Liverpool, November 1839

Thomas schüttelte den Regen von seinem Zylinder, als er die Harbour Police Station betrat.

Green und Twicklehurst sahen von ihren dampfenden Tassen auf, als ihr Chef hereinkam.

»Wir haben viele Leute gefunden, die die toten Frauen kannten, aber ich glaube nicht, dass uns da irgendwas weiterhelfen kann«, sagte Green statt einer Begrüßung.

Twicklehurst reichte Thomas eine Tasse Tee. »Setzen Sie sich erst mal, Chef.«

Der Inspector ließ sich auf einen der Holzstühle fallen, die in der hinteren Ecke des Eingangsraumes standen.

»Hier ist die Akte, die wir zu den Dirnen haben.«

Constable Miller legte eine dünne Mappe auf den Tisch und schlurfte dann wieder nach hinten. Drew, der missmutig hinter Thomas gestanden hatte, schloss sich seinem Kollegen an, sodass die drei Männer aus London unter sich waren.

»Hm, sehr dürftig«, stellte Green fest, nachdem er die Mappe durchgeblättert hatte. »Na ja, immerhin haben sie die Todesfälle der Frauen in einen Zusammenhang gebracht. Hier gab es tatsächlich im letzten Jahr sieben tote Frauen – fünf Dirnen, ein Küchenmädchen und eine Hutmacherin«,

»Unfassbar, dass niemand es für nötig hielt, der Sache nachzugehen.« Thomas schüttelte den Kopf. »Wenn der Pfarrer nicht gestorben wäre, hätten wir nie davon erfahren.«

»Glauben Sie, dass die Fälle der toten Frauen und der des Pfarrers etwas miteinander zu tun haben?«, fragte Twicklehurst.

Thomas hob die Schultern. »Auf den ersten Blick scheint es nicht so zu sein.«

Eine Weile lang tranken die Männer schweigend ihren Tee, während der Regen gegen die Scheiben der Police Station prasselte. Dann sagte Thomas: »Also, was haben Sie herausgefunden?«

Twicklehurst zog sein Notizbuch aus dem Mantel. »Wir haben über zwei der Opfer einige Informationen sammeln können, Gerda Schneider und Molly Abernathy. Sie verkehrten regelmäßig in einem Pub, Jacks Taverne, und waren dort sämtlichen Stammkunden bekannt. Gerda kam vor acht Jahren aus Deutschland hierher nach England und war eine gute Freundin von Molly Abernathy.«

Thomas nickte zum Zeichen, dass er seinem Constable zuhörte, und trank einen Schluck Tee.

»Der Wirt hat uns erzählt, dass die Mädchen durchaus gewarnt waren und die Sache wohl auch ernst genommen haben, schließlich wurden in den letzten zwei Jahren immer wieder Dirnen getötet. Sie haben sich gegenseitig informiert, wenn eine einen Freier mitgenommen hat, aber im Fall von Molly hat es nichts geholfen. Erst drei Tage später hat eine andere Freundin, eine gewisse Madeline Brown, sie tot in ihrer Wohnung gefunden.«

Twicklehurst zuckte mit den Schultern. »Das hat Jack uns nicht gesagt. Vielleicht sollten wir einmal mit dieser Fanny und mit Madeline Brown sprechen. Letztere scheint so etwas wie eine Luxusdirne zu sein. Sie muss wohl einen reichen Gönner haben, der sie aushält.«

»Und wo finden wir sie?«, fragte Thomas.

»Sie hat ein Haus in der London Road«, erwiderte Green.

