Oxford, heute
Zoe war inzwischen seit zwei Monaten in Oxford, mit ihrer Promotion aber noch nicht wirklich weitergekommen. Seit dem Abend mit Charlotte hatte sie ihre Professorin immer nur flüchtig gesehen, und sie ging davon aus, dass die Idee, gemeinsam nach Wooverlough Court zu fahren, nicht ernst gemeint und nur dem Wein damals geschuldet gewesen war. Zoe hielt ständig Ausschau nach Charlotte, und wenn sie der hübschen Professorin dann wie zufällig über den Weg lief, wärmte das Lächeln, das Charlotte ihr schenkte, sie noch viele Stunden nach ihrer Begegnung. Insgeheim hoffte Zoe auf eine Bemerkung zu ihrer gemeinsamen Reise, die jedoch nicht fiel. Einerseits war sie erleichtert darüber, nicht weiter bedrängt zu werden, auf den Herrensitz ihrer Familie zu fahren, andererseits enttäuschte es sie, nicht gemeinsam mit Charlotte verreisen zu können. Denn auch wenn sie sich albern vorkam und ihr bewusst war, wie unwahrscheinlich ihre Träume waren – an diesem Abend im Pub hatte sie den Eindruck gehabt, dass zwischen ihr und Charlotte eine besondere Verbindung bestand.
In Oxford hatte sich unterdessen herumgesprochen, dass Lady Zoe, Tochter des Earl of Wooverlough und Autorin von Der Übernächste, hier promovierte, und Zoe hatte bald keine Ruhe mehr. Es prasselten Einladungen von Literaturkreisen und Lesungsanfragen auf sie herein, und sie hatte in den letzten Wochen so viele Veranstaltungen absolviert, dass sie für kaum etwas anderes Zeit fand.
Jetzt war sie auf dem Weg zum Christ Church College, wo sie in dem großen Speisesaal aus Der Übernächste lesen und anschließend Fragen beantworten sollte. Sie war spät dran, als sie die breite Steintreppe mit den ausgetretenen Stufen hinaufstieg und sich durch die Grüppchen von Studenten und Besuchern kämpfte, die auf dem Weg zur nächsten Lehrveranstaltung waren. Als sie den großen Saal betrat, blieb sie einen Moment stehen und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. An den Wänden hingen Porträts ehemaliger Dekane und Würdenträger, und durch die Buntglasscheiben der alten Fenster, die in diesem hohen Raum ganz oben angebracht waren, fiel gedämpftes Licht. Zoe kam sich auf einmal sehr klein vor. Die illustren Menschen aus vergangenen Zeiten, die an diesen langen Tischen und Bänken gegessen hatten, waren längst nicht mehr auf der Welt, aber dieser Speisesaal hatte sie alle überdauert. Eines Tages, wenn sich kaum noch jemand an Zoe und all die anderen erinnerte, die heute mit ihr hier waren, würde der Speisesaal vermutlich immer noch von Studenten benutzt werden, die hier aßen und sich unterhielten.
»Lady Zoe?«
Sie sah erschrocken auf. Zoe war so sehr in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie den Mann gar nicht bemerkt hatte, der jetzt vor ihr stand. »Ja?«
»Ich bin Professor Paul Arlon, aber bitte nennen Sie mich Paul.« Er streckte ihr eine Hand entgegen.
Zoe schüttelte sie. »Bitte nur Zoe.«
»Ich freue mich sehr, dass Sie heute an unserem College lesen werden, Zoe.« Er lächelte, und sie betrachtete das gepflegte Gesicht, die Goldrandbrille und den zurückweichenden Haaransatz. »Bitte folgen Sie mir.«
Er deutete nach vorn, zum Professorentisch. Während Zoe hinter ihm herging, musste sie sich zwischen den engen Stuhlreihen hindurchquetschen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass jeder Platz besetzt war. Als sie die Stirnseite der großen Halle erreicht hatten, wandte Paul sich um und zeigte auf die Mitte des Professorentisches.
»Wir haben Ihnen Wasser und eine Leselampe bereitgestellt, brauchen Sie sonst noch etwas?«
Zoe schüttelte den Kopf.
»Die Studenten würden sich sehr darüber freuen, wenn Sie im Anschluss noch Ihr Buch signieren würden.« Paul lächelte Zoe entwaffnend an.
»Selbstverständlich«, versprach sie und wollte gerade ihren Platz einnehmen, als Paul sie aufhielt.
