Der Herzschlag der Bäume

Wenn Sie einen Baum umarmen, ist elektrisch nichts los – Sie und der Baum haben ja dieselbe Spannung, so viel steht nun fest. Könnte es denn nicht wenigstens sein, dass der Baum Ihre Berührung anderweitig wahrnimmt? Zumindest bei jungen Bäumen besteht durchaus eine Möglichkeit, dass dem so ist, und zwar durch ein Phänomen, welches Thigmomorphogenese genannt wird. Es beschreibt, dass Pflanzen bei Berührung langsamer wachsen. Dazu genügt es, wenn Sie beispielsweise Ihre Tomatenpflanzen wenige Minuten am Tag streicheln. Dadurch reduzieren sie ihr Höhenwachstum und bilden eine dickere Sprossachse.39

Allerdings ist das kein Liebesbeweis, sondern wahrscheinlich nur die Reaktion auf eine vermeintliche Windbelastung. Wind führt nämlich bei Pflanzen zu der gleichen Verhaltensweise. Eine geringere Höhe bewirkt ebenso geringere Hebelkräfte, die bei Wind auf die Wurzeln wirken, dazu stabilisiert ein dickeres Stämmchen die Tomate besser. Das Gleiche gilt natürlich auch für Bewegungen, die durch vorbeistreifende Tiere verursacht werden – da knicken weniger stabile Pflanzen leichter um. Daher kann es durchaus sein, dass Tomaten oder auch kleine Bäume die Reaktion auf solche Berührungen (und nicht nur den Wind) in ihrem ererbten Repertoire haben.

Wenn Sie die Erfahrung gemacht haben, dass gestreichelte Pflanzen gesünder sind, dann täuscht das nicht. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass solchermaßen berührte Exemplare mehr Jasmonsäure produzieren. Diese Säure verändert nicht nur das Höhenwachstum, sondern regt die Pflanze auch dazu an, den Spross dicker und damit stabiler zu machen.40 Gerade Zimmerpflanzen mit zu wenig Licht neigen ja ansonsten zu einem dünnen, wackeligen Haupttrieb.

Falls Sie einen Baum umarmen und eine positive Antwort erwarten, sind diese Informationen sicher enttäuschend. Denn die beschriebene Reaktion ist ja lediglich eine Art Verteidigungsstrategie gegen äußere, für die Pflanze negative Einflüsse. Hinzu kommt: Wenn der Baum davon etwas merken soll, muss er druckempfindlich sein, er sollte die Arme um seine Rinde spüren können. Eine gewisse Druckempfindlichkeit ist tatsächlich gegeben, jedoch in ganz anderen Dimensionen. Drückt etwa ein Nachbarbaum oder ein Metallpfosten gegen den Stamm, dann beginnt der Baum, um das Hindernis herum zu wachsen. Allerdings muss die einwirkende Kraft sehr groß und vor allem lang anhaltend sein – zwei Parameter, die beim Umarmen nicht erfüllt werden. Vor allem große Bäume haben auch eine entsprechend dicke Rinde, die in den äußeren Bereichen lediglich aus abgestorbenen Zellen besteht und damit ebenso viel beziehungsweise wenig Gefühl besitzt wie unsere Haare.

Viel Gefühl hingegen finden wir in einer ganz anderen Region: in den Wurzeln. Hier arbeitet sich der Baum mit Wurzelspitzen, die gehirnähnliche Strukturen aufweisen, durch den Boden. Er tastet, schmeckt, prüft und entscheidet, wo und wie es weitergeht. Ist etwa ein Stein im Weg, so bemerken es die empfindlichen Gebilde und schlagen einen anderen Weg ein. Die Berührungsempfindlichkeit, die Baumfreunde suchen, finden sie demnach nicht am Stamm, sondern im Erdreich. Wenn eine Kontaktaufnahme erfolgreich sein könnte, dann wäre die Wurzel die erste Adresse. Sie hat zudem den Vorteil, dass sie leicht zu erreichen und im Gegensatz zum oberirdischen Teil sogar im Winter aktiv ist. Allerdings mag sie weder Druck noch frische Luft – es macht also keinen Sinn, die zarten Gebilde freizulegen, weil schon zehn Minuten in der Sonne den Tod für das Gewebe bedeuten.

Die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse haben aber noch etwas ganz anderes anzubieten: den Herzschlag der Bäume. Herzschlag? Ein Herz wie das unsere haben Bäume natürlich nicht, doch sie benötigen etwas Analoges, sonst würden die wichtigsten Abläufe in ihrem Körper nicht funktionieren.