Der Inspector seufzte. »Gut. Und was haben wir sonst noch?«

»Wie Jones, der Leichenwäscher, schon gesagt hat, sind ausnahmslos alle Frauen nach ihrem Tod an Händen und Füßen auf Holzdielen oder Bettgestelle genagelt worden.«

»Anders der Pfarrer«, warf Thomas ein. »Ich denke, wir werden also nach zwei verschiedenen Mördern suchen müssen. Hat man untersucht, ob die Frauen vor ihrem Tod körperlich mit einem Mann zusammengekommen sind?«

»Es sieht alles danach aus.« Green leerte seine Tasse und strich sich mit der Hand über den Bart. »Aber das müssten wir mit dem Arzt im Leichenhaus noch einmal abklären. Es ist jedenfalls auffällig, dass es sich bei allen Mordopfern um Dirnen oder andere leichte Mädchen handelt. Keine dieser Frauen war verheiratet.«

»Na schön, dann könnte einer der Mörder also ein Mann sein, der sich mit solchen Frauen vergnügt hat«, schlussfolgerte Thomas.

»Oder eine eifersüchtige Ehefrau?«, fragte Twicklehurst.

Thomas sah ihn einen Moment lang nachdenklich an.

Twicklehurst klopfte nachdenklich mit seiner Bleimine auf das Notizbuch. »Sie könnte später gekommen sein.«

»Wäre eine Frau überhaupt in der Lage, die Damen zu erwürgen und dann auch noch in diese Position zu bringen?«, warf Green ein und griff nach der Teekanne.

»Nun, es müsste schon eine sehr kräftige Frau sein«, gab Twicklehurst zu.

»Oder eine sehr wütende«, ergänzte Thomas nachdenklich. »Aber nein. Ich glaube nicht, dass wir nach einem weiblichen Mörder suchen. Wo sind die Opfer angesprochen worden? Konnten Sie das herausfinden?« Er sah seine Constables fragend an.

Twicklehurst blätterte in seinen Notizen. »Wir wissen es nur von Molly Abernathy und der Näherin, einer Yvette Millner. Bei beiden passierte es offenbar in der Nähe des Hafens. Miss Abernathy muss ihren Freier am Princess Dock, direkt in der Bath Street, gefunden haben. Die Näherin wohnte ganz in der Nähe, in der Old Hall Road, und eine Nachbarin hat beobachtet, wie sie dort mit einem Mann eintraf. Ob er sie auch am Hafen angesprochen hat, ist unklar.«

»Dann gibt es also eine Zeugin, die einen möglichen Tatverdächtigen gesehen hat?«, fragte Thomas.

»Gut möglich«, erwiderte Twicklehurst. »Das ist zumindest die Information, die wir von Jack erhalten haben. Wir müssen die Nachbarin dringend ausfindig machen.«

Die Constables schüttelten den Kopf und Thomas berichtete, was er über den verstorbenen Gerald Farwell herausgefunden hatte.

»Er scheint ein sehr frommes Leben geführt zu haben. Ich kann es nicht ganz begreifen, er scheint mir nicht … menschlich … und nicht …«, schloss er.

»Was meinen Sie genau?«, erwiderte Green.

»Ich frage mich, ob nicht jemand Drittes dahintersteckt. Jemand, der nach dem Mord alle persönlichen Dokumente vernichtet hat, um seine Spur zu verwischen.« Thomas schüttelte den Kopf und sah in den Regen hinaus, der noch immer nicht nachgelassen hatte.

»An wen denken Sie?«

Thomas stellte seine Teetasse ab. »Ich weiß es nicht. Vielleicht die Haushälterin, vielleicht aber auch jemand anderes, der es unbemerkt an der Frau vorbei geschafft hat. Sie hat erst am Morgen festgestellt, dass ihr Arbeitgeber nicht in seinem Bett geschlafen hat. Der Mörder könnte noch in der Nacht nach Fleetwood geritten und seine Spuren beseitigt haben.«

Twicklehurst schenkte allen Tee nach. »Also, wie gehen wir vor?«

»Ich möchte mit den Freundinnen der Dirnen sprechen, mit dieser Madeline Brown und mit Fanny, von der wir keinen Nachnamen haben und auch nicht wissen, wo sie wohnt.«

»Sie ist Stammgast in Jacks Taverne«, erklärte Green, »ist wohl immer gegen Abend dort.«

Thomas nippte an dem Tee und verzog das Gesicht. Er war inzwischen kalt und bitter geworden. »Und wir sollten

 

»Dieser Dirne Madeline Brown scheint es tatsächlich sehr gut zu gehen«, stellte Twicklehurst fest, als sie vor der imposanten Villa in der London Road standen.

