Liverpool, März 1839

Wie fühlst du dich?« John sah Madeline prüfend an.

»Ich bin nicht in anderen Umständen, wenn du das meinst«, erwiderte sie und stand aus dem Sessel im Salon auf, John war gerade zur Tür hereingekommen. Sie sah die Enttäuschung in seinem Gesicht.

Dann lächelte er und streckte die Hand nach ihr aus. »Komm mit nach oben, das werden wir ändern.«

»John, ich mache mir Sorgen um Molly«, sagte sie, während sie sich von ihm die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinaufziehen ließ.

Er drehte sich zu ihr um. »Die kleine Dirne?«

»Sie ist mehr als das«, sagte Madeline zornig. »Hör auf, so abfällig von ihr zu sprechen.«

»Ich sage nichts Falsches«, erwiderte er grinsend und öffnete die Tür zu Madelines Zimmer.

Sie seufzte, als sie sich auf das Bett fallen ließ. »Ich weiß einfach, dass etwas nicht stimmt. Seit einiger Zeit habe ich nichts von Molly gehört. Fanny hat gesehen, wie sie vor drei Tagen mit einem Freier nach Hause gegangen ist, der angeblich die ganze Nacht bezahlt hat.«

»So?«

»Lass das, ich versuche dir gerade …«

»Mein Gott, Madeline«, stöhnte John und knöpfte seine Hose auf. »Ich habe nicht viel Zeit. Wenn sie einen Freier für die ganze Nacht hatte – warum geht er dann mit seinem ganzen Geld nicht in ein gehobenes Bordell?«

»Weil manche Männer auf die Privatsphäre eines Mädchens Rücksicht nehmen. Nicht jeder demütigt seine Frau, indem er sich öffentlich zu seiner Geliebten bekennt.« Madeline sah ihn mit gehobenen Augenbrauen an.

»Ich achte sehr auf deine Privatsphäre«, sagte er und versuchte wieder nach Madeline zu greifen.

Doch sie entwand sich seinem Griff und trat ans Fenster. »Ganz Liverpool weiß von mir. Selbst deine Dienstboten kennen mich. Die einzige Person auf der Welt, die vermutlich keine Ahnung hat, ist deine Frau.«

John hob die Schultern. »Vielleicht erregt es mich, als sündiger Mann bekannt zu sein.«

»Dich erregt alles«, murmelte Madeline.

»Dann komm endlich her.« Er zog sie leidenschaftlich an sich.

Madeline tat ihm den Gefallen und erwiderte seine gierigen Küsse. Sie tastete sich unter sein Hemd und bis in seine Hose vor. Sie wusste, dass sie nicht mit ihm reden konnte, bevor er bekommen hatte, was er wollte.

Wenige Minuten später strich sie ihm sanft und zärtlich über den Rücken und sagte leise: »Du hast doch schon mal nach London geschrieben, als Gerda ermordet wurde …«

»Ja«, murmelte er, noch immer etwas atemlos. »Aber ich habe leider nie eine Antwort erhalten.«

John seufzte und rutschte auf die Bettkante. »Madeline, ich werde mich da nicht mehr einmischen. Es sind Dirnen, Molly genau wie alle anderen, und sie gehen nun einmal ein gewisses Risiko ein, wenn sie Männer nach Hause mitnehmen.«

Madeline richtete sich auf und starrte ihn fassungslos an.

»Bleib noch liegen«, sagte John, während er in seine Hose schlüpfte. »Dann ist es wahrscheinlicher, dass unsere Liebe Früchte trägt.«

Madeline schnaubte wütend. »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass es vielleicht an dir liegen könnte und nicht an Mary oder mir, dass du noch keinen Erben hast?«

»Rede keinen Unsinn«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Alle Generationen unserer Familie waren mit vielen Kindern gesegnet. Es wird auch bei mir nicht anders sein.«

Madeline ließ sich wieder in die Kissen sinken. Trotzig erwiderte sie: »Mit Mary versuchst du es schon seit zwei Jahren und auch ich bin immer noch nicht in anderen Umständen.«

»Es wird nicht mehr lange dauern, Madeline«, sagte er, zog sich seinen Rock über und warf einen prüfenden Blick in Madelines Spiegel. Im Hinausgehen warf er ihr noch eine Kusshand zu und dann war er auch schon verschwunden.

