Oxford, heute
Zoe hatte gar nicht gemerkt, dass es inzwischen dunkel geworden war. Den ganzen Nachmittag hatte sie in dem winzigen Büro gesessen, das sie sich mit einer anderen Doktorandin teilte, und versucht, mehr über den Tod Gerald Farwells herauszufinden. Inzwischen zweifelte sie daran, dass ihr Vorfahre wirklich ermordet worden war. Sie hatte mehrmals mit dem Pfarrer in Fleetwood telefoniert, der heute in der Gemeinde tätig war, die Gerald vor 170 Jahren geleitet hatte und den Zoe noch aus ihrer Kindheit kannte. Er hatte die alten Kirchenbücher für sie durchforscht, jedoch nur einen einzigen Eintrag zu seinem Tod finden können, der keinerlei Hinweise auf einen Mord enthielt. Allerdings war Geralds plötzlicher Tod tatsächlich merkwürdig. Sein Todesdatum war der dreizehnte November 1839. Am zwölften hatte er noch eine Trauung vollzogen. Er konnte also nicht schwer krank gewesen, sondern musste unvorhergesehen umgekommen sein. Gerald war damals 31 Jahre alt gewesen, vielleicht hatte er am Abend mit ein paar Freunden in einem Pub in Liverpool ein Glas zu viel getrunken und war auf dem Heimweg dann über den Rand der Hafenmauer gestolpert.
Zoe fuhr den Computer herunter und stand auf. Auch die Liverpooler Archivare hatten ihr nicht weiterhelfen können. Bis auf den Eintrag in der Tageszeitung, den Charlottes Student gefunden und den Zoe inzwischen als Kopie vorliegen hatte, gab es auch dort keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod des Pfarrers.
Als sie auf den schmalen Flur des altehrwürdigen Universitätsgebäudes hinaustrat, hörte sie eilige Schritte. Charlotte Arlon kam auf sie zu.
»Hallo Zoe, so spät noch hier?«, fragte die Professorin, sie war offenbar ebenfalls auf dem Weg nach Hause. Charlotte trug einen beigefarbenen knielangen Rock aus einem dicken weichen Stoff, einen Rollkragenpulli und darüber einen breiten Wollschal. Ihr blondes Haar fiel sanft über ihre Schulter und unter den Arm hatte sie sich eine lederne Aktentasche geklemmt.
Zoe richtete sich auf und lächelte müde. »Ich war den ganzen Tag mit dem Mord an Gerald Farwell beschäftigt, aber es ist, als suchte ich nach einem Gespenst.«
Sie berichtete ihrer Professorin von ihren Gesprächen mit dem Pfarrer in Fleetwood und den anderen erfolglosen Versuchen, etwas Wesentliches herauszufinden.
»Mittlerweile zweifle ich ernsthaft daran, dass er wirklich ermordet wurde«, schloss sie. »Das Einzige, was ich habe, sind ein paar alte Zeitungsberichte, die meine Tante mir geschickt hat. Und daraus könnte man auch gut schließen, dass er einem tragischen Unfall zum Opfer gefallen ist.«
Charlotte sah sie einen Moment lang nachdenklich an. Dann sagte sie: »Vergessen Sie den Mord und kümmern Sie sich lieber um die Zeit nach seinem Tod. Das wird uns Aufschlüsse über die Gedanken der Menschen geben. Wie ist er zum Helden geworden? Wer hat diesen Mythos ausgelöst?«
Zoe berichtete ihr von den fantasiereichen Wunderbeschreibungen des Liverpool Chronist Marcus Brown und den beiden Biografien, von denen eine möglicherweise in Wooverlough Court zu finden war.
