Białowieza – ein schwieriger Fall

Eine polnische Gruppierung erregte in den letzten Jahren internationale Aufmerksamkeit, weil sie sich für ein ganz besonderes Fleckchen Natur einsetzte: den Urwald von Białowieza. An ihm entzündete sich eine Debatte, die beispielhaft für viele andere Wälder weltweit steht. Der alte Wald liegt an der Grenze Polens zu Weißrussland und damit in einer klimatisch sehr rauen Region – zu rau für Buchen. Während diese Baumart in Mitteleuropa die einstigen Urwälder prägte, ist sie hier nicht mehr zu finden, weil die Winter viel zu kalt und lang sind. Stattdessen dominieren hier Eichen, Linden, Hainbuchen, Ahorn und Fichten das Bild.

Der polnische Staat oder vielmehr die Regierungspartei PIS befand Naturschutz in Białowieza offenbar für überbewertet und ließ im Wald um den Nationalpark herum umfangreiche Fällungen zu. Als die Proteste aufflammten, kam von der anderen Seite ein altes Argument vieler Förster zum Einsatz: Borkenkäfer würden den Wald auffressen, und man würde diese Katastrophe nun bekämpfen, indem man die befallenen Bäume entfernte (und dann natürlich gleich verwertete). Das war nicht völlig aus der Luft gegriffen. Tatsächlich hatte sich in den letzten Jahren eine riesige