Madeline zog sich an und lächelte beim Gedanken an ihre liebe Freundin. Molly war inzwischen gar nicht mehr unglücklich mit ihrer Arbeit als Dirne. Wenn das Gewerbe nur sicherer wäre, vermutlich wäre Molly dann ganz zufrieden gewesen. Aber ihre Einkünfte unterlagen starken Schwankungen. Wenn gerade kein Schiff im Hafen lag, mit hungrigen Matrosen und Schiffsjungen an Bord, oder wenn es zu kalt war, sodass den Männern der Sinn eher nach heißem Bier stand als nach einer schnellen Befriedigung in einem zugigen Zimmer, dann reichten ihre Einnahmen kaum zum Leben.

Madeline stieg die Treppe hinunter zur Eingangshalle, setzte ihren Hut auf, zog den Mantel an und verließ ihr Haus. Sie machte sich auf den Weg zum Polizeirevier. Sollten die Faulpelze doch einmal etwas für ihr Geld tun! Aber als sie das Revier erreicht hatte, war die Tür verschlossen. Wunderbar, dachte Madeline. Die diensthabenden Polizisten saßen vermutlich in einer der vielen Spelunken und

Madeline lief die Queens Street entlang, die direkt zu den Docks hinunterführte. Molly hatte eine Zweizimmerwohnung in einem der Hinterhäuser. Madeline wich ein paar Möwen aus, die über den Gehweg spazierten, und ignorierte die Blicke der Menschen, die sie misstrauisch beäugten. Sie fiel mit ihrer eleganten Kleidung auf, die sie als Mitglied der Gesellschaft auswies, obwohl sie das gar nicht war. Dass sie als Dame ohne Begleitung unterwegs war, schickte sich nicht. Aber Madeline hatte schon lange gelernt, sich über die Regeln hinwegzusetzen.

Sie blieb vor dem Toreingang mit der Nummer acht kurz stehen und sah sich um, ehe sie den Hof dahinter durchquerte. Die alte Holztür, die ins Hinterhaus führte, stand offen. Als Madeline den Hausflur betrat, schlug ihr der Geruch von Eintopf und abgestandener, süßlicher Luft entgegen. Sie rümpfte die Nase und machte sich an den Aufstieg in die zweite Etage. Die Tür zu Mollys Wohnung war geschlossen. Die braune Farbe blätterte an mehreren Stellen ab. Madeline klopfte, erst zaghaft, dann fester. Es kam keine Antwort.

»Molly?«, rief sie und lauschte.

»Die ist seit Tagen nicht mehr hier gewesen«, hörte sie plötzlich eine Stimme. Sie fuhr herum und erblickte einen roten Haarschopf am unteren Ende der Treppe.

Madeline betrachtete die Frau, die sich gerade den

»Ich mache mir Sorgen um sie«, rief Madeline ihr zu, während sie versuchte, den Türknauf zu drehen.

»Die ist abgeschlossen«, erklärte die Frau. »Ich hab’s auch schon versucht.«

Madeline nickte. Sie rüttelte an der Tür, die nicht sonderlich stabil wirkte. »Hat jemand einen zweiten Schlüssel?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

Madeline umfasste mit beiden Händen den Türknauf. Sie zog so fest sie konnte, doch das Schloss gab nicht nach.

»Helfen Sie mir bitte.« Madeline winkte die Frau heran.

Mit vereinten Kräften schafften es die beiden endlich, das Schloss aus dem dünnen Holzrahmen zu ziehen. Die Tür schwang auf.

»Puh! Was für ein Gestank«, sagte die Frau und rümpfte ihre Nase.