»Ich glaube, Sie müssen unbedingt dorthin«, erwiderte Charlotte und ihre Finger spielten mit dem Schloss ihrer eleganten Aktentasche aus dunkelbraunem Leder. »Wenn Sie dort nichts finden, müssen wir das Thema abschließen und uns nach einem neuen für Sie umschauen. Aber ich habe das Gefühl, dass in dieser Geschichte großes Potenzial steckt.« Sie warf ihr Haar über die Schulter und der Duft von Rosenblättern und Orangenschalen wehte zu Zoe herüber.
Zoe zögerte. Es war ihr unangenehm, Charlotte zu gestehen, dass sie in Wooverlough Court nicht mehr willkommen war, aber sie konnte sie schlecht anlügen. Und es war schließlich nicht Charlottes Problem, dass ihr konservativer Vater sie einfach auf die Straße gesetzt hatte, als er von ihrer Beziehung mit Mel erfuhr.
Zoe nickte. Einen Moment lang standen sich die beiden Frauen schweigend im Flur gegenüber.
Schließlich ergriff Zoe das Wort. »Ich will Sie nicht länger aufhalten. Wir können ja in den nächsten Tagen noch einmal darüber sprechen.«
»Ja.« Charlotte setzte sich in Bewegung.
Eingehüllt in den Duft exotischer Früchte und Blumen ging Zoe neben ihr her den schmalen Flur entlang zur Treppe.
Als sie aus dem alten Universitätsgebäude traten, war es bereits dunkel. Es war kühl geworden und Charlotte zog den breiten Wollschal enger um die Schultern.
»Haben Sie schon mit Ihrem neuen Roman begonnen?«, fragte sie plötzlich.
»Ich schreibe noch nicht daran.« Zoe sah zu ihr hinüber. Charlottes Atem bildete kleine Wölkchen in der Luft. »Aber ich habe eine Idee, die mich beschäftigt und die ich mit mir herumtrage. Irgendwann bin ich so weit.«
»Ich bewundere Sie«, sagte Charlotte. Sie blieb stehen und betrachtete Zoe von der Seite. »Ich wünschte, ich könnte das auch. Eine Welt entstehen lassen, Menschen erschaffen, die es nur in meiner Fantasie gibt.«
Zoe sah Charlotte überrascht an. »Aber das können Sie bestimmt auch. Es ist gar nicht so schwer. Man muss sich nur hinsetzen und anfangen. Es ist in erster Linie Disziplin, dann …«
»Oh nein«, unterbrach Charlotte sie mit erhobener Hand. »Das sind die Worte eines Genies, dem sein Talent leichtfällt.«
Zoe lächelte. »Sie haben so viele Bücher geschrieben, Charlotte.«
»Nur Fachliteratur, keine Romane«, warf die Wissenschaftlerin ein.
»Ja, aber Sie könnten doch mit Leichtigkeit einen Roman schreiben.«
Ihre Professorin schüttelte lächelnd den Kopf. Sie gingen langsam weiter. Hinter den alten Fenstern der Universität brannten nur noch vereinzelte Lichter. Der Rasen, der von den ehrwürdigen Gebäuden gesäumt wurde, lag verlassen im Dunkeln.
Als sie an die Straße kamen, zögerte Charlotte.
»Müssen Sie nach Hause oder haben Sie vielleicht Lust, noch ein Glas Wein mit mir zu trinken?«, fragte sie.
Ein warmes Gefühl breitete sich in Zoes Bauch aus. »Sehr gerne.«
»Kommen Sie, da vorn an der Ecke ist ein kleiner Pub.« Charlotte deutete die regennasse Straße hinunter, und Zoe fragte sich, ob ihre Professorin wohl regelmäßig mit ihren Studenten dort einkehrte. Zu gern würde sie sich einbilden, dass sie für Charlotte Arlon eine besondere Doktorandin war. Aber sie wusste genau, dass Charlotte viel zu professionell war, um sich auf private Beziehungen zu ihren Promotionsstudenten einzulassen, welcher Art auch immer.