Was bei uns Menschen das Blut ist, ist beim Baum das Wasser. Über dessen Transport hinauf in die Krone habe ich bereits öfter berichtet; wie genau der vonstattengeht, ist allerdings bis heute nicht geklärt. Die am häufigsten verkündete Theorie, dass das Nass mittels Transpiration bis zu den obersten Zweigen gelangen würde, greift nicht. Laut dieser Theorie soll Wasser aus den Blättern verdunsten, und das erzeugt im Stamm einen Unterdruck. Dieser Unterdruck zieht dann Wasser aus den Wurzeln beziehungsweise dem Boden nach. Dumm nur, dass der höchste Wasserdruck im Stamm von Laubbäumen im zeitigen Frühjahr herrscht. Zu diesem Zeitpunkt ist kein einziges grünes Blatt am Baum, es kann also auch nichts verdunsten. Die anderen Erklärungsversuche (Osmose, Kapillarkräfte) greifen ebenfalls nicht, sodass wir bis heute ratlos dastehen. Oder vielmehr standen. Denn Dr. András Zlinszky vom Balaton Limnological Institute im ungarischen Tihany bringt langsam etwas Licht in das Dunkel. Schon einige Jahre zuvor hatte er zusammen mit Kollegen aus Finnland und Österreich beobachtet, dass Birken sich anscheinend nachts zur Ruhe begeben. Mittels Laser vermaßen die Wissenschaftler die Bäume in windstillen Nächten und stellten fest, dass sie die Zweige hängen ließen und zwar bis zu zehn Zentimeter. Mit dem Sonnenaufgang richteten sie sich wieder auf, sodass die Forscher von einem regelrechten Schlafverhalten der Bäume sprachen.41

Offensichtlich ließ der Vorgang András Zlinszky keine Ruhe, und so untersuchte er zusammen mit seinem Kollegen Anders Barfod nochmals 22 Bäume verschiedener Arten. Abermals stellte er ein Auf und Ab der Zweige fest, allerdings teilweise in einem anderen Rhythmus. Sie hoben sich nicht nur beim Wechsel Tag/Nacht, sondern alle drei bis vier Stunden. Was konnte der Grund für diesen Takt sein? Ihr Blick richtete sich auf den Wassertransport. Wäre es denkbar, dass der Baum in diesen Intervallen Pumpbewegungen ausführt? Immerhin hatten andere Forscher zuvor festgestellt, dass sich der Durchmesser der Stämme periodisch um 0,05 Millimeter verringert, um sich anschließend wieder auszudehnen. Waren die Wissenschaftler auf den Spuren eines Herzschlags, der durch Kontraktionen das Wasser Schritt für Schritt nach oben drückt? Eines Herzschlags, der so langsam ist, dass wir ihn bisher nicht wahrgenommen haben? Zlinszky und Barfod schlagen dies als plausible Erklärung für ihre Beobachtungen vor und rücken damit Bäume ein weiteres Stück in Richtung auf das Reich der Tiere zu.42

Alle drei bis vier Stunden ein Herzschlag, das ist leider selbst für die sensibelsten Menschen zu langsam, um ihn beim Umarmen zu spüren, sodass wir auch hier in Bezug auf wahrnehmbare Baumsignale nicht fündig werden.

Eine letzte Möglichkeit, mit Bäumen in Verbindung zu treten, möchte ich noch genauer betrachten: unsere Stimme. Sie gilt als wichtigstes Mittel unserer Kommunikation, und nicht wenige Menschen versuchen, mit Bäumen oder ihren Zimmerpflanzen zu sprechen. Was heißt versuchen: Sie tun es und erwarten, dass die Gewächse in irgendeiner Form reagieren. Daneben gibt es Winzer, die ihre Weinberge mit verschiedenster Musik beschallen und zu erkennen glauben, dass eine bestimmte Musikrichtung zu höheren Ernteerträgen führt.

Gibt es hinter alldem einen wahren Kern? Können Pflanzen überhaupt hören?

Die letzte Frage kann ich mit einem klaren »Ja!« beantworten. Schon vor Jahren wurde dies an der Ackerschmalwand, einem bei Forschern beliebten heimischen Kraut getestet. Beliebt deswegen, weil es einfach zu halten ist, sich schnell vermehrt und genetisch sehr übersichtlich ist. Das Resultat: Seine Wurzeln orientieren sich an Klicklauten mit einer Frequenz von 200 Hertz und wachsen in die entsprechende Richtung. Gleichzeitig sind sie in der Lage, ebensolche wie ein Morsecode funktionierenden Geräusche zu produzieren.43

Monica Gagliano von der University of Western Australia entdeckte, dass Erbsen mit ihren Wurzeln das Wasser im Untergrund fließen hören. Dazu vergrub sie drei Röhren in der Erde. In der ersten wurde nur ein Rauschen vom Band abgespielt, in der zweiten floss tatsächlich Wasser, und in der dritten gab es künstliche Geräusche fließenden Wassers. Die Pflanzen ließen sich nicht täuschen: Sie wuchsen mit ihren Wurzeln nur auf das richtige Wasser zu. Hatten sie keinen Durst, dann zeigten sie diesbezüglich gar keine Aktivitäten. Doch ist das wirklich schon so etwas wie Hören? Gagliano und ihr Team überlegten, dass sich in diesem Fall die Wurzeln durch Störgeräusche irritieren lassen sollten, und exakt das konnten sie beobachten.44

