteiligt erschienen. War sie vielleicht in ihren Arbeitgeber verliebt gewesen? Oder sogar seine Geliebte? Hatte sie die persönlichen Briefe verschwinden lassen, weil viele davon von ihr selbst stammten? Der Inspector nahm sich vor, das Pfarrhaus so bald wie möglich noch einmal gründlich zu durchsuchen.
»Seine Lordschaft empfängt Sie jetzt.«
Thomas fuhr herum. Er hatte gar nicht bemerkt, dass der Butler in das Zimmer zurückgekehrt war. Mit einem ärgerlichen Blick auf Drew, der auf seinem Stuhl wieder fest eingeschlafen war, folgte er dem Bediensteten. Es war besser, den Polizisten hierzulassen. Beim Earl würde er nur stören und für peinliche Zwischenfälle sorgen.
Während er hinter dem Butler durch die Flure des Anwesens ging, betrachtete er die Ahnenporträts und Landschaftsgemälde an den Wänden. Er wusste, dass die Earls of Wooverlough einem sehr alten Adelsgeschlecht entstammten, und in diesem Haus war ihre ehrwürdige Geschichte allgegenwärtig. Das Herrenhaus musste im Laufe der Jahrhunderte immer wieder erweitert worden sein, was an den unterschiedlichen Baustilen zu erkennen war.
Sie stiegen mehrere Treppen hinauf und hinunter, bis sie eine große Eichentür am Ende eines Ganges erreicht hatten. Der Butler klopfte an und Thomas betrat einen großen, hellen Raum.
Als Erstes fiel sein Blick auf den Schreibtisch, der in der Mitte des Zimmers stand und hinter dem ein Mann saß, der sich, als er den Inspector bemerkte, sofort erhob. Das musste der Earl sein. Einen Moment lang war Thomas gefangen von seiner stattlichen Erscheinung. Der Mann war sicher fast einen Kopf größer als er selbst. Er hatte volles, welliges braunes Haar, einen gut gepflegten dunklen Bart, und seine Augen waren von einem tiefen Grün.
»Eure Lordschaft.« Thomas neigte leicht den Kopf.
»Bringen Sie uns Tee«, befahl der Earl of Wooverlough dem Butler, der sogleich davoneilte.
»Bitte«, sagte der Schlossherr und deutete auf einen der Stühle, die um einen runden Kartentisch auf der linken Seite des Raumes standen.
Nachdem die beiden Männer Platz genommen hatten, sagte der Earl, als hätte er selbst Thomas herbestellt: »Ich bin Ihnen sehr verbunden, dass Sie sofort hierhergekommen sind. Mit dem Pack der Liverpool Police ist einfach nichts anzufangen.«
Thomas gab dem Earl im Stillen recht, er lächelte jedoch nur unverbindlich.
»Der Mord an meinem Bruder muss umgehend aufgeklärt werden. Ich will den Verantwortlichen am Strang baumeln sehen. Mein Bruder war der gütigste, gottesfürchtigste und fleißigste Mann, den man sich vorstellen kann. Alle sind schockiert über seinen Tod. Die gesamte Gemeinde ist in Aufruhr. Wir können es noch immer nicht fassen, dass Gerald …« Er brach ab und presste die Lippen zusammen.
»Mein aufrichtiges Beileid …« Thomas sah betreten zu Boden. Er dachte an Mrs Slotsky und musste dem Earl nun insgeheim widersprechen. Es war definitiv nicht die gesamte Gemeinde, die vom Tod seines Bruders tief betroffen war. Oder die Haushälterin konnte ihre wahren Gefühle gut verbergen, was ihn wieder zur Frage des eigentlichen Verhältnisses zwischen dem Pfarrer und seiner Angestellten führte.
Der Earl hob die Hand. »Verzeihen Sie meinen Ausbruch, aber es ist so ungerecht! Mein Bruder hatte in seinem Leben keinen einzigen Feind. Er hat niemandem je etwas zuleide getan. Es ist so sinnlos, so unbegreiflich und grausam …« Er atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen.