»Weißwein?«, fragte Charlotte, als sie den gemütlichen Pub betraten, der recht gut besucht war für einen Dienstagabend.
Zoe nickte und steuerte auf einen Tisch in einer Fensternische zu, während Charlotte zum Tresen ging. Wenig später kehrte sie mit zwei Weingläsern in der Hand zurück.
»Wie sind Sie zum Romanschreiben gekommen?«, fragte die Professorin, als sie den ersten Schluck getrunken hatte. »Ich meine, hatten Sie schon immer den Wunsch zu schreiben?«
Zoe schüttelte den Kopf, sodass die Haare ihres Pagenkopfs hin- und herflogen. »Es klingt vielleicht arrogant, aber ich hatte das Gefühl, etwas zu sagen zu haben.«
»Das ist gar nicht arrogant«, sagte Charlotte und lächelte. »Und Sie hatten ja recht. Wie oft hat sich Der Übernächste verkauft?«
»Das kann ich Ihnen gar nicht so genau sagen«, log Zoe, um nicht prahlerisch zu klingen. Sie konnte es ja selbst kaum glauben, dass in den letzten Jahren über zweihunderttausend Exemplare ihres Romans in England verkauft worden waren und dass er sogar in verschiedene andere Sprachen übersetzt worden war. »Und ich hatte damals ja auch nichts Besseres vor. Mein Vater hatte mich gerade aus der Familie verbannt und ich war zu stolz, um bei ihm um eine Unterstützung für mein Studium zu betteln. Also hab ich erst mal geschrieben.«
»Und seitdem sind Sie finanziell unabhängig«, mutmaßte Charlotte.
»Oh ja«, Zoe lächelte, »das ist ein riesiger Erfolg für mich. Mein Vater hat sicher nicht gedacht, dass ich auch ohne die Hilfe der Familie überleben kann. Ich glaube, das kam bei den Wooverloughs bisher nicht allzu oft vor.«
Charlotte lachte, und Zoe betrachtete eine Gruppe Studenten, die gerade hereingekommen waren.
»Verraten Sie mir, warum Ihr Vater nicht mehr mit Ihnen spricht?«, fragte Charlotte. »Oder ist das zu persönlich?«
Die Professorin musterte Zoe voller Interesse. Plötzlich fühlte sich Zoe von dem sanften Blick ihrer grünblauen Augen gefangen. Wieder dachte sie an ihren Ehemann, den Dekan. Was für ein Glück er hatte, diese außerordentlich schöne und intelligente Frau an seiner Seite zu haben. Wäre Charlotte nicht Zoes Professorin, sie hätte sich längst in sie verliebt.
»Ich … ich war nicht so, wie er es sich wünschte. Als ich fünfzehn war, habe ich mich zum ersten Mal in ein Mädchen verliebt, und auch wenn ich danach zwei Jungs als Freunde hatte, war es niemals so wie bei meiner ersten großen Liebe.« Zoe spürte, wie sie rot wurde, und hoffte, dass Charlotte es in dem schummrigen Kneipenlicht nicht bemerkte. »Auch wenn ich es nie gewagt hätte, mich ihr zu offenbaren.«
Charlotte sagte nichts und sah sie nur abwartend an.
»Als ich es mir selbst endlich eingestand, dass ich mit einer Frau an meiner Seite in meinem Leben sicher glücklicher werde, war ich zwanzig.« Zoe trank einen Schluck Wein. »Und dann kam Mel. Ihre Eltern hatten kein Problem damit, dass ihre Tochter lesbisch war, aber ich wusste, dass das bei den Earls of Wooverlough nicht so leicht durchgehen würde. Als ich endlich den Mut fasste, meinen Eltern die Wahrheit zu sagen, waren Mel und ich schon fast zwei Jahre lang ein Paar. Daraufhin hat mein Vater mich vor die Wahl gestellt: die Familie oder Mel.«
»Wie bitte?«, sagte Charlotte entsetzt. »Er hat von Ihnen verlangt, dass Sie sich selbst verleugnen, um in der Familie bleiben zu dürfen?«
»Exakt«, bestätigte Zoe. »Wäre ich nicht mit Mel sehr glücklich gewesen, hätte ich vielleicht ernsthaft darüber nachgedacht. Ich war damals ja erst Anfang zwanzig.«
»Umso schäbiger von Ihrem Vater, das zu verlangen.« Charlotte schüttelte fassungslos den Kopf.
