KAPITEL 11
Der Schnee erstickte alles Leben, alle Wärme unter sich. Der ganze Wald war in Weiß gehüllt, doch der Schnee in der Luft, auf den Bäumen und dem Boden vermochte die fremdartigen Geräusche nicht zu dämpfen, die ihnen ganz und gar nicht gefielen.
»Das ist ja schaurig«, murmelte Kag. »Dieses Knacken und Knarren und Flüstern.«
»Man spürt, wie alt das alles ist«, meinte Ugo ehrfürchtig. Er drehte sich um die eigene Achse und stierte in das blendende Schneegestöber. »Älter als jeder Wald, in dem ich je gewesen bin. Ein Waldgott …«
»Schlimmer als diese gottverfluchten Boote kann der Wald auch nicht sein«, murmelte Sib, und niemand widersprach ihm. Nur der Wanderer hatte gewusst, wie man die eigenartigen, aus Weidenruten und Fellen gefertigten Wasserfahrzeuge vorwärtsbewegte und lenkte. Sie hatten versucht, es ihm nachzumachen, sich aber immer wieder hilflos im Kreis gedreht, bis sie endlich ihr Ziel erreichten. Niemand freute sich auf die Rückfahrt. Drust fürchtete, ihre Feinde würden, sobald sie feststellten, dass jemand das dargebrachte Opfer geraubt hatte, mit diesen Booten viel schneller unterwegs sein und sie auf der Flucht abfangen.
»Mach dir deswegen keine Sorgen«, meinte Colm zuversichtlich.
»Sprecht leise«, zischte der Wanderer und blickte sich nach allen Seiten um. Colm lachte nur. Einen Moment lang schien er einen vielsagenden Blick mit dem alten Fährtenleser zu wechseln, was Drusts Unbehagen verstärkte. Dann deutete Colm nach vorne, und Drust blickte mit zusammengekniffenen Augen in den Schnee, sah die Lichtung und einen verwitterten Eichenstumpf.
An dem Baumstumpf hingen die Überreste von Girlanden aus Weidenruten, Wollfäden und Bändern, alten Knochen und silbernem Flitter. Der Platz rund um den Baumstumpf sah aus wie vom Aussatz befallen, als könnte noch so viel Schnee nicht den dunklen Fleck aus altem Stroh und Dung bedecken. Drust wollte gar nicht wissen, was hier noch alles verrottete, und sah in Gedanken Bilder von Zähnen und Hörnern und Feuer.
Tief geduckt schlichen sie weiter, als plötzlich ein unheimlicher, schmetternder Ton über die verschneite Landschaft schallte. Er schien von überall zugleich zu kommen, doch Colm deutete nach rechts, als wisse er bereits, womit sie es zu tun hatten.
»Sie kommen«, erklärte er. Drust erkannte nun, dass der Ton von Hörnern stammte. Die Antwort darauf, dieses metallische Brüllen, kam von der anderen Seite aus den Tiefen des Waldes. Ugos Herz hämmerte wie wild. Er breitete die Arme aus, die Axt in einer Hand, als wolle er das große Unbekannte empfangen. Den Gott des Waldes. Tyr und Vithar. Gna und Ing …
»Still«, fauchte Sib. »Es müssen nicht gleich alle wissen, dass wir hier sind.«
Drust und die anderen sahen es ebenso, bis Colm so dicht herankam, dass Drust seinen Atem im Nacken spürte.
»Es kann sein, dass wir kämpfen müssen.« Seine Worte waren wie ein Schlag in die Magengrube. Drust starrte Colm ungläubig an – der grinste nur, zumindest krümmte er die Lippen, sodass sein bizarres Maskengesicht einen spöttischen Ausdruck annahm.
Er trat auf die Lichtung hinaus. Das Zischen, mit dem Colms Schwert aus der Scheide glitt, nahm Drust jede Hoffnung, jemals die Wahrheit zu erfahren.
»Und vielleicht ist es gar nicht meine Schwester.«
Vorsichtig und neugierig traten die Krieger aus dem Schneegestöber. Drust sah, dass es viele waren, mindestens ein Dutzend, wenn nicht mehr, und diesmal keine bewaffneten Bauersleute. Diese Männer waren mit Kettenhemden und vergoldeten Helmen ausgerüstet, mit rechteckigen Schilden und guten Speeren, die Elitetruppe eines Kriegshäuptlings oder Königs.
Oder einer Königin. Sie schritt in der Mitte, von ihren Kriegern umringt, in einen roten Mantel mit Kapuze und edle schneeweiße Wolle gekleidet. Sie trug einen Kranz mit Misteln und Beeren. Einige Krieger streuten Getreidegarben auf den Boden.
Opfergaben. Nicht seine Schwester …
Colm trat ihnen mit einem grimmigen Lächeln entgegen, in jeder Hand ein kurzes Legionärsschwert. Die Krieger reagierten mit mörderischem Gebrüll auf die Schändung ihrer heiligen Stätte. Mit dem Speer voran stürmten sie los. Für Drust und die anderen gab es nur noch eines: zu kämpfen wie die Wölfe.
Der Erste griff Drust an. Er stieß mit seinem Speer zu, Drust wich aus, schlug die Speerspitze zur Seite und versuchte seinerseits anzugreifen, doch der Krieger erkannte seine Absicht und wich zurück. Ein Zweiter kam auf ihn zu. Quintus sprang ihm bei, sein kurzes Schwert und den kleinen Schild erhoben.