»Meine Frau kennen Sie ja bereits?« Er drehte sich zu einer Person um, die im Hintergrund gestanden hatte, und Zoe sog erstaunt die Luft ein, als sie Charlotte erkannte.
»Oh.« Sie brauchte einen Moment, bis sie es begriffen hatte. Natürlich, Charlotte hieß Arlon, genau wie Paul. Und ihr Mann war der Dekan des literaturwissenschaftlichen Instituts. »Hallo.«
Charlotte lächelte, und ihre Blicke hielten sich eine Spur zu lang fest. Doch dann tippte Paul Zoe auf die Schulter und führte sie auf das Podest, auf dem sie lesen sollte, und der Zauber des Moments war verflogen. Deutlich aufgeregter als noch einen Moment zuvor nahm Zoe Platz. Während sich ihr weitere Dozenten und Professorinnen des Colleges vorstellten und ihre Begeisterung für Der Übernächste zum Ausdruck brachten, wanderte Zoes Blick hinunter zu Charlotte und Paul. Jetzt hatte sie also Charlottes Ehemann kennengelernt, und sie musste sich eingestehen, dass die beiden ein perfektes Paar waren. Sie passten nicht nur äußerlich gut zusammen, sondern waren auch am College beide sehr erfolgreich. Paul wirkte äußerst freundlich und sympathisch. Zoe hätte zu gern einen unattraktiven Mann an Charlottes Seite gewusst, denn gegen ihn kam sie sich blass und unscheinbar vor. Es wurde Zeit, dass sie sich Charlotte aus dem Kopf schlug.
Und doch war sie sich während der gesamten Lesung Charlottes Anwesenheit nur allzu bewusst. Sie sah sie ganz in ihrer Nähe an der Wand stehen und interessiert der Diskussion lauschen, die sich am Ende ergab. Paul moderierte die Veranstaltung und hatte vertiefende Fragen vorbereitet. Nach eineinhalb Stunden beendete er die Lesung. Es gab langen Applaus, und sofort bildete sich eine Schlange von Studierenden, die ihre Bücher signieren lassen wollten.
»Zoe, ich muss mich leider verabschieden«, sagte Paul und reichte ihr die Hand. »Ich danke Ihnen für die großartige Veranstaltung.«
Zoe lächelte.
»Ich werde mich in den nächsten Tagen bei Ihnen melden, denn ich möchte mit Ihnen über ein Projekt sprechen, das kurzfristig starten könnte.« Er sah auf die Uhr.
»Sehr gern«, log Zoe, die befürchtete, es gehe um eine weitere Sache im Zusammenhang mit Der Übernächste, die sie nur wieder von ihrer Promotion ablenkte.
Paul lächelte verbindlich. »Ich würde Sie gern noch zum Essen einladen, aber leider muss ich zu meiner nächsten Vorlesung, und im Anschluss habe ich noch ein wichtiges Treffen mit den Tutoren. Charlotte wird mich gern vertreten und Sie ausführen. Ich hoffe, das ist in Ordnung für Sie, sie hat mir auch versprochen, nicht über Ihre Promotion mit Ihnen zu sprechen. Heute sollen Sie sich entspannen.« Er zwinkerte ihr zu.
Zoe suchte mit den Augen nach ihrer Professorin. Sie lehnte noch immer an der Wand des Speisesaals. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte Charlotte und Zoes Herzschlag beschleunigte sich.
Nachdem Paul gegangen war, nahm Zoe an einem der vorderen Tische Platz und wandte sich den Studierenden zu. Während sie ihre Fragen beantwortete, ihren Namen in die Bücher schrieb und Komplimente entgegennahm, fieberte sie dem Abend mit Charlotte entgegen. Obwohl sie sich beeilte, dauerte es doch über eine Stunde, bis sie alle begeisterten Leser zufriedengestellt hatte. Als der große Saal endlich leer war, trat Charlotte zu ihr. Zoe hatte immer wieder zu ihr hinübergeblickt, um nachzusehen, ob sie wirklich noch da war.
»Anscheinend bin ich nicht Ihr einziger Fan in Oxford«, sagte Charlotte.
Zoe lachte aus Verlegenheit. »Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten.«
»Ich bin stolz, dass Sie bei mir promovieren.« Charlotte half ihr, ihre Sachen auf dem Pult zusammenzuräumen.
Zoe errötete. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Als sie alles in ihrer Tasche verstaut hatte, griff sie nach ihrer Jacke.