»Heute weiß ich, dass es gut war, dass alles so gekommen ist«, erwiderte Zoe. »Denn mir ist aufgefallen, dass es bei uns immer so war. Wenn meine Geschwister oder ich irgendetwas unternahmen, das meinen Eltern nicht gefiel, lag sofort die Drohung in der Luft, dass sie uns aus der Familie ausschließen würden. Dabei ging es ihnen hauptsächlich um unser gesellschaftliches Ansehen. Und wenn wir ihre Erwartungen erfüllten, wurden wir großzügig finanziell unterstützt. Aber wer das nicht tat, musste sehen, wo er blieb.«
Zoe schwieg, als die Studenten mit ihren gefüllten Gläsern an ihnen vorbei in den hinteren Teil des Pubs gingen.
Charlotte war ihnen ebenfalls mit ihrem Blick gefolgt, jetzt wandte sie sich wieder Zoe zu.
»Das kann ich gut verstehen. Ich komme zwar nicht aus einer so alten Familie wie Sie, aber auch bei uns wurde immer auf die Etikette geachtet. Und ich hatte immer den Druck, die Erwartungen meiner Eltern erfüllen zu müssen.«
Zoe lächelte. »Aber Ihnen ist es gelungen, nicht wahr?«
Charlotte sah Zoe nachdenklich an. »Ich denke, schon. Manchmal frage ich mich, ob das auch meine eigenen Erwartungen waren.«
Zoe trank einen Schluck Wein. Niemals hätte sie gedacht, dass Charlotte mit ihrem Schicksal hadern könnte. Sie sagte vorsichtig: »Sie haben viel erreicht, Charlotte.«
Die Professorin nickte nur und schwieg. Einen Moment lang hing sie ihren Gedanken nach, ehe sie fragte: »Und Mel, ist sie mit Ihnen nach Oxford gekommen?«
»Mel hat mich vor einem halben Jahr verlassen«, antwortete Zoe.
»Oh, das tut mir leid«, sagte Charlotte und wickelte nachdenklich eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger.
»Ist schon okay«, winkte Zoe ab. »Es hat mich schwer getroffen, das muss ich zugeben. Wir waren fast acht Jahre zusammen und ich hatte nicht damit gerechnet. Zuerst war es ein Schock, aber inzwischen glaube ich, dass es so tatsächlich besser war. Wir haben nie wirklich zusammengepasst. Mel arbeitet an der Börse und lebt im Übermorgen.«
Charlotte lachte. »Haben Sie deshalb Der Übernächste geschrieben?«
Zoe hielt überrascht die Luft an. »Ja, wahrscheinlich. Da steckt ein großer Teil von Mel drin. Sie ist eine typische Vertreterin der Millennial-Generation, die ich in Der Übernächste beschreibe. Sie lebt in einer virtuellen Welt, kauft und verkauft virtuelle Größen und jettet ständig von Kontinent zu Kontinent. Und das ist alles so normal, so notwendig. Jeder muss im Morgen leben, besser noch im Übermorgen. Wer im Heute lebt, hat schon das Wichtigste verpasst.« Zoe hielt inne. »Sorry. Es ist mal wieder mit mir durchgegangen.«
»Nein, das ist hochinteressant«, widersprach Charlotte. »Und Sie leben im Gestern. Sie haben sich für Ihr Studium das Fach Geschichte ausgesucht. Meinte Mel aus diesem Grund, dass Sie nicht zusammenpassen?«