Colm schlüpfte in die Rolle des Dimachaerus, auch wenn ihm der richtige Helm und die übrige Ausrüstung dieses Gladiators fehlten – dafür verfügte er über die beiden entscheidendsten Dinge: zwei Schwerter und seine tödlichen Fähigkeiten. Während Drust und Quintus die Angriffe der Speerträger abblockten und geduldig auf eine Gelegenheit warteten, um selbst zuzustoßen, ging Colm wie ein Wildschwein mit seinen Hauern auf den Feind los. Aus dem Augenwinkel beobachtete Drust, wie Colm mit einem Schwert einen Speerstoß abblockte und das andere dem Mann ins Gesicht rammte. In diesem Moment griff Drusts Gegner aufs Neue an – und er musste sich wieder auf seinen eigenen Kampf konzentrieren.
Aus dem Wald hörte Ugo erneut das metallische Brüllen, das sich in den Kampfeslärm rund um den alten Eichenstumpf mischte. Ugo war bereit – er wartete auf den Herrn des Waldes. Aus der Ferne hörte er jemanden seinen Namen rufen.
»Ugo!« Es war Kag. »Ugo, du verrückter Scheißkerl – die Pompa ist vorbei, das Tor des Lebens steht offen. Wir könnten hier ein bisschen Hilfe gebrauchen.«
Er hätte noch mehr gesagt, sparte sich seinen Atem jedoch für den Kampf, duckte sich unter dem feindlichen Speer hindurch und rammte dem Angreifer das Schwert in den Fuß. Während der Mann vor Schmerz aufheulte und herumhüpfte, stieß Kag nach oben und durchbohrte ihm die Kehle. Blut spritzte auf ihn herab, und er fluchte, als er einen Moment lang nichts mehr sehen konnte.
Drust und Quintus kämpften keuchend, riefen einander Warnungen zu und schafften es schließlich, zwei Speerkämpfer zu töten. Die Krieger ahnten nun, womit sie es zu tun hatten, und hörten auf, wie alte Helden zu kämpfen. Sie zogen sich zurück und formierten sich –mit Schaudern erkannte Drust, dass sie einen Schildwall bildeten.
Er und die anderen wichen nach beiden Seiten aus, während Colm unbeirrt weiterkämpfte. Tief geduckt sprang er auf einen Krieger zu und versetzte ihm einen tödlichen Hieb. Im nächsten Moment hob er den Kopf und blickte sich suchend nach der Frau um, die bereits zurück zu den Booten geführt wurde, mit denen sie gekommen waren.
Drust stand im blutgetränkten Schnee und suchte verzweifelt nach einem Weg, den feindlichen Wall zu durchbrechen. Es waren sechs oder sieben Mann, nicht mehr, sie bildeten allerdings eine solide Front und zogen sich Schritt für Schritt zurück.
Hinter sich hörte Drust ein Bersten und Krachen, als würde ein mächtiger Baum gefällt. Als er sich umdrehte, sah er Ugo immer noch mit ausgebreiteten Armen dastehen wie ein Gekreuzigter. Hinter ihm … ein Bild des Schreckens.
Es war größer als drei Männer, mit einem Kopf so riesig wie ein kleines Haus, und Hörnern, deren Ansatz so dick war wie Ugos Taille. Rötliche Haare hingen wirr über die Augen – falls dieses Monster Augen besaß. Weißer Dampf stieg aus den Nüstern, und die Eiszapfen, die daran hingen, hatten die Form von langen Reißzähnen.
Ugo betrachtete es gebannt. Er sah nichts anderes mehr, hörte nur noch das Rauschen seines eigenen Bluts. Der Herr des Waldes war zu ihm gekommen. Zu IHM. Der Herr des Waldes forderte ihn heraus – nun musste er beweisen, dass er der Aufgabe gewachsen war.
Kag sah zu, wie der germanische Hüne die Arme zusammenführte und die Axt mit beiden Händen packte – und ihm wurde schlagartig klar, was Ugo vorhatte. Er brüllte ihm zu, es nicht zu tun, doch Ugo hörte ihn nicht einmal. Sib wollte vorspringen und ihn zurückhalten, doch er rutschte in dem blutigen Schneematsch aus und fiel auf die Knie.
Ugo machte zwei Schritte vor, und der mächtige Bulle blieb stehen, senkte den Kopf und wiegte ihn hin und her und blies seinen dampfenden Atem in die Luft. An einem Horn trug er eine alte Girlande. Er schien auf etwas zu warten.
Ugo schwang die Axt über dem Kopf, stieß einen wilden Kriegsruf aus und schlug zu. Er spürte, wie die Waffe sich in den Schädel grub, und im nächsten Moment waren seine Hände leer. Er starrte auf den zersplitterten Axtstiel, das Ende weiß wie ein Knochen, die Schneide im Kopf der Bestie versenkt.
Der Stier stieß ein wütendes Brüllen aus, und sein stinkender, heißer Atem ließ Ugo zurücktaumeln. Blut strömte aus der klaffenden Kopfwunde, als das Untier seine mächtigen Hörner senkte und losstürmte.
Quintus sah das Unvermeidliche kommen, sprang vor, packte Ugo an seinem Umhang und zerrte ihn zur Seite. Das mächtige Tier donnerte schnaubend und Schnee aufwirbelnd vorbei. Ein Horn traf Ugo und brachte ihn ins Straucheln, wobei er Quintus mit sich riss.
Drust und die anderen wichen hastig zur Seite, doch der Schildwall zögerte einen Moment zu lang. Der Stier pflügte mitten hindurch, als wären die bewaffneten Krieger nur lästiges Gestrüpp. Brüllend schüttelte er sein Haupt hin und her, sodass das Blut aus der klaffenden Wunde spritzte.