»Eure Lordschaft, ich weiß, die Erinnerung ist sehr schmerzhaft, aber ich muss Sie bitten, mir so viel wie möglich über das Leben Ihres Bruders zu erzählen«, sagte Thomas. »Ich muss mir ein Bild von Mr Farwell machen können, um den Fall besser zu verstehen.«
Der Earl nickte. »Was möchten Sie wissen?«
»Nun, wie hat er sich zum Beispiel in seiner Freizeit beschäftigt?«, fragte Thomas. »Oder wer waren seine Freunde?«
Der Earl sah ihn beinahe tadelnd an. »Er kannte keine Freizeit. Gerald war immer für seine Gemeinde da. Er hat jede Minute des Tages ganz im Sinne Gottes verbracht. Entweder im Gebet oder mit dem Dienst am Nächsten. Er war der fleißigste Arbeiter im Weinberg des Herrn und immer in Zwiesprache mit dem Allmächtigen.«
Thomas dachte einen Augenblick nach und suchte nach den richtigen Worten, ehe er ruhig entgegnete: »Das ist sehr lobenswert. Ihr Bruder war ein frommer Mann, wie mir scheint. Wenn ich jedoch herausfinden will, wer ihm nach dem Leben getrachtet hat, muss ich mehr über ihn wissen. Ich muss hinter seine Fassade blicken. Ich muss auch seine Fehler und Schwächen kennen.«
Der Earl fuhr auf. Sein Gesicht wurde rot. »Was erlauben Sie sich? Mein Bruder hatte keine Fehler und Schwächen. Er war vollkommen.«
Der Earl verstummte, als die Tür geöffnet und der Tee serviert wurde. Erst als die Dienstboten wieder verschwunden waren, sprach er weiter. »Ich weiß, es ist schwer vorstellbar, aber an Gerald gab es nichts Schlechtes. Er war durch und durch gut.«
Thomas nickte. Niemand war ausschließlich gut, das wusste er, aber er ließ es vorerst auf sich beruhen und fragte stattdessen: »Ihr Bruder war nicht verheiratet?«
Der Earl schüttelte den Kopf und trank einen kleinen Schluck Tee. »Er hat nie eine Frau auch nur angesehen. Wenn Sie mich fragen, muss es ein Dieb gewesen sein, der ihm auflauerte. Das sagt Michael Whittey auch.«
Thomas sah den Earl an. »Es wurde eine wertvolle Taschenuhr bei Ihrem Bruder gefunden. Das lässt mich an der Theorie des Raubüberfalls zweifeln.«
Der Earl blickte von seinem Tee auf. »So? Das ist in der Tat seltsam. Davon hat Michael mir nichts berichtet.«
»Was wollte der Pfarrer wohl so spät am Abend in Liverpool am Hafen?«, wechselte Thomas das Thema.
»Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen«, gestand der Earl und nahm wieder einen Schluck des heißen Getränks. »Ich kann es mir nicht erklären. Es sei denn …« Er brach ab und schien nachzudenken.
»Ja?«
»Er muss jemandem geholfen haben. Ja, das wird es wohl gewesen sein. Deshalb ist ihm die Uhr nicht gestohlen worden. Er hatte sicher auch noch viel Geld dabei, um es den Armen zu bringen, den Hafenarbeitern oder den Hungernden in den Arbeitersiedlungen. Der Dieb hat natürlich nur das Geld genommen, denn die Uhr hätte er ja versetzen müssen und damit seine Entdeckung riskiert.« Der Earl schien überzeugt, das Rätsel gelöst zu haben.
