Natur schmeckt nicht immer lecker

Neulich saß ich in einer Talkshow und hatte den Gästen etwas zum Verkosten mitgebracht: Fichten- und Douglasienzweige. Die Fichte als häufigste Baumart Deutschlands ist noch einigermaßen bekannt, die Douglasie hingegen schon weniger. Sie ist eine nordamerikanische Nadelbaumart von der Westküste und wächst dort zu beeindruckenden, uralten Riesen heran. Bei uns wurde sie in den letzten Jahrzehnten vermehrt angebaut, doch darauf lag in der Sendung nicht das Augenmerk. Ich hatte Zweige der Douglasie ausgewählt, weil sie angenehm würzig nach Orangeat schmecken – so meinte ich zumindest. Vertrauensvoll bissen der Schauspieler Axel Prahl und die Kabarettistin Ilka Bessin in die Zweige, um gleich darauf angewidert den Mund zu verziehen: Es schmeckte ihnen gar nicht! Und damit unterscheiden sie sich nicht vom Durchschnitt der Bevölkerung. Die Geschmacksnoten des Waldes sind in erster Linie saure Varianten und bittere mit allen Nuancen dazwischen. Was wir als lecker empfinden, also reife Beeren und Nüsse, ist im Regelfall Mangelware und höchstens wenige Wochen im Jahr verfügbar. Frische Triebe und Blätter im Frühjahr sind sauer, später dann sauer-bitter und zäh. Das Kambium, eine glasklare Schicht unter der Borke, die sich mit dem Taschenmesser abschälen lässt, ist sehr nahrhaft. Es enthält Zucker und andere Kohlenhydrate, schmeckt ein wenig nach Möhren, ist ansonsten aber eher bitter. Und das trifft auf die Nahrung im Wald fast durchgängig zu.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch in grauer Vorzeit ein Großteil der Mahlzeiten unserer Vorfahren völlig anders geschmeckt hat als heute. Denn unsere Speisen und Getränke haben eine Art Evolution durchlaufen, ähnlich der belebten Umwelt. In den Geschäften überlebt nur das, wonach die Kunden greifen. Also versuchen die Produzenten, ihre Produkte so anzupassen, dass sie unsere Zunge optimal reizen. Ihre Methoden werden immer ausgefeilter und treffen immer genauer. Das ist auch einer der Gründe, warum es uns so schwerfällt, bei bestimmten Lebensmitteln nicht zuzugreifen. Zucker, Salz, Fett, das Ganze angereichert durch weitere Geschmacksverstärker, und schon wird mehr gefuttert, als der Körper braucht. Darüber vergessen wir mehr und mehr, wie natürliche und unbehandelte Nahrung schmeckt. Damit meine ich nicht Gemüse oder Obst, denn auch dieses wurde züchterisch bereits in eine ähnliche Richtung verändert: immer süßer und immer weniger Bitterstoffe. Im Vergleich zum geschmacklichen Reichtum der Natur essen wir mehr oder weniger einen Einheitsbrei. Daraus heben sich nur bestimmte Abweichler hervor, die besonders bitter oder sauer schmecken dürfen, wie etwa Kaffee oder Mixed Pickles.

Glücklicherweise können Sie Ihre Zunge aber nie endgültig verwöhnen oder gar Ihre Geschmackszentren auf der Zunge, die Papillen, abstumpfen lassen. In einer einzigen Papille sitzen 100 Geschmacksknospen, die wiederum jeweils 100 Sinneszellen enthalten. Diese Zellen sind nicht besonders dauerhaft – sie werden alle zehn Tage erneuert.15 Wird also bei der Nahrungsaufnahme einmal etwas beschädigt – zum Beispiel durch ein zu heißes Getränk –, so regeneriert sich die Zunge relativ schnell wieder.

Bei rund 100 Papillen besitzen wir also 10 000 Geschmacksknospen. Wenn Ihnen das jetzt viel erscheint, dann schauen Sie sich mal eine Pferdezunge an: Dort sitzen nämlich rund 35 000 Geschmacksknospen.16 Warum Pferde so viele brauchen? Auf einer Wiese gibt es Hunderte Arten von Gräsern und Kräutern, etliche davon giftig. Hinzu kommt, dass Pferde nicht so gut sehen können, was sich unmittelbar vor ihren Lippen befindet – da ist ihr riesiger, lang gezogener Kopf im Weg. Und wer beim Fressen nichts sieht, muss sich auf seine Zunge verlassen. Dazu muss das fragliche Gras aber erst einmal ins Maul gelangen und auch schnell wieder heraus, wenn es nicht das richtige ist. Das beherrschen Pferde perfekt, wie wir bei unseren beiden Stuten immer wieder fasziniert beobachten können. Schmeckt ein Kräutlein nicht, so wird es beim Kauvorgang elegant an den Rand der Mundhöhle und anschließend über die Lippen wieder ins Freie befördert.