Colm folgte der Bestie und rief Drust und den anderen zu mitzukommen. Mitten in dem Getöse stieß Sib mit hoher Stimme schrille Klagelaute aus, auf die das Tier aus irgendeinem Grund reagierte. Es scharrte mit den Hufen, brüllte auf und trottete in die Richtung der Melodie. Sib hüpfte und tänzelte und heulte dabei seine schaurige Totenklage, die sie alle so gut kannten. Die Frauen der Wüste stimmten sie an, bevor sie die Gefangenen, die ihre Krieger mitgebracht hatten, mit dem Messer ausweideten.
»Die Frau darf nicht entkommen«, rief Colm. »Schnell, zu den Booten.«
Die Königin stand ganz ruhig am Seeufer, in einer stolzen, aufrechten Pose, doch Drust sah, dass sie Mühe hatte, ihr Zittern zu unterdrücken.
»Keine Angst, im Namen aller Götter«, rief er in der alten Sprache seiner Mutter und sah, dass sie ihn zumindest teilweise verstand. Doch ihr verächtlicher Blick verriet ihm, was sie von seinen Worten hielt. Ihre Männer lagen tot oder verwundet im blutigen Schnee. Ihr geschändeter Stiergott zog eine Blutspur hinter sich her und tobte vor Wut, während Sibs Schreie ihn anlockten. Ihre Feinde, vom Blut und den Eingeweiden ihrer besten Krieger besudelt, drohten sie in ihre Gewalt zu bekommen.
Der Wanderer eilte herbei. Als die Frau ihn sah, stieß sie etwas hervor, das wie ein Fluch klang. Er zuckte nur mit den Schultern. Kag stieg über die Toten hinweg und beendete das gequälte Stöhnen eines Verwundeten mit einem schnellen Hieb. Irgendwo hinter ihnen stob der Stier durchs Unterholz.
Drust wandte sich um und wusste augenblicklich, worauf es die Bestie abgesehen hatte.
»Sib.«
Kag winkte mit der Hand ab. »Er ist schnell und kennt diese Biester. Er hat im Maximus die Leute unterhalten, indem er solche Bullen gereizt hat.«
Er blickte zu den Booten, die am Ufer vertäut waren. »Sieh dir das an – Boote mit spitzem Bug. Hilf mir mal, das Futter auszuladen, dann machen wir, dass wir wegkommen.«
Drust sah, dass die Boote mit Winterheu und Wurzelgemüse beladen waren. Der frische Kranz, den die Frau mitgebracht hatte, lag auf dem Boden. Sie waren wie immer in dieser Jahreszeit gekommen, um dem Stier ihre Gaben zu bringen – vor allem Futter für den Winter. Kein Wunder, dass er so gut genährt und riesig war.
Die Frau war kein Opfer, sondern eine Priesterin oder Königin, wie der Wanderer zögernd bestätigte.
»Sie ist die Königin des Stierstamms«, erklärte er und leckte sich über die trockenen Lippen. Kag forderte ihn auf, die Frau zu fesseln, doch dann bemerkte er Drusts eigenartigen Gesichtsausdruck.
»Dafür ist jetzt keine Zeit«, warnte Kag, doch Drust lief bereits los und blickte sich suchend um. Er hatte nur einen Gedanken: Colm hatte sie alle hintergangen. Wieder einmal. Drust rannte aufs Schlachtfeld zurück und sah Colm auf den Knien – er drückte seinem verwundeten Gegner die Daumen in die Augäpfel. Der Mann schrie verzweifelt, konnte sich in seinem halbtoten Zustand jedoch nicht mehr wehren. Die Schreie gingen Drust durch und durch.
»Colm, du Dreckskerl.«
Es kam keine Reaktion. Die Daumen bohrten sich immer tiefer in die Augenhöhlen, bis die Augäpfel mit einem hässlich glitschigen Geräusch nachgaben. Der Mann zuckte im Todeskampf.
»Schau mich an, du verlogener Hurensohn.«
Als Colm sich endlich zu ihm umdrehte, kam sich Drust vor, wie von einem Wirbelsturm erfasst. Er blickte in Colms Maskengesicht – es war blutverschmiert, die Augen zwar offen, aber leblos und leer. Er sah aus wie ein Geist, ein Untoter, als er sich langsam erhob, die Lippen zu einem Zähnefletschen verzogen.
Kag legte Drust die Hand auf den Arm und zog ihn beiseite.
»Colm, sieh mich an«, sagte Kag ruhig. »Sieh mich an.«
Colm schwankte einen Moment lang, Gesicht und Hände bluttriefend. Vor ihm auf dem Boden zuckte der Krieger noch einmal und stieß ein letztes Stöhnen aus.
»Sieh mich an.«
Colm wandte sich zu Kag um. Der nickte. »Lass ihn. Wir müssen los. Mit der Frau.«
Quintus und Ugo näherten sich taumelnd. Colm wiegte den Kopf hin und her wie ein Ochse, der geopfert werden sollte.
»Er ist tot«, murmelte er ungläubig.
Quintus blickte auf den Mann am Boden. »Wie bist du darauf gekommen?«, erwiderte er spöttisch. »Weil du ihm die Eingeweide herausgerissen hast? Ihm die Augen eingedrückt hast? Oder weil er nicht mehr atmet?«
»Calvinus«, murmelte Colm tonlos. »Er ist tot.«
»Schon lange, du verrückter Scheißkerl«, stieß Drust hervor, doch Kag warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Hilf uns, das Futter aus den Booten zu schaffen. Wenn der Stier zurückkommt, schaffen wir vielleicht mit dem Getreide, was Ugo mit seiner Axt nicht geschafft hat.«
»Ich habe gegen den Herrn des Waldes gekämpft«, erklärte Ugo, in die Richtung blickend, aus der das Brüllen kam. »Ich habe die Herausforderung angenommen – es war ein ehrenvoller Kampf.«
»Jedenfalls bist du stehend daraus hervorgegangen«, erwiderte Quintus. »Gut gemacht – jetzt komm mit zu den Booten.«
Sie beeilten sich, das Getreide aus den Booten zu schaffen, und setzten die Frau in eines davon. Colm tauchte den Kopf ins eisige Wasser und wusch sich das Blut ab, so gut es ging. Nachdem sie sich alle gesäubert hatten, schien Colm wieder einigermaßen bei Sinnen zu sein; er hockte schweigsam im Boot und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, wie um einen Schleier wegzuziehen.