»Kam das manchmal vor?«, fragte Thomas und griff nach dem Zucker. Während er seinen Tee süßte, fragte er: »Hat Ihr Bruder oft Spenden oder die Kollekte persönlich überreicht?«
»Ich weiß es nicht«, räumte seine Lordschaft ein. »Ich habe nie etwas davon mitbekommen. Aber so muss es gewesen sein, eine andere Erklärung fällt mir nicht ein.«
»Aber warum mitten in der Nacht? Wenn er wirklich jemanden finanziell unterstützen wollte, warum tat er es dann nachts, wo kaum jemand wach war. Zu wem hätte er nur nachts gehen können?«
Der Earl breitete hilflos seine Arme aus. »Das müssen Sie herausfinden, Inspector, deshalb sind Sie ja hier.«
»Natürlich.« Thomas trank seinen Tee aus und stand auf. »Eure Lordschaft – noch eine letzte Frage: Kennen Sie diese Schlüssel?« Er holte den schweren Schlüsselbund aus seiner Tasche und hielt ihn hoch.
Der Earl stutzte und griff nach dem Schlüsselbund, als wollte er sich vergewissern, richtig hingesehen zu haben. Dann gab er ihn Thomas so schnell zurück, als hätte er sich daran verbrannt. »Nein, tut mir leid.«
Thomas hielt einen Augenblick lang erstaunt inne. Dann ging er zur Tür. Einem plötzlichen Impuls folgend, drehte er sich noch einmal um. »Eure Lordschaft, haben Sie von den ermordeten Frauen in Liverpool gehört?«
Ein Schatten huschte über das Gesicht des Earls. Dann sah er Thomas bedauernd an. »Ermordete Frauen? Nein, dazu kann ich Ihnen leider nichts sagen. Ich nehme an, dass in den Arbeitervierteln immer wieder Leute umgebracht werden. Man muss sich das Pack ja nur ansehen, das da herumläuft.«
»Es waren wohl größtenteils Dirnen«, fügte Thomas hinzu. »In den letzten Jahren müssen mehr als zehn von ihnen umgekommen sein. Seltsam, dass Sie nichts davon gehört haben.«
»Nun, mit solchen Nichtigkeiten belästigt man mich normalerweise nicht«, sagte der Earl lächelnd. »Wenn das also alles war, Inspector? Ich habe noch meine Korrespondenz zu erledigen. Wenn Sie weitere Fragen zu meinem Bruder haben, dürfen Sie mich jederzeit kontaktieren. Und ich erwarte einen Bericht von Ihnen, sagen wir, am Wochenende? Ich möchte, dass Sie den Mörder meines Bruders dingfest machen. Ich werde Sie fürstlich dafür belohnen.«
»Ich erhalte meinen Lohn von der Krone, Eure Lordschaft«, erwiderte Thomas irritiert. Was für eine arrogante und menschenverachtende Einstellung der Earl an den Tag legte. Außerdem hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, Thomas seine Macht zu demonstrieren. Der Inspector verabschiedete sich.
Während er dem Butler durch das große Haus zurück zur Eingangstür folgte, überlegte er, ob es wohl einen Zusammenhang zwischen den Morden an den Frauen und dem an Gerald Farwell geben konnte. Der Adelige schien mehr über die toten Frauen zu wissen, als er zugab, das hatte Thomas an seinem Gesichtsausdruck erkennen können. Außerdem war es kaum möglich, dass jemand von all den Morden nichts mitbekommen haben sollte. Aber der Earl war offenbar der Ansicht, die toten Dirnen verdienten nicht, dass ihnen Gerechtigkeit widerfuhr. Dass Thomas den Mörder seines Bruders fand, war ihm dagegen ein fürstliches Gehalt wert. Was für eine Welt das doch war, in der das Leben des einen mehr wert war als das der anderen!
Thomas dachte über Gerald Farwell nach und war verwirrter als je zuvor. Von dem Earl hatte er keinerlei brauchbare Informationen erhalten. Dabei war er sich sicher, dass der Earl den Schlüsselbund erkannt hatte. Warum verschwieg er etwas Thomas gegenüber, wo er doch offensichtlich ein starkes Interesse an der Aufklärung des Mordes an seinem Bruder hatte?