Apropos Zunge: Sie ist nicht der einzige Körperteil, mit dem Sie schmecken können. Da kommen wir als Erstes noch einmal auf die Nase zurück. Bis heute sind rund 8 000 flüchtige Substanzen in Lebensmitteln bekannt, die riechbar sind. Dieses Riechen geschieht erstaunlicherweise überwiegend beim Ausatmen, und Ihre Geschmackseindrücke basieren zu drei Vierteln auf Wahrnehmungen der Nase. Das kennen Sie vielleicht von einem Schnupfen: Prompt schmeckt das Essen fade, geht jeder Genuss verloren.

Beim nächsten Waldspaziergang macht es also durchaus Sinn, die Unterschiede von Baumarten nicht nur an der Form der Nadeln und Blätter zu erkunden, sondern wie Ilka Bessin und Axel Prahl einmal in den Zweig einer Fichte zu beißen, um zu schauen, welche Geschmacks- und Duftkomponenten wirklich in den Nadeln stecken.

Wie bereits weiter oben berichtet, ist unsere Suche nach Geschmackssensoren im Mundraum aber noch nicht zu Ende. Wir müssen fast wörtlich bis zum Ende der Nahrungsreise gehen, also in den Darm. Ebenso wie er mitriecht, schmeckt er auch mit, denn er besitzt ebenfalls Sensoren, und zwar solche, die eigentlich nur in der Nase vorkommen. Diese Zellen lassen sich mit Süßstoff nicht so leicht austricksen wie unser Gaumen. Normalerweise bewirkt Zucker, den der Dünndarm registriert, eine Ausschüttung von Hormonen. Diese bewirken für unser Bewusstsein das Signal »satt«. Bei Süßstoffprodukten fällt dieses Signal jedoch ungleich schwächer aus, sodass der Körper mehr Nahrung verlangt. Lightprodukte mit Zuckerersatz sind also allein aus diesem Grund nicht besonders wirkungsvoll, wenn man abnehmen möchte.17

Durch die moderne Kosmetik, aber auch durch Waschmittel, Duftkerzen und Ähnliches werden nicht nur unsere Nase und unser Gaumen überflutet, sondern auch unser Darm.18 Moment. Wer isst schon Kosmetika, Waschmittel und Duftkerzen? Die Antwort ist ganz einfach: Wir müssen all das gar nicht essen, weil es auch über die Haut und die Atemwege in den Darm, aber auch in alle anderen Winkel unseres Körpers gelangt. Und es ist eine regelrechte Armada, die alleine in geschmacklich frisierten Nahrungsmitteln die Rezeptoren überfällt. Nach Angaben des Bundesinstituts für Risikobewertung sind es 2 700 (überwiegend künstlich hergestellte) Aromen, die in der Lebensmittelproduktion eingesetzt werden. Das klingt wenig, wenn man es mit den Aromen vergleicht, die in der Natur vorkommen: Bisher wurden an die 10 000 entdeckt. Doch die pure Zahl täuscht; im Alltag dürften es nur sehr wenige sein, die unsere Sinne erreichen. Schließlich kosten wir nicht alle Früchte der Welt, sondern nur die unseres heimischen Lebensraums – so war es jedenfalls vor dem globalisierten Handel.

Unser Darm wird also mittlerweile von einer unglaublichen Anzahl ihm unbekannter Aromen überschwemmt, und auch das kann dazu führen, dass er ab und an verrücktspielt und allerlei Beschwerden verursacht – Wahrnehmungen von Aromen führen ja je nach Art, wie bereits ausgeführt, zur Absonderung von Sekreten und zu veränderten Bewegungen. Was all das mit dem Wald zu tun hat? Nun, auf dieses Ökosystem mit seinen Gerüchen und Geschmäckern sind wir eingestellt, mit ihnen sollten wir bestens zurechtkommen. Die künstlichen Zusatzstoffe hingegen belasten unseren Körper unnötig, und deswegen kann es nur guttun, Nase, Gaumen und Darm hin und wieder zu entlasten, indem Sie in den Wald gehen und sich dort eine ganze Weile aufhalten. Alles, was dort auf Ihre Sinne einströmt, ist schließlich exakt die Auswahl, für die unser Körper geschaffen wurde. Wenn Sie dann noch naturbelassene, gering verarbeitete Lebensmittel ohne Zusatzstoffe als Brotzeit mitnehmen, wird das Waldbaden gleich noch besser anschlagen.