»Wir sollten abhauen«, meinte er schließlich.
»Nicht ohne Sib«, erwiderte Kag.
»Je länger wir warten, desto näher kommen die Verfolger heran«, warnte Colm, war jedoch zu erschöpft, um zu protestieren, als Kag ihn einfach verächtlich ignorierte.
Wenig später kam Sib angerannt, keuchend und mit wildem Blick. Noch nie hatte Drust seine Augen so groß und weiß und rund gesehen. Er sprach kein Wort, seufzte nur erleichtert, als er sah, dass sie noch da waren, und schwang sich in ein Boot.
Sib schwieg immer noch, als sie sich vom Ufer abstießen, um zu ihren Maultieren zurückzurudern. Wortlos blickte er in die Richtung, aus der das ferne Brüllen kam. An seinem Zittern war nicht allein die Kälte schuld.
Sie tauchten in den weißen Nebel aus Schneeflocken ein.
Drust saß zusammen mit Kag und dem Wanderer im Boot, sie ruderten aus Leibeskräften, bis ihre Angst nachließ und die Kräfte erlahmten. Eine Weile glitten sie übers schwarze Wasser, schwitzend und Atemwolken ausstoßend.
Hinter ihnen tauchte immer wieder einmal das Boot mit Colm, der Frau und Quintus aus dem Schneevorhang auf, hinter dem sie für Augenblicke verschwunden waren.Drust wandte sich an den Wanderer, seine Stimme so kalt wie das Wasser. »Du hast davon gewusst. Diese Frau – wer ist sie? Ist ihr Name wirklich Beatha?«
Der Wanderer kauerte sich zusammen wie ein Fötus und nickte. »Sie ist die Stammesmutter, die Königin.«
»Auch eine Art Priesterin?«, warf Kag ein.
Der Wanderer zuckte die Schultern. »Göttin trifft es besser, aber wer kann das bei diesen Leuten schon so genau sagen?«
»Jedenfalls nicht Colms Schwester«, murmelte Drust bitter, und der Wanderer nickte.
»Was will er mit ihr?«, fragte Kag.
»So können wir ihren Stamm zwingen, mit uns zu verhandeln«, erklärte der Wanderer. »Sie werden nicht angreifen, wenn …«
Er stockte, blickte schweigend ins Wasser.
Drust sah ihn mit einem wölfischen Grinsen an. »Wenn ihr felltragenden Scheißkerle euch im Sommer gegen die Römer erhebt«, brachte er den Gedanken zu Ende.
Kag spuckte ins Wasser. »Fortuna steh euch bei. Die Armee wird euch mit Haut und Haaren auffressen und die gebrochenen Knochen ausspucken.«
»Was hindert die Stierkrieger daran, euch anzugreifen, sobald ihr ihre Herrscherin zurückgegeben habt?«, fragte Drust.
Der Wanderer sah ihn ungläubig und verächtlich an. »Der Eid. Niemand bricht einen Eid.«
»Nachdem ihr ihre Königin geraubt habt? Außerdem hat Ugo vielleicht ihre Riesenkuh getötet.«
Der Wanderer zuckte mit den Schultern. »Das wird später verhandelt.«
Sie glitten auf die ruhige Silhouette des Pfahlhauses zu, in dem die Toten in der Kälte lagen. Drust wollte nicht daran denken, wie es im Inneren aussah. Ugo und Sib holten die Maultiere aus dem Stall.
Jetzt wandte sich Drust an Colm. »Du hast wieder einmal gelogen.«
Colm zuckte die Achseln. »Ich dachte mir, ihr würdet mir eher helfen, wenn ihr denkt, dass es um meine Schwester geht. Außerdem ist ja alles gut ausgegangen, jedenfalls für uns. In den nächsten Jahren möchte ich aber nicht in Talorcs Haut stecken – diese Frau wird das nicht so schnell vergessen.«
Er zog an der Lederleine, die mit den gefesselten Händen der Königin verbunden war. Sie stolperte ein paar Schritte vor, warf ihm einen vernichtenden Blick zu und sprach mit schriller, drohender Stimme. Colm zeigte ihr nur die Zähne.
»Sie hat mir geschworen, dass mein Schwanz sich aufrollen und abfallen wird, und noch ein paar andere hübsche Flüche«, erklärte er.
»Dasselbe verspreche ich dir auch«, erwiderte Drust mit ruhiger Stimme, »Und ich werde ihn so weit von deinem Kadaver wegwerfen, wie ich kann, wenn du uns noch einmal in eine solche Gefahr bringst. Bei Jupiters Eiern, das schwöre ich dir.«
»Den Schwur kannst du nicht halten«, erwiderte Colm. »Nicht einmal an deinem besten Tag.«
»Dann halte ich ihn eben«, warf Kag leise ein. »Oder wir alle zusammen. Wir haben es schon einmal getan und hätten es zu Ende bringen sollen, statt dir bloß ein paar Knochen zu brechen …«
»Das reicht jetzt«, trat Quintus dazwischen, ehe er mit einem breiten Grinsen hinzufügte: »Obwohl es ein hübscher Gedanke ist. Wärmt einem das Herz an einem kalten Tag – aber dafür ist jetzt keine Zeit. Wie geht es jetzt weiter, Colm?«
Die Spannung löste sich nach und nach. »Wir schicken den Wanderer zurück – dann werden Julia Soaemias und ihr Sohn hergebracht, und wir machen den Austausch …«
»Sie werden über uns herfallen, sobald wir die Königin herausgegeben haben«, meinte Drust. »Am besten lassen wir sie erst gehen, wenn wir römische Mauern in Sichtweite haben.«
»Darauf werden sie sich nicht einlassen«, meinte der Wanderer unbehaglich.