Thomas betrachtete die breite Auffahrt, die Marmorsäulen am Eingang und die zu kunstvollen Figuren geschnittenen Buchsbäume im Vorgarten. »Ihr Liebhaber gibt offenbar viel Geld für sie aus.«

Die drei Männer stiegen die flachen Stufen hinauf und Thomas schüttelte das Wasser von seinem Regenschirm. Dann drehte er an der Klingel, die in der Tür eingelassen war. Sie konnten das laute Läuten durch das Haus hallen hören.

Ein Dienstmädchen öffnete ihnen.

»Inspector Young von der Metropolitan Police aus London«, stellte er sich vor. »Wir würden gern mit Miss Brown sprechen.«

Das Mädchen schaute sie mit aufgerissenen Augen an. Dann knickste es und trat zur Seite, damit die Männer hereinkommen konnten. Ohne ein Wort zu sagen, ließ sie Thomas, Green und Twicklehurst in der Eingangshalle stehen und verschwand in einem Flur hinter der Treppe.

Der Inspector sah sich in der großen Halle um. Der Boden war mit Perserteppichen bedeckt, an den Wänden waren Öllampen in Form von großen Lilien angebracht, weiße Marmorstatuen antiker Göttinnen standen in kleinen

»Inspector Young?« Eine ältere Dame kam aus dem hinteren Teil des Hauses auf sie zu. »Ich bin Mrs Founton, die Haushälterin von Miss Brown. Sie ist ausgegangen, aber ich erwarte sie jeden Moment zurück. Vielleicht möchten Sie eine Tasse Tee trinken, während Sie auf sie warten?«

Die Männer lehnten dankend ab, schließlich hatten sie auf dem Revier gerade genug von dem heißen Getränk genossen.

»Wir sollten uns aufteilen«, sagte Thomas, an seine Constables gewandt. »Es erscheint mir nicht sinnvoll, hier zu dritt untätig herumzusitzen. Sie beide suchen jetzt nach dieser Fanny, und vielleicht finden Sie ja an einem der Tatorte noch irgendwelche Indizien. Ich werde inzwischen allein auf Miss Brown warten.«

Green und Twicklehurst nickten.

»Anschließend treffen wir uns in der Old Hall Road und sprechen mit der Nachbarin der Näherin, die den Freier der Ermordeten gesehen haben will.« Thomas zog seine Taschenuhr heraus. »Sagen wir, gegen zwölf? Bis dahin sollte ich mit Miss Brown gesprochen haben.«

Nachdem seine Constables gegangen waren, nahm Thomas im Salon Platz und wartete. Er ließ seinen Blick über das Pianoforte gleiten, das vor der Verandatür stand, und über den großen Garten dahinter. Auch wenn die Beete und der Rasen im Novemberregen grau und trostlos wirkten, erkannte Thomas, dass viel Pflege und Arbeit darin steckten. Der Salon war geschmackvoll eingerichtet und ließ den Nippes und die üppigen Zimmerpflanzen

Er trat ans Fenster und musste unwillkürlich an seine Frau Anni denken. Sie hatte sich immer einen Garten gewünscht, und Thomas hatte ihr versprochen, dass er ihr eines Tages ein Haus kaufen würde, das über einen kleinen Garten verfügte. Dazu war es nicht mehr gekommen … Plötzlich hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden, und fuhr herum.

Und da stand sie. Die Frau als Dame zu bezeichnen, hätte nicht annähernd den Eindruck beschrieben, den der Inspector von ihr hatte. Es war eine erhabene Erscheinung. Sie war groß, fast so groß wie Thomas, und ihr dunkelblondes Haar war zu einer kunstvollen Frisur gesteckt. Ihre Gesichtszüge waren eben und gleichmäßig, die Haut zart und rosig. Besonders ihr Blick ließ Thomas einen Moment lang erstarren. Die funkelnden blauen Augen wirkten geheimnisvoll und sinnlich. Thomas hatte sich im Vorfeld kein Bild von Madeline Brown gemacht, aber so hatte er sie sich nicht vorgestellt.