Charlotte führte sie zum Ausgang. Während sie die breite Treppe hinuntergingen, fragte sich Zoe, ob Charlotte wirklich gern ihren Mann vertrat, um mit ihr auszugehen. Aber ihre Professorin schien sich tatsächlich auf den gemeinsamen Abend zu freuen, sie wirkte jedenfalls aufgekratzt und strahlte.
Es war inzwischen dunkel geworden, auf den Straßen herrschte der typische Verkehr der Rushhour. Die beiden Frauen unterhielten sich eine Weile über die Lesung, dann fragte Charlotte schließlich: »Haben Sie einen besonderen Wunsch, wo wir hingehen sollen?«
Zoe schüttelte den Kopf. »Charlotte, ich möchte Sie wirklich nicht von Ihrem Feierabend abhalten. Ich bin sehr glücklich, dass Sie sich bereit erklärt haben, mit mir …«
»Zoe«, unterbrach Charlotte sie und blieb stehen. Sie legte eine Hand auf Zoes Arm. »Ich tue das sehr gern.«
Zoe lächelte. »Dann freue ich mich.«
Charlotte hakte sich bei ihr unter und so schlenderten sie gemeinsam durch die Stadt.
»Ehrlich gesagt, habe ich es Paul sogar vorgeschlagen, an seiner Stelle mit Ihnen essen zu gehen«, gestand die Professorin.
Zoe schaute sie an. Wieder sahen sie sich tief in die Augen.
»Ich habe unseren gemeinsamen Abend in dem Pub vor ein paar Wochen nämlich sehr genossen.« Charlotte drückte Zoes Arm ein wenig fester, und Zoe überlief eine Gänsehaut.
»Ich auch«, sagte sie leise.
Sie schlenderten ziellos durch die Straßen, an Restaurants und Bars vorbei, und jedes Mal hoffte Zoe, Charlotte würde nicht vorschlagen, hineinzugehen. Zoe genoss es, dicht an sie geschmiegt neben ihr herzugehen. Selbst durch ihren Anorak und Charlottes teuren Wollwintermantel hindurch hatte Zoe das Gefühl, Charlottes Wärme spüren zu können. Erst als es anfing zu regnen, sahen sie sich nach einem Restaurant um. Sie waren zufällig in der Nähe des Pubs gelandet, in dem sie damals schon gewesen waren, und so beschlossen sie, wieder dort einzukehren. Sie bestellten zwei Salate und Weißwein an der Theke und nahmen an einem gemütlichen Tisch in einer Ecke Platz.
»Ich habe übrigens eine Antwort von Ihrem Vater erhalten«, sagte Charlotte, während sie den Schal um ihren Hals lockerte. »Er hat mich und meine Doktorandin herzlich nach Wooverlough Court eingeladen. Wir dürfen sogar auf dem Anwesen übernachten.«
»Tatsächlich?« Zoe lachte. »Dann ahnt er also nicht, wer diese Doktorandin ist.«
»Definitiv nicht, aber er kennt offenbar meine wissenschaftlichen Arbeiten. Er hat sich sehr darüber gefreut, dass sein Vorfahre der Gegenstand unserer Forschungen ist.« Charlotte zwinkerte Zoe schelmisch zu. »Dann müssen wir nur noch einen Termin vereinbaren.«
Zoe grinste. »Er nimmt sich und seine Familie äußerst wichtig. Da haben Sie genau den richtigen Punkt bei ihm erwischt.« Dann fragte sie vorsichtig: »Haben Sie denn überhaupt Zeit dafür? Ich meine, Sie können ja nicht mit jeder Ihrer Promotionsstudentinnen auf Recherchereise gehen.«
Charlotte trank einen Schluck Wein, dann antwortete sie: »Tatsächlich habe ich das noch nie getan. Sie sind die Erste. Aber Sie sind auch keine gewöhnliche Studentin für mich.«
»Wirklich?«, rutschte es Zoe heraus und sie hätte sich am liebsten sofort die Hand vor den Mund geschlagen. Wie bescheuert, sich wie ein aufgeregter Teenager zu verhalten!
»Wirklich«, bestätigte Charlotte jedoch und sah ihr tief in die Augen.
Zoes Herz schlug so heftig, dass sie glaubte, ihre Professorin müsse es hören können. Sie griff nun ebenfalls nach ihrem Glas und drehte es zwischen den Fingern.
Wieder trafen sich ihr Blicke.
Bildete Zoe sich das nur ein, oder flirteten sie miteinander?
»Wann passt es denn bei Ihnen am besten?«, fragte Charlotte nach einer Weile.