Drust warf ihm einen eindringlichen Blick zu. »Dann sorg dafür, dass sie es akzeptieren. Wofür haben wir die Kühe fütternde Druidin geraubt?«
»Druiden sind nur Männer«, erwiderte Ugo, der mit den Maultieren zu ihnen stapfte. »Sie sind sogar …«
»Verpiss dich«, schnauzte Kag und klopfte ihm auf den Arm. Der germanische Riese machte ein finsteres Gesicht und zurrte das Gepäck auf den Maultierrücken fest. Drust sah ihn zusammenzucken, als hätte er Schmerzen.
Colm blies die Backen auf und zerrte an der Leine. »Jetzt kommt der schwierige Teil.«
»Es wird gleich dunkel«, gab Sib zu bedenken. »Wir sollten warten, bis es wieder hell wird.«
»Bis dahin hätten sie uns eingeholt«, erwiderte Kag, doch allen war klar, dass Sib recht hatte. Die tief hängenden Wolken verdunkelten jetzt schon den Tag, und bald würde die Nacht hereinbrechen.
»Ich bleibe ganz bestimmt nicht hier«, entschied Ugo, sein Gesicht von Schmerz und Entsetzen gezeichnet. Der Wind stimmte ihm raunend zu.
»In der Nacht kommen wir bei diesem Wetter nicht weit«, meinte Quintus.
Drust blickte zu Colm. »Das müssen wir auch nicht. Colm kennt sicher einen Unterschlupf nicht weit von hier.«
Colm nickte, und Kag warf Drust einen schnellen Blick zu. »Diese Stierkrieger werden uns jagen. Wir haben ihre Königin geraubt und beinahe ihren Stiergott getötet. Hier können wir unmöglich bleiben.«
Drust überlegte einen Moment. Niemand hatte überlebt, weder hier noch auf der Insel, auf der sie die Königin geraubt hatten. Ihre Stammesangehörigen würden erst reagieren, wenn sie merkten, dass etwas nicht stimmte, und bis dahin würde es längst Nacht sein. Mit etwas Glück würde sogar der Schneesturm noch toben. Erfahrene Krieger würden auch bei Nacht und Sturm losziehen, aber allzu schnell würden sie nicht vorankommen. Drust war überzeugt, dass sie noch mehr Boote besaßen, mit denen sie zur Insel gelangen konnten. Dort würden sie die Toten finden, doch im Dunkeln würde sich schwer feststellen lassen, was geschehen war, zumal einige Krieger ganz offensichtlich vom Stier niedergetrampelt worden waren. Möglicherweise hatte sich die Bestie noch nicht beruhigt und lief immer noch vor Schmerzen brüllend durch die Gegend.
»Vielleicht werden sie feststellen, dass die Königin nicht unter den Toten ist«, erklärte Drust. »Sie werden nicht länger als nötig auf dieser Insel bleiben wollen, schon gar nicht nachts, also werden sie hierher zurückkommen und vielleicht das Ufer absuchen. Den Platz hier kennen sie, außerdem wird den armen Schweinen, die man losgeschickt hat, jeder Vorwand recht sein, um sich irgendwo aufzuwärmen.«
»Ein Grund mehr, schleunigst zu verschwinden«, brummte Colm. »Ich kenne einen Unterschlupf, einen halben Tagesmarsch von hier.«
Drust schüttelte den Kopf. »Das ist zu weit, im Dunkeln und bei diesem Wetter. Wir könnten im Kreis laufen, wie es uns einmal in der Wüste passiert ist, als wir in einen Sturm gerieten und die Sterne nicht mehr sehen konnten. Wir brauchen einen einigermaßen warmen Unterschlupf, zumindest für eine Weile, und wir brauchen Tageslicht, um ein bisschen Himmel und deinen Sonnengott zu sehen. Hier können wir auch Feuer machen, weil die Krieger, die herkommen, genau das erwarten werden.«
»Ich gehe nicht in dieses Pfahlhaus«, murmelte Quintus. Keiner wollte das, doch es war auch nicht nötig, das Haus zu betreten. Sie konnten sich in den Nebengebäuden einquartieren und es so aussehen lassen, als wären hier Wärme, Schutz und Verpflegung zu finden. Wenn die Krieger dann halb erfroren aus der Dunkelheit hereingestolpert kämen, würde nur der Tod auf sie warten.
»Sobald wir etwas sehen können, brechen wir unverzüglich auf«, fügte Drust hinzu.
Die Königin wandte sich an Colm und stieß etwas hervor – der lächelte und übersetzte es für die anderen.
»Sie sagt, wir wären alle tot, wenn wir sie nicht sofort freilassen. Sie hat noch mehr gesagt, aber das ist das Wesentliche.«
»Da könnte sie recht haben«, grummelte Ugo und stapfte davon, um die Maultiere zurück in den Stall zu bringen. Das Gepäck würde er ihnen jedoch nicht abnehmen, damit sie im Morgengrauen sofort aufbrechen konnten.
Quintus trat an Drusts Seite und flüsterte ihm zu: »Unser Riese ist verwundet. Schwer sogar. Er will es nicht zeigen, aber er hat innere Verletzungen – das Biest hat ihn mit dem Horn erwischt. Er spuckt Blut, wenn er glaubt, dass es keiner sieht.«
Drust wandte sich an Colm, der es ebenfalls gehört hatte.