Sie kam ein paar Schritte auf ihn zu. »Inspector? Sie wollen mich sprechen?« Ihre Stimme war dunkel und voll.

»Ja, Ma’am.« Thomas räusperte sich. »Ich möchte mit Ihnen über Molly Abernathy sprechen.«

»Wir wurden nicht darüber informiert«, erklärte Thomas. »Und wir wüssten immer noch nichts von ihrem Tod, wenn wir nicht von Mr Whittey hierhergerufen worden wären, um den Mord an Pfarrer Gerald Farwell aufzuklären.«

Miss Brown deutete auf eines der Seidensofas, die im Salon standen. »Bitte.« Sie schien über etwas nachzudenken. »Mr Whittey hat Sie wegen des Mordes an Gerald Farwell hergerufen, sagen Sie?«

Thomas nickte, während er Platz nahm.

Miss Brown setzte sich in den Sessel, der ihm gegenüberstand.

Der Inspector zog sein Notizbuch hervor. »Sie waren eine Freundin von Molly Abernathy?«

»Ja«, bestätigte Miss Brown und presste ihre Lippen zusammen.

Thomas wartete darauf, dass sie weitersprach, aber sie schwieg. Etwas schien sie zu beschäftigen. Auf ihrer Stirn hatte sich eine tiefe Falte gebildet.

»Sie haben Ihre Freundin gefunden, ist das richtig?«

Miss Brown nickte.

»Berichten Sie mir bitte, wie Sie die Leiche vorgefunden haben.«

Sie sah ihn überrascht an. »Das interessiert Sie? Ich habe die Liverpool City Police damals aufgefordert, sich um die Morde an Molly und den anderen Frauen zu kümmern, aber denen waren diese Leichen offenbar keine Untersuchung wert.«

Thomas unterdrückte ein Seufzen. Er ärgerte sich über

Miss Brown hob die Schultern und lehnte sich zurück. Ihre Brust zeichnete sich deutlich unter ihrem Ausschnitt ab. Thomas errötete und richtete schnell den Blick in sein Notizbuch. Er hatte es noch nie erlebt, dass sich eine Dame derart leger hinsetzte.

»Ich habe mir die ganze Zeit Sorgen gemacht, schon als das mit Gerda passiert ist. Sie wurde ebenfalls in ihrem Zimmer gekreuzigt. Und als Molly sich ein paar Tage lang nicht blicken ließ, wusste ich, dass etwas passiert sein musste. Ich habe Drew und seine Faulpelze darauf angesprochen, aber niemand hielt es für angebracht, nachzusehen. Und John … ein Freund von mir, hat sich geweigert, noch einmal nach London zu schreiben, um Sie mit dem Fall zu beauftragen.«

»John?«, fragte Thomas nach.

Sie winkte ab. »Als ich bei Mollys Haus ankam, war die Wohnung abgeschlossen. Eine der Frauen dort hat mir geholfen, die Tür aufzubrechen, und als ich ins Schlafzimmer kam, lag Molly tot am Boden.«

»Die Tür war verschlossen, sagen Sie?« Thomas sah von seinem Notizbuch auf.

Miss Brown nickte und spielte mit einer Haarsträhne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. »Wir haben einige Zeit gebraucht, bis wir sie geöffnet hatten.«

»Das bedeutet, dass, wer auch immer ihr das angetan hat, einen Schlüssel besaß?«, fragte Thomas.