Zoe hob die Schultern. »Ich richte mich nach Ihnen. Ich habe deutlich weniger Termine als Sie, nehme ich an.«
»Oh ja, das kann gut sein.« Charlotte lächelte. »Obwohl Sie zurzeit sehr gefragt sind. Paul möchte Ihnen einen Kurs für kreatives Schreiben anbieten.«
»Oh«, entfuhr es Zoe. »Darüber möchte er also mit mir sprechen?«
Charlotte nickte. »Finden Sie das etwa keine gute Idee?«
Zoe atmete tief durch, dann schüttelte sie den Kopf. »Es ist nicht so, dass es mir keinen Spaß machen würde, aber ich denke, dass ich mich auf meine Promotion konzentrieren sollte. Andererseits …«
»… ist eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl durchaus interessant«, beendete Charlotte für sie den Satz.
Zoe lachte. »Sie kennen meine Gedanken.«
»Das ist wirklich eine große Chance«, sagte die Professorin. »Lassen Sie sich die nicht entgehen. Und Sie sind fleißig, sonst säßen Sie jetzt nicht hier. Sie werden beides schaffen, die Promotion und die Arbeit als Dozentin.«
»Und was ist mit meinem neuen Roman?«
»Den auch.« Charlotte strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Aber zuerst fahren wir nach Wooverlough Court.«
Zoe betrachtete ihr blondes Haar, das im schummrigen Licht des Pubs schimmerte. »Was ist mit Ihren Kindern?«
Charlotte sah sie überrascht an. »Meine Kinder? Die sind schon fünfzehn und siebzehn. Ich denke, sie kommen ein paar Tage ohne mich zurecht.«
Zoe errötete. »Ach, so alt sind die beiden schon? Ich dachte, ich hätte gelesen, dass …«
»Ach das.« Charlotte machte eine wegwerfende Handbewegung, und der Brillant an ihrem Ehering funkelte. »Irgendjemand hat mal das Gerücht in die Welt gesetzt, ich hätte die Kinder erst bekommen, als ich nach Oxford kam. Aber da ist wirklich nichts dran.«
Zoe schluckte.
»Sie haben sich also über mich informiert?«, fragte Charlotte mit einem neckischen Lächeln auf den Lippen.
Zoe merkte, wie sie noch mehr errötete. »Na ja, ich habe eben geschaut, bei wem ich mich bewerbe …«
»Schon gut«, Charlotte lachte, »ich habe auch alles über Sie gelesen, was ich finden konnte.«
Zoe sah ihre Professorin erstaunt an. Hatte sie etwa auch Bilder von ihr und Mel im Netz gefunden? Dabei hatte sie bei ihrem ersten Gespräch gedacht, dass Charlotte keine Ahnung davon gehabt hatte, dass sie auf Frauen stand.
»Ich habe nur nicht die richtigen Schlüsse gezogen«, erklärte Charlotte, als hätte sie Zoes Gedanken erraten.
»Dann haben Sie also schon fast erwachsene Kinder?«, wechselte Zoe rasch das Thema.
»Ja, ich bekomme sie kaum mehr zu Gesicht. So ist es wohl, wenn Kinder älter werden. Sie gehen ihren eigenen Weg.« Charlotte machte eine Pause und schien nachzudenken. »Obwohl ich mich eigentlich nicht beschweren kann. Nathaniel und Fiona halten guten Kontakt zu uns, und ich bin stolz auf sie.«
Zoe dachte daran, dass die Kinder nur gute zehn Jahre jünger waren als sie selbst.
»Ich habe die beiden früh bekommen«, fuhr Charlotte fort. »Als Fiona auf die Welt kam, war ich einundzwanzig und noch mitten im Studium.«
Zoe lehnte sich zurück. »Es hat Ihre Karriere anscheinend nicht beeinflusst.«
Charlotte schüttelte den Kopf. »Ich war nicht mit dem Vater des Kindes verheiratet, das war ein Studienkollege. Er hat sich nie wirklich um Fiona gekümmert.«
»Und das zweite Kind? Nathaniel, richtig? Das kam, als Sie dreiundzwanzig waren?« Zoe trank noch einen Schluck Wein.