»Ich hoffe, das ist es wert.« Drust deutete mit einer abfälligen Geste auf die Stammeskönigin.
»Für mich hat sie überhaupt keinen Wert«, erwiderte Colm, »aber für Talorc ist sie wichtig, deshalb kriege ich für sie das, worum es mir geht.«
»Die Sonnengöttin und ihren Spross«, murrte Quintus. »Und was dann? Was machst du dann?«
»Wir «, erwiderte Colm, »wir werden sie nach Eboracum bringen und unsere Belohnung einfordern.«
»Wer hat es auf die beiden abgesehen?«, hakte Drust nach. »Wer will ihren Tod – und wer will sie retten?«
Colm zuckte mit den Schultern. »Ich will sie retten. Mehr müsst ihr nicht wissen.«
Er trat in ein Nebengebäude, die anderen folgten ihm. An der Tür hielt Kag Drust am Arm zurück.
»Ich glaube, in Eboracum wird er uns hintergehen. Jetzt braucht er uns noch, um seine Schützlinge sicher hinzubringen. Ich frage mich, was hat ein Kerl wie Colm mit einer römischen Sonnenpriesterin und einem Jungen zu schaffen, der dem Kaisersohn wie aus dem Gesicht geschnitten ist? Und wenn du dir ansiehst, was Colm mit seinem Gesicht angestellt hat … Ist der Kerl verrückt?«
»Musst du das wirklich fragen?«
Sie setzten sich ans Feuer und genossen die Wärme wie ein Geschenk der Götter. Sib kochte einen Eintopf mit Kräutern und Gewürzen, die er aus irgendwelchen Innentaschen seiner Kleidung hervorholte, wo die Körperwärme sie trocken hielt.
Sie aßen im flackernden Licht, während die Tiere das Futter fraßen, das im Stall vorrätig war. Für die Tiere der Einheimischen würde kaum noch etwas übrig bleiben, und sie würden zwangsläufig verhungern. Ab und an reckte Quintus den Kopf und spähte in die Dunkelheit zum Pfahlhaus hinüber, das von eingefrorenem Blut getränkt war. Wahrscheinlich hört er die Schreie eines kleinen Kindes , dachte Drust – auch er selbst konnte sie nicht vergessen.
Die Königin saß teilnahmslos da und weigerte sich, etwas zu essen. Colm nahm es mit einem Achselzucken zur Kenntnis. »Sie wird nicht lange genug bei uns sein, um zu verhungern. Danach ist es Talorcs Problem.«
Der Wanderer hielt zusammen mit Kag Wache, während Ugo sich, auf einen Ellbogen gestützt, ausruhte. Flach zu liegen schien ihm Schmerzen zu bereiten. Er tat es mit einer wegwerfenden Geste ab, ebenso den Umstand, dass er so schweigsam war.
»Ich trauere um meine Axt«, erklärte er.
Er konnte niemanden täuschen, nicht einmal die Stammeskönigin. Als der Wanderer zurückkam, sprach sie mit ihm – in einem Ton, so kalt wie Drusts Rücken.
»Sie sagt, der Riese wird sterben«, übersetzte der Wanderer. »Sie meint, der Vater des Waldes holt ihn zu sich.«
»An ihrer Stelle würde ich mir mehr Sorgen um den Vater des Waldes machen«, erwiderte Drust grimmig. »Der läuft nämlich mit einer Axt im Schädel herum.«
Mit Genugtuung beobachtete er, wie die Frau zusammenzuckte, doch es war ein billiger Triumph, wie ihm im nächsten Augenblick klar wurde. Die Königin sprach ein paar Worte, dann faltete sie die Hände im Schoß und stierte in die Dunkelheit. Der Wanderer strich sich den Bart und übersetzte, was sie gesagt hatte.
»Ihr werdet Mag Mell niemals finden. Ihr seid dazu verurteilt, ewig umherzuirren.«
Mag Mell war ein Name, der Drust wehtat. Seine Mutter hatte ihm in jenen kostbaren nächtlichen Stunden davon erzählt, und Drust hatte nicht geahnt, dass sie ihn auf ihr Hinübergehen vorbereitete. »Mag Mell«, hatte sie geflüstert. »Die Ebene der Freude.« Es gab noch andere Namen dafür – Land der Äpfel, Ort der ewigen Jugend, Silberwolkenfeld –, doch sie alle bedeuteten letztlich das Gleiche: die Befreiung von Knechtschaft und Sklaverei.
Drust betrachtete die Frau, sah etwas in ihr, das ihn an seine Mutter erinnerte, und spürte den alten Schmerz des Verlusts.
»Kneble sie«, forderte er den Wanderer auf, »damit sie nicht schreien kann, wenn die anderen kommen.«
Drust ging zurück ans Feuer und ließ sich die Brust rösten, während sein Rücken weiterhin eiskalt blieb. Kag und Colm hatten sich bereits niedergelassen. Kag wollte wissen, was die Frau gesagt hatte, also erzählte Drust es ihm.
Kag grunzte abfällig. »War eine gute Idee, sie zu knebeln.«
Eine Weile saßen sie schweigend da und starrten auf irgendwelche Bilder, die sie in den Flammen sahen. »Glaubst du, es gibt so etwas?«, fragte Drust schließlich.
»Was?«
»Ewigkeit. Ich meine, ruft Kronos dich irgendwann zu sich, oder holen dich Dis Pater und Pluto in die Unterwelt?«
Colm stieß ein knurrendes Lachen aus. »Was ist das denn für eine Frage? Man merkt, dass du nicht mehr in der Arena stehst und auch nie ein richtiger Kämpfer warst.«
»Zum Hades mit dir, Colm«, schnauzte Kag zurück. »Du hältst dich wohl für was Besonderes, weil du ein Mal einen Kampf auf Leben und Tod ausfechten musstest, was? Jeder von uns hat in der Arena sein Leben aufs Spiel gesetzt.«
»Was sagen deine Philosophen dazu?«, hakte Drust nach, der keinen Streit an diesem wohltuenden Feuer wollte.