»Es war Mels Einstellung, die sich geändert hat. In ihrem Job kann man sich Mitleid oder Sympathie nicht leisten. Wer aus Mitgefühl zögert, wenn es beispielsweise darum geht, eine Firma aufzukaufen, zu zerschlagen oder jemanden auf die Straße zu setzen, hat verloren.« Zoe schüttelte den Kopf. »Für Mel ist es wichtig, in der ersten Reihe zu stehen. Zu wissen, was morgen, besser noch, was übermorgen angesagt sein wird«, sagte sie nachdenklich. »Ich glaube, sie hat ihre eigene Veränderung gar nicht bemerkt, nur dass ich mich in eine vollkommen andere Richtung entwickelt habe. Sie hat sich schließlich in eine andere verliebt. Mir ist es erst viel später aufgefallen, dass wir in unterschiedlichen Welten gelebt haben. Und um ehrlich zu sein, hatten wir uns schon lange nicht mehr viel zu sagen.«
Charlotte nickte. »Das ist nachvollziehbar. Und es ist bewundernswert und zeigt Ihre Stärke, Zoe. Sie haben sich nicht von Ihrer Freundin beeinflussen lassen, auch nicht von Ihren Eltern.«
»Ich wollte mich auf keinen Fall anpassen. Sonst wäre ich nicht mehr ich gewesen«, warf Zoe ein.
»Genau!«, rief Charlotte mit funkelnden Augen. »Und das zu wissen, ist absolut wertvoll, Zoe. Ich wusste es damals nicht.«
»Was meinen Sie?«, fragte Zoe überrascht.
Charlotte atmete tief durch. »Ich habe genau das Gegenteil von dem getan, was Sie taten. Ich habe immer alle Erwartungen erfüllt.«
Zoe sah Charlotte nachdenklich an. »Das muss nicht bedeuten, dass es falsch war. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft ich mir gewünscht habe, die Erwartungen meiner Eltern einfach erfüllen zu können.«
»Aber Sie wussten genau, dass das nicht das Richtige für Sie ist«, stellte Charlotte fest. Sie sah nachdenklich in ihr Weinglas.
Zoe betrachtete sie aufmerksam. War es tatsächlich möglich, dass ihre Professorin gar nicht so glücklich war, wie es den Anschein hatte?
»Genau zu wissen, was man will, ist das größte Geschenk. Auch wenn der Weg zum Ziel vielleicht ein schwerer ist.« Charlotte trank einen Schluck. »Aber was, wenn man alle Erwartungen erfüllt hat, alles erreicht hat – und plötzlich doch nicht glücklich und zufrieden ist? Wenn man nur Leere spürt …?«
Zoe dachte einen Augenblick lang über diese Frage nach. »Nun«, sagte sie dann vorsichtig. »Es liegt in der Natur des Menschen, unzufrieden zu sein. Und permanentes Glück gibt es nicht. Dafür sind wir einfach nicht gemacht. Aber wir können zumindest zufrieden und glücklich sein, denke ich. Und wenn einem das nicht gelingt, dann muss man etwas ändern.«
»Ja«, sagte Charlotte leise und drehte ihr Glas hin und her.
»Charlotte …« Einem plötzlichen Impuls folgend, griff Zoe nach den zarten, schlanken Fingern ihrer Professorin und hielt sie fest. »Es tut mir leid, wenn ich einen wunden Punkt bei Ihnen getroffen habe.«
Die Wissenschaftlerin lächelte müde und umschloss mit der anderen Hand Zoes Finger. Eine Zeitlang saßen sie schweigend da, während Zoe ein verräterisches Kribbeln im Bauch spürte. Sie kannten sich kaum und doch hatte sie in diesem Moment den Eindruck, Charlotte näher zu stehen als jedem anderen Menschen auf der Welt. War Zoe so einsam, dass sie sich dem erstbesten Menschen, mit dem sie sich intensiv unterhielt, gleich zugehörig fühlte? Oder lag tatsächlich etwas Besonderes zwischen ihnen, ein Zauber, den sie sich nicht erklären konnte?