»Genau«, bestätigte Charlotte. »Meine Mutter hatte mir mit Fiona sehr geholfen, und dann habe ich in Harvard promoviert und auf einer Feier Paul getroffen. Er war damals schon Juniorprofessor …«
»Dann ist Paul der Vater Ihres zweiten Kindes?«
Charlotte nickte. »Ich bin froh über beide Schwangerschaften, auch wenn ich mich natürlich nicht bewusst dafür entschieden habe. Als es dann aber passiert war, war mir sofort klar, dass ich die Kinder auf jeden Fall bekommen wollte. Und es hätte nicht besser laufen können. Ich habe die wunderbarsten Kinder der Welt!« Sie hielt einen Moment inne und lächelte liebevoll in sich hinein. »Als Paul nach Oxford ging, habe ich mich ebenfalls hier beworben, und wir hatten Glück, dass auch ich eine Professur bekam. Meine Mutter ist mit uns hergezogen, obwohl die Kinder sie heute eigentlich nicht mehr brauchen.«
Einen Augenblick lang schwiegen sie.
»Sie sind sehr früh Mutter geworden, ohne Ihre Karriere zurückzustellen. Ich denke, damit sind Sie ein Vorbild für viele junge Frauen.« Zoe betrachtete sie von der Seite.
»Ich weiß nicht.« Charlottes schlanke Finger spielten mit ihrem Glas. »Es ist schwer, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen. Auch heute noch. Und man hat als berufstätige Mutter immer ein schlechtes Gewissen, weil man sich nicht genug um die Kinder kümmern kann und zu wenig von ihnen mitkriegt.«
In diesem Moment kam ihr Essen und sie warteten, bis der Kellner wieder gegangen war.
»Ohne meine Mutter hätte ich das niemals geschafft«, nahm Charlotte das Thema wieder auf. »Und Paul hätte bestimmt nicht auf seine Karriere verzichtet.«
Zoe stocherte in ihrem Salat. Sie hatte das Gefühl, dass etwas Ungesagtes zwischen ihnen lag. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, wechselte Charlotte erneut das Thema.
»Was haben Sie vor, Zoe, wenn Sie Ihre Promotion fertiggestellt haben? Wissenschaft oder Literatur?« Charlotte grinste und spießte eine Cocktailtomate auf die Gabel.
»Beides, wenn möglich«, erwiderte Zoe. »Ich glaube, es würde mich langweilen, nur Romane zu schreiben. Aber ganz ohne Geschichten, die ich mir ausdenke, kann ich mir mein Leben auch nicht vorstellen.«
»Dann werden wir eines Tages Kolleginnen?«, fragte Charlotte.
»Ich hoffe doch sehr«, antwortete Zoe. »Und Sie? Was haben Sie vor? Wollen Sie in Oxford bleiben?«
»Das ist eine wichtige Frage, die Sie da stellen.« Sie legte ihre Gabel zur Seite. Dann schüttelte sie den Kopf. »Oh Zoe, ich habe offensichtlich alles erreicht, was ich erreichen konnte. Sie glauben nicht, wie langweilig das ist.«
Zoe betrachtete sie einen Augenblick lang. »Oh doch«, sagte sie dann leise. »Ich kann es mir vorstellen.«
»Wirklich? Ich habe manchmal den Wunsch auszubrechen. Irgendwas Verrücktes zu tun, mit dem niemand rechnet.« Sie schmunzelte einen Moment lang, bevor sie wieder ernst wurde. »Aber ich bin vermutlich undankbar. Mein Leben ist zu glatt gelaufen. Es gibt so viele Menschen auf der Welt, denen immer wieder Steine in den Weg gelegt wurden. Und ich langweile mich, weil alles zu einfach war. Schauen Sie sich selbst an, Sie wurden von Ihrem Vater verbannt und haben trotzdem ein unglaubliches Stück Literatur geschaffen. Das ist so bewundernswert. Und ich habe Sie schon verehrt, bevor ich Ihr Schicksal kannte.«
Zoe sah Charlotte nachdenklich an. »Es strebt der Mensch, solang er lebt. Und wenn es nichts mehr gibt, wonach er streben kann, wird’s langweilig.«
»Vielleicht wäre das ein Thema für Ihr neues Buch«, lachte Charlotte.
Zoe erwiderte ihr Lachen. »Ich glaube, eher nicht.«
»Wie wäre es Ende des Monats?«, sagte Charlotte so unvermittelt, dass Zoe zunächst nicht verstand, dass ihre Professorin von dem Besuch bei Zoes Eltern sprach.
»Da spricht nichts dagegen«, antwortete sie dann.
»Ich freue mich sehr darauf, Zoe.« Charlotte sah sie an, und dieses Mal war sich Zoe sicher, dass mehr in ihrem Blick lag als das gewöhnliche Interesse einer Dozentin für ihre Studentin.