Madeline Brown seufzte. »Er hatte den Schlüssel sicher von Molly. Sie hat ihn ja mitgenommen und muss ihm

Thomas nickte und wartete einen Moment, bis sich die Frau wieder gefangen hatte. Dann fragte er: »Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen? War irgendetwas anders in Miss Abernathys Wohnung?«

Miss Brown beugte sich nach vorn. Die Beine unter den Röcken gespreizt, stützte sie sich wie ein Mann mit den Unterarmen auf die Oberschenkel. Thomas konnte nicht verhindern, in ihren Ausschnitt und auf die Rundungen ihrer vollen Brüste zu schauen.

Sie rief: »Woher soll ich das wissen? Ich war nie zuvor bei ihr. Molly war oft bei mir zu Gast und ich glaube, sie hat sich für ihre ärmliche Unterkunft geschämt. Das alles kann Drew Ihnen genauer sagen, schließlich war er ihr Stammgast.«

»So?« Thomas zwang sich, den Blick von Miss Browns Ausschnitt abzuwenden und stattdessen in ihre Augen zu schauen, die ihm so blau vorkamen wie der Himmel an einem heißen Sommertag. »Drew war Kunde bei ihr und dennoch hat er nichts unternommen, um ihren Tod aufzuklären?«

»Darüber habe ich mich ja so aufgeregt«, rief Miss Brown und sprang wutentbrannt auf. Ihre Röcke schwangen hin und her, sie betonten ihre schlanke Taille. »Zwei andere Nichtsnutze waren da, als ich nach der Polizei schicken ließ«, sie machte eine abfällige Handbewegung, »aber als Drew davon erfuhr, hat er gar nichts getan. Bestimmt hatte er viel zu viel Angst, dass seine Frau dahinterkommen

Thomas stand auf und trat zu Miss Brown, der Tränen der Empörung über die hübschen Wangen liefen. Sie wischte sie achtlos fort.

»Und Sie?«, fauchte sie. »Sind Sie auch der Meinung, dass diese Mädchen weniger wert sind als andere?«

»Nein.« Thomas sah sie fest an und sagte mit voller Überzeugung: »Jeder Mensch ist gleich viel wert. Und es gibt gute Gründe, warum Ihre Freundinnen als Dirnen gearbeitet haben.«

»Allerdings«, sagte sie angriffslustig. Dann erst schien sie zu bemerken, dass Thomas ganz ihrer Meinung war. »Sie sind der erste Mann, dem ich begegne, der diese Ansicht vertritt.«

»Das ist beschämend für mein Geschlecht«, antwortete der Inspector.

Sie sah ihn einen Moment lang prüfend an und schien zu überlegen, ob er die Wahrheit sagte oder sich einen Scherz erlaubte.

»Sollen wir wieder Platz nehmen?«, schlug er vor.

Miss Brown nickte, und Thomas ging zurück zum Sofa. Dieses Mal setzte sie sich neben ihn. Sie zog ein Bein angewinkelt auf die Sitzfläche, sodass Thomas ihren weißen Seidenstrumpf sehen konnte, der sich verführerisch an die schmale Fessel schmiegte. Der Anblick brachte ihn einen Moment lang durcheinander, was sie offenbar bemerkte. Ein freches Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, und Thomas’ Herzschlag beschleunigte sich.

Miss Brown schüttelte den Kopf. Die kleine Grübelfalte auf ihrer Stirn tauchte wieder auf. »Nein. Nur Drew, aber das habe ich Ihnen ja schon gesagt. Der hatte einen Narren an ihr gefressen. Aber dauernd konnte er sich die Besuche bei ihr nicht leisten, denn seine Frau hält das Geld zusammen. Ich glaube, dass Molly ihn oft umsonst mitgenommen hat. Und wenn ich so darüber nachdenke …«

»Was?«, fragte Thomas, als Miss Brown schwieg.

»Er war so oft bei ihr, dass er nicht viel bezahlt haben kann. Und er hätte ihr viel Ärger machen können, wenn er gewollt hätte …« Miss Brown verzog abfällig ihren hübschen Mund. Sie streckte das angewinkelte Bein ein wenig aus, sodass Thomas noch mehr von ihrem verführerischen bestrumpften Bein sehen konnte.