Madeline presste die Lippen aufeinander und betrat den kleinen Raum. Panik und Übelkeit stiegen gleichzeitig in ihr auf. Der Gestank ließ nichts Gutes ahnen. Sie unterdrückte den Impuls, sich auf dem Absatz umzudrehen und aus dem Haus zu stürmen. Stattdessen zog sie ein Spitzentuch aus ihrer Tasche, das sie sich auf Mund und Nase drückte.

Der Wohnraum war aufgeräumt. Die Kissen lagen ordentlich aufgereiht auf dem Sofa. Mit angehaltenem Atem öffnete Madeline die Verbindungstür, die zu Mollys Schlafzimmer führte. Als sie die Tür aufstieß, wich sie

»Los!«, keuchte Madeline und schob die Frau aus dem Zimmer. »Halten Sie eine Polizeistreife auf der Straße an! Treiben Sie irgendjemanden von der Liverpool City Police auf.«

Die Frau stürzte aus der Wohnung und Madeline konnte sie die Treppe hinunterstolpern hören.

Sie schluckte und zog das Laken vom Bett. Nachdem sie es über ihre Freundin gebreitet hatte, ging sie in den benachbarten Raum und öffnete das Fenster, das in den Hinterhof führte. Sie atmete tief ein. Ihre Hände zitterten, die Beine fühlten sich weich an. Madeline ließ sich auf die schmale Fensterbank sinken. Sie atmete gegen die Übelkeit an. Während sie in den tristen Hinterhof starrte, verschwamm das Bild vor ihren Augen. Molly war tot! Die lebendige, fröhliche, laute Molly! Hoffentlich war sie schon tot gewesen, bevor man sie auf die Dielen genagelt hatte. Madeline unterdrückte ein Schluchzen.

Schritte hallten von den Wänden des Innenhofes wider. Der rote Haarschopf tauchte auf, und hinter ihr konnte Madeline zwei Polizisten erkennen, die jetzt zu ihr heraufsahen. Schnell wischte sie die Tränen fort. Wenige Augenblicke später standen die Uniformierten in der Tür.

»Sie haben eine Leiche gefunden?«, fragte der größere der beiden.

Madeline nickte und deutete auf die geschlossene Tür.

Madeline zog die Augenbrauen zusammen. »Nein, sie war meine Freundin.«

»Wieder eine«, rief der erste Polizist, der inzwischen die Tür geöffnet hatte. »Haben Sie die Decke drübergelegt?«

Madeline nickte.

»War sie eine Dirne?«, fragte er.

Madeline zögerte kurz, bevor sie die Frage bejahte. Molly war ihr Beruf nie peinlich gewesen, sie hatte kein Geheimnis daraus gemacht. Aber Madeline hatte das Gefühl, ihre Freundin vor diesen Männern schützen zu müssen.

Der Polizist zog das Laken weg. »Wie bei den anderen auch.«

»Gut beieinander«, stellte der Kleinere fest. »Scheint gesund gelebt zu haben. Nicht so dürr wie die Letzte.«

»Und noch nicht so alt«, warf der Erste wieder ein. »Schade drum.«

Madeline sah die beiden erschrocken an. »Hören Sie auf, so respektlos von ihr zu reden!«

Der größere Polizist winkte ab. »Die ist tot. Die bekommt nichts mehr mit.«

Die beiden Männer gingen zur Tür. »Wir schicken den Leichenwäscher her, der soll sie abholen, damit die Wohnung wieder vermietet werden kann.«

Madeline starrte sie fassungslos an. »Das ist Ihre einzige Sorge? Dass die Wohnung wieder vermietet werden kann? Sie wollen gar nicht herausfinden, wer für die Morde an Molly und den anderen Frauen verantwortlich ist?«

»Ma’am«, sagte der größere Polizist schamlos grinsend.

»Etwas anderes fällt Ihnen dazu nicht ein? Sie faules, nichtsnutziges Pack!« Madeline traten Tränen der Wut in die Augen.

Die Polizisten lachten und machten sich auf den Weg. Der größere drehte sich noch einmal um. »Was erwarten Sie denn von uns? Das war eine Dirne!«

Madeline starrte den beiden Männern zornig hinterher. Dann sank sie schluchzend zu Boden.