Pflanzen – und damit eben auch Bäume – können also hören. Genau wie wir auch nutzen sie ihre Fähigkeiten zielgerichtet. So wenig wir Ultraschall hören, weil wir ihn nicht brauchen, so lauschen Pflanzen ebenfalls nur Dingen, die wichtig für sie sind, wie eben Wasser im Untergrund. Doch was ist mit all den bereits erwähnten Berichten über Weinberge, die mit klassischer Musik beschallt werden, um das Wachstum anzuregen? Was mit den Erfahrungsberichten von Menschen, die mit Bäumen reden? Nüchtern wissenschaftlich betrachtet würde das Hörvermögen der Wurzeln dazu nichts beitragen, denn die sind nun mal unter der Erde und damit relativ gut schallisoliert. Wir müssen uns also in dem Bereich darüber umsehen und Stamm, Zweige und Blätter genauer unter die Lupe nehmen. Gibt es hier irgendwelche Hinweise auf akustische Reaktionen?

Ein Team des WDR setzte dazu im Forschungszentrum Jülich Sonnenblumen mehrere Tage lang verschiedenen Geräuschen aus, darunter auch klassischer Musik. Das Ergebnis: Es gab zwischen den unterschiedlich beschallten Pflanzen keinerlei Wuchsunterschiede.45 Herrscht also oberirdisch akustisch tote Hose? Ganz so schnell wollen wir die Flinte nicht ins Korn werfen. Vielleicht ist Musik der falsche Ansatzpunkt; wir sollten lieber nach Geräuschen suchen, die für Pflanzen tatsächlich eine Rolle spielen.

Wie wäre es zum Beispiel mit dem Knabbern von Raupen? Das bedeutet für Grünzeug jeglicher Art Lebensgefahr. An der University of Missouri wurde genau das untersucht. Dort setzte man Raupen auf Exemplare der Ackerschmalwand. Die feinen Schwingungen, die auch die Stängel erschütterten, wurden mittels aufgebrachter winziger Laserspiegel ermittelt. Spielten die Forscher diese Schwingungen anderen, nicht befallenen Pflanzen vor, so produzierten sie bei einer Attacke besonders viel Abwehrstoffe. Wind- und andere Geräusche mit derselben Frequenz ließen die Pflanzen hingegen kalt.

Die Ackerschmalwand kann also hören, und das macht durchaus Sinn. Durch akustische Warnungen ist sie in der Lage, auch auf eine gewisse Entfernung hinweg eine Gefahr im Voraus zu erkennen und sich entsprechend vorzubereiten.46 Und hier besonders wichtig: Geräusche, die keine Gefahr für sie bedeuten, ignoriert sie. Dazu gehört möglicherweise auch die menschliche Sprache, ebenso wie unterschiedliche Musikrichtungen. Schade. Denn die Berichte über Nutzpflanzen, die einen deutlichen Unterschied zwischen Klassik und Rock machen, klingen einfach zu schön.

Zu klären wäre allerdings noch, ob sich in der Musik nicht Abschnitte befinden, die dem Raupenfraß nahekommen. Dann allerdings wären solche Dinge nachvollziehbar, wenngleich Mozart dann von den Gewächsen nicht genossen, sondern lediglich falsch verstanden würde.

Ich kann das Bedürfnis, mit den Bäumen zu kommunizieren, gut verstehen. Unter diesen Riesen zu sitzen, ihre Rinde zu streicheln, sich geborgen zu fühlen – all das würde gekrönt, wenn es eine aktive und positive Antwort auf unsere Anwesenheit oder gar unsere Berührungen gäbe. Ich will nicht abstreiten, dass so etwas möglich ist, doch zumindest die konservative Wissenschaft hat hierfür keine Beweise. Und selbst wenn dies der letzte Stand der Dinge wäre – muss es denn unbedingt eine Antwort geben? Kann es nicht sein, dass Mensch und Baum in völlig verschiedenen Welten leben? Schließlich existiert unsere Art erst seit 0,1 Prozent der Zeitspanne, in der es Bäume gibt.

Obwohl der Baum also offensichtlich nichts von alledem spürt, so gibt es jedoch umgekehrt definitiv eine Reaktion in unserem Körper, auf die ich später noch näher eingehen werde. Vorerst sollte es also reichen, wenn wir uns beim Kontakt gut fühlen und den Baum im besten Falle sein wildes Leben führen lassen.