Der Inspector konzentrierte sich auf ihr Gesicht. »Sie meinen also, er hat Molly erpresst?«

Miss Brown zuckte mit den Schultern. »Na ja, es kommt mir nur seltsam vor.«

»Sonst kam Ihnen aber nichts seltsam vor?« Die Sache mit Drew würde Thomas überprüfen müssen.

Miss Brown schüttelte den Kopf.

»Die Aquarelle an den Wänden«, wechselte der Inspector das Thema und deutete auf die Bilder. »Haben Sie eine besondere Verbindung zu Wooverlough Court?«

Einen Moment lang schien Miss Brown verwirrt, dann schüttelte sie den Kopf.

Sie sah ihn mit ihren blauen Augen an und Thomas sog überrascht die Luft ein. Niemals hätte er erwartet, dass eine Dame in ihrer Position so offen über ihre Lage sprach.

Er spürte, dass er errötete.

Miss Brown lachte und musterte ihn mit leicht gesenktem Kopf, was ihm einen prickelnden Schauer über den Körper jagte. »Ich werde zwar besser behandelt, aber im Grunde bin ich auch nicht anders als Molly.«

Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die vollen Lippen.

Thomas stand auf. »Ich danke Ihnen vorerst, Miss Brown.«

»Madeline.« Sie erhob sich ebenfalls. Ihr Blick heftete sich auf ihn. Mit einem leichten Lächeln sagte sie: »Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben.«

»Ja«, stammelte Thomas und wandte sich zur Tür. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich jederzeit bei mir.«

»Wo finde ich Sie?«, fragte sie mit ihrer tiefen, wohlklingenden Stimme.

»Ich …« Er hielt inne. Beinahe hätte er ihr verraten, in welchem Hotel er und seine Constables wohnten. Dabei hatte er sowieso schon den Eindruck, dass sie mit ihm flirtete, und er wollte sie darin nicht ermutigen, auch wenn ihm diese überaus attraktive Frau durchaus gefiel. Er schob den Gedanken schnell beiseite und erklärte: »Hinterlassen Sie einfach eine Nachricht für Police Inspector Thomas Young bei der Harbour Police Station. Ich komme dort regelmäßig vorbei und melde mich dann bei Ihnen.«

»Ist gut, Thomas.« Sie schenkte ihm einen letzten

»Ach, eine Frage noch, Miss Brown«, hielt er sie auf.

Sie wandte sich um und lächelte ihn an. »Madeline.«

»Madeline«, sagte er und bemühte sich um einen nüchternen Tonfall. »Kennen Sie eine Fanny?«

Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Natürlich. Sie ist eine Freundin. Auch eine Dirne, übrigens.«

»Können Sie mir sagen, wo wir sie finden?«

»Ich weiß nicht, wo sie wohnt«, sagte Madeline und hob bedauernd die Schultern. »Aber sie geht regelmäßig in Jacks Taverne.«

Thomas dankte ihr und verließ die Villa. Als er sich auf den Weg zur Old Hall Road machte, hatte er das Gefühl, dass sein Aufbruch etwas von einer Flucht gehabt hatte. Miss Brown hatte ganz offensichtlich mit ihm gespielt. Wollte sie ihn etwa durcheinanderbringen? Ihn von den wichtigen Fragen ablenken? Das war ihr tatsächlich gelungen!

Erst als er schon eine halbe Meile gelaufen war, fiel ihm auf, dass sie ihm einiges nicht gesagt hatte. Sie hatte ihn mit ihrer direkten Art derart in Verlegenheit gebracht, dass er die naheliegenden Fragen gar nicht gestellt hatte. Zum Beispiel hatte er sie nicht nach ihrem Liebhaber gefragt, der das Haus für sie unterhielt. Und auch auf die Frage nach ihrer eventuellen Verbindung zu Wooverlough Court hatte sie nur ausweichend geantwortet. Thomas hatte das untrügliche Gefühl, dass sie ihm noch viel mehr verschwiegen hatte.