Charlottes Finger streichelten Zoes Hand und ein Schauer überlief ihren Körper. Zoe betrachtete die vollen Lippen ihrer Professorin und die geschwungenen Wimpern, die im schwachen Licht des Pubs winzige Schatten auf Charlottes seidig weiche Wangen mit den zahlreichen Sommersprossen warfen.
Als ein paar junge Männer laut lachend die Kneipe betraten, löste Charlotte ihre Hände von Zoes. Sie trank ihren Wein aus. Plötzlich hatte Zoe Angst, sie würde gleich aufbrechen. Sie wollte diesen Moment noch nicht loslassen. Charlotte war ihr so nah gekommen, Charlotte, die Zoe schon seit Langem aus der Ferne bewunderte. Und auch wenn sie wusste, dass ihre Professorin bestimmt nach Hause musste, dass ihre Familie auf sie wartete, wollte sie sie noch nicht gehen lassen.
Zoe fragte, beinahe ängstlich: »Noch einen Wein?«
Und Charlotte nickte lächelnd.
Zoe atmete tief durch. Während sie sich mit den leeren Gläsern durch die Menge zur Bar vorkämpfte, hatte sie den Eindruck, auch Charlotte sei erleichtert gewesen, dass der Abend noch nicht endete.
Als sie fünf Minuten später zu ihr zurückkehrte und auf der Sitzbank neben ihr Platz nahm, beugte sich ihre Professorin aufgeregt zu ihr.
»Ich weiß, wie wir in die Bibliothek von Wooverlough Court gelangen könnten«, sagte sie mit einem schelmischen Grinsen.
Zoe sah sie neugierig an.
»Ich könnte mich an Ihren Vater wenden, den Earl of Wooverlough, und ihm unser Projekt darlegen. Und dann bitte ich ihn, dass er mich mit einer meiner Doktorandinnen in den Bibliotheken seines Anwesens forschen lässt.« Charlotte warf Zoe einen triumphierenden Blick zu. »Ich werde natürlich nicht erwähnen, dass Sie diese Studentin sind.«
Zoe musste lachen. »Er würde vermutlich zustimmen, aber sobald er sieht, wen Sie mitgebracht haben, fliegen wir beide raus.«
»Meinen Sie?« Charlotte hob die Augenbrauen. »Ich kann mir vorstellen, dass er ziemlich stolz auf Sie ist, trotz Ihrer … sexuellen Orientierung.« Ein rötlicher Schimmer hatte sich auf ihre Wangen gelegt, was ihr außerordentlich gut stand, fand Zoe.
Sie lachte und sagte: »Das glaube ich nicht.«
»Ach was«, Charlotte lehnte sich zurück, »Ihr Roman ist ein riesiger Erfolg. Ich glaube nicht, dass ihn das kaltlässt.«
Zoe hob die Schultern. »Gut möglich.«
»Also, was denken Sie? Hätten Sie Lust, ein paar Tage mit mir zu verreisen?« Charlotte sah Zoe so eindringlich an, dass Zoes Gefühle Purzelbäume schlugen.
Oh ja, sie konnte sich nichts Verlockenderes vorstellen, als mit ihrer wunderschönen Professorin zu verreisen! Sie antwortete, ein wenig zu begeistert, wie sie selbst merkte: »Wenn Sie die Zeit dafür fänden und bereit wären, sehr gerne.«
Charlotte lächelte und griff wieder nach Zoes Hand. Sie hielt sie einen langen Moment fest. Ihre Finger waren weich wie Samt, und Zoe wünschte, sie würde sie nie wieder loslassen.
»Abgemacht!«, sagte sie.