Kag gab nach und überlegte einen Moment. »Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, weil der Fluss nicht mehr derselbe ist, genauso wenig wie der Mensch«, erklärte er schließlich. »Das hat Heraklit gesagt.«
»Ein Grieche«, bemerkte Colm abfällig.
»Die meisten guten Philosophen stammen aus Griechenland – aber für dich habe ich auch etwas von Cicero: Das Leben der Toten geht über in die Erinnerung der Lebenden.«
»Also gibt es so etwas wie Ewigkeit nicht? Und das soll ich diesem Cicero glauben, dessen Name ›Kichererbse‹ bedeutet?«
Kag zuckte die Schultern. »Haben dich die Worte dieser felltragenden Königin so verstört?«
»Ich habe alles gesehen – Menschen kommen zur Welt, leben ihr Leben, ob kurz oder lang, und sterben.« Colm stierte einen Moment lang in die Flammen, während die anderen über seine plötzliche Nachdenklichkeit staunten. »Es ist immer die gleiche Erfahrung, die ich gemacht habe. Noch nie ist jemand zurückgekehrt, der einmal hinter den Vorhang des Todes getreten ist, aber ich weiß, dass dieser Vorhang nur ein dünner Schleier ist. Der Tod kann ihn jederzeit zerreißen, es kann jeden Augenblick passieren – und dann bist du in einem Moment noch hier, im nächsten … woanders.«
Sie starrten ihn perplex an, während die Flammen sein Maskengesicht blutrot färbten. Er hob den Kopf und blickte in die Runde.
»Alles, was wir haben, ist unser Glaube an die Götter, und Glaube ist nicht Wissen. Wer kann schon von sich behaupten, die Wahrheit zu kennen, wenn sie sich nie offenbart?«
»Und doch glaubst du an diesen Goldjungen«, brachte Kag heiser hervor. »Du tust das alles für ihn. Siehst du in ihm das Geheimnis der Ewigkeit?«
Colm riss seinen Blick von ihnen los und starrte wie blind ins Feuer.
»Vielleicht. Wenn Gebete dich etwas lehren können, dann das: Du musst etwas opfern, etwas geben, um etwas zu bekommen.«
Drust dachte über seine Worte nach. Wir haben gerade geopfert, was die Götter anscheinend am liebsten haben, egal auf welcher Seite der Mauer sie daheim sind .
Blut.
Sie kamen im schwachen Licht der beginnenden Morgendämmerung, doch sie waren steif vor Kälte – sechs wankende Männer, dick in Wolle und Felle gehüllt, die geröteten Hände so klamm, dass sie die Speerschäfte nicht mehr spürten, die sie trugen.
Gwynn ap Nudd , dachte Drust. Er erinnerte sich an den Namen der Heldengestalt, von der seine Mutter ihm erzählt hatte, um die Flamme seines Erbes am Leben zu erhalten. Arme Mama. Mein Erbe liegt nicht im Blut, sondern dort, wo ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe. Und es hat viel weniger mit Gwynn ap Nudd, dem Herrscher der Anderswelt, zu tun, als mit den unzähligen Dingen, die ich über Rom weiß – zum Beispiel, welche Viertel Wasser aus der stinkenden Aqua Alsietina erhalten, die hauptsächlich Tuchwalker und Gärten versorgt. Ich kenne jede Straße auf dem Cispius, dem Fagutal und dem Oppius, und weiß, wie man von den Armenvierteln am Fuß des Esquilin zum Kaiserpalast gelangt, ohne von den Wachen gesehen zu werden .
Deshalb war es nicht von Bedeutung, dass er wusste, welche Götter diese sechs Männer fürchteten, die es vorgezogen hatten zu frieren, statt mitten in der Nacht herüberzukommen. Entscheidend war, dass sie so gut wie tot waren, als sie wie die Motten zum Feuer und zum Licht strebten.
Es war ein kurzer Kampf – Knurren und Stöhnen, hässliche, dumpfe Geräusche. Jemand stieß einen verzweifelten Schrei aus, dann herrschte Stille. Schwer atmend trat Colm zu Drust und wischte sein Schwert an einer blutverschmierten Pelzmütze ab.
»Wo warst du?«, wollte er wissen.
»Ich habe auf die Frau aufgepasst«, erwiderte Drust. »Sie konnte zwar nicht sprechen, aber du hast ihre Füße nicht gefesselt.«
Es war Colm sichtlich peinlich, dass er das übersehen hatte. Er brummte etwas vor sich hin, während der metallische Blutgestank der Toten zu ihnen drang. Dann ging er zur Gefangenen und nahm ihr den Knebel aus dem Mund. Sie sammelte etwas Speichel im Mund und spuckte ihn an. Drust lachte.
Der Blutgeruch verflüchtigte sich in der Kälte rasch. Sie brachen auf und ließen sechs weitere traurige Leichen zurück. Immer wieder schaute Sib sich beunruhigt um; er fürchtete, die Geister der Toten könnten ihnen wie unsichtbarer Rauch folgen. Erneut verdankte sich sein Zittern nicht allein der Kälte.
Sibs Blick schweifte zu Colm, der die fremden Krieger fast im Alleingang getötet hatte, schnell und entschlossen wie ein Wüstenfuchs. Er mochte Colms Gesichtszeichnung nicht – sie erinnerte ihn an den Jedwel , das Talisman-Symbol seines Stammes. Die meisten Frauen trugen solche Markierungen, das Siyala am Kinn, das Ghemaza zwischen den Augenbrauen, das, wenn man es zur Stirn hin erweiterte, zum El-ayach , dem Glücksbringer, wurde. Sie alle waren wie Khamsa Schutzsymbole vor dem Bösen und wurden hauptsächlich an besonders verwundbaren Stellen und Körperöffnungen angebracht – Augen, Nase, Mund, Nabel und Vagina.
Colms Maskengesicht hingegen bewirkte das Gegenteil. Es zog die Geister regelrecht an, und Sib fürchtete, dass der Mann bereits einen Dämon in sich trug. Manius war schon schlimm genug gewesen – auch er hatte über keinerlei Schutz gegen das Böse verfügt –, doch er war tot, während Colm sehr lebendig und mitten unter ihnen war.
Es hatte aufgehört zu schneien, doch die dicke Schneeschicht war von einer Eiskruste überzogen, die immer wieder brach und Männer und Maultiere einsinken ließ. Auch Kag blickte sich ein- oder zweimal um, und Drust wusste, dass er an ihre Spuren im Schnee dachte. Wenn du Spuren hinterlässt …
Sie benötigten fast den ganzen kurzen Tag, um Colms Unterschlupf zu erreichen. Dieser war von zugespitzten Baumstämmen umgeben, die sich bei genauem Hinsehen als Pfähle herausstellten. Dahinter erstreckte sich ein Graben, den sie ein Stück entlanggehen mussten, bis sie eine Stelle fanden, an der sie ihn überqueren konnten. Hätten sie es woanders versucht, hätten sie möglicherweise die zugespitzten Pfähle zu spüren bekommen, die unter dem Schnee verborgen waren.
»Eine Festung«, murmelte Kag in seine Atemwolke. »Eine Verteidigungsanlage? Das ist dein Unterschlupf?«
»Hier sind wir sicher«, erklärte Colm, »und doch nahe genug, dass Talorc uns erreichen kann, bevor die Stierkrieger hier sind.«
Die Festung war dreißig Schritt lang und fünfundzwanzig Schritt breit – errichtet von einer Einheit in Kohortenstärke. Ugo wischte den Schnee von einer Holztafel, deren Inschrift ihnen verriet, wie die Anlage entstanden war.
»Du kannst lesen«, brummte er Drust zu. »Was steht da?«
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Pp vex leg
VI V fec p
Für Kaiser Lucius Septimius Severus Augustus,
Vater des Vaterlandes.
Diese Festung errichtete eine Einheit
der Sechsten Legion Victrix
.
»Also noch ziemlich neu«, stellte Quintus mit einem freudigen Lächeln fest. »Ein oder zwei Jahre alt. Vielleicht funktioniert der Ofen noch, dann können wir Brot backen.«
Drust wollte ihm schon entschieden widersprechen, doch der Gedanke an frisches Brot ließ ihm unwillkürlich das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er sah, dass es den anderen ähnlich ging.
»Vor zwei Jahren gebaut«, bestätigte Colm. »Ein Marschlager, vielleicht auch einer dieser Außenposten als deutliches Signal, dass die Armee zurück ist.«
»Bis die felltragenden Bestien mutiger wurden«, brummte Kag. »Heute ist es nur noch eine Ruine im Schnee.«
Colm zuckte mit den Schultern und gab dem Wanderer ein Zeichen. Der nickte und stapfte eilig los.
»Wir machen erst einmal Feuer mit dem, was wir haben, und sammeln dann frisches Holz«, entschied Drust. Kag machte sich sogleich an die Arbeit, Ugo ging mit Sib los, um sich um die Maultiere zu kümmern.
Wenig später kam Quintus zurück, nach wie vor mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht »Der Ofen ist zwar ein bisschen ramponiert, aber brauchbar. Richtige Gebäude gibt es nicht, sie haben in Zelten übernachtet, aber wir können uns in den Schuppen für die Maultiere einquartieren.«
»Wir brauchen mindestens drei lebende und einsatzfähige Maultiere«, erklärte Colm. »Wir nehmen die Königin mit, wenn wir aufbrechen, und lassen sie erst gehen, wenn wir den Rauch der römischen Feuer bei der Mauer sehen.«
»Selbst dann könnte es knapp werden«, wandte Quintus ein.
»Dann rennen wir, was das Zeug hält.«
Drust blickte zu der Stammeskönigin, die auf einem Maultier-Packsattel saß, verhärmt und mit rot geränderten Augen. Sie nahm sich zusammen, doch sie hatte schon eine ganze Weile jede Nahrung verweigert, und die Anstrengung begann, Spuren zu hinterlassen. Ihre Unterlippe zitterte. Sie biss darauf, damit es nicht auffiel.
»Wie lange wird es dauern, bis Talorc mit der Römerin und ihrem Sohn hier ist?«, fragte Drust.
Colm blickte von seinem Gepäck auf und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Einen Tag, höchstens. Sie werden mit Pferden kommen – und davon hat er nicht viele. Sein Trupp wird zwanzig bis dreißig Mann stark sein, seine besten Krieger und die Häuptlinge, denen sie dienen, denn die werden ihn das nicht allein machen lassen.«
»In vierundzwanzig Stunden werden vielleicht einige von uns tot sein.« Drust warf einen vielsagenden Blick zu der Frau.
Colm richtete sich auf und wischte sich die Hände an seiner Tunika ab. »Ugo wird der Erste sein, da bin ich mir ziemlich sicher.«
Drust blickte in die dunklen Höhlen des Totenschädels. Dass Colm die Augen offen hatte, war nur an dem wilden Funkeln zu erkennen. Dieser leicht irre Blick , hatte Kag es genannt.
Drust drehte sich um und unterdrückte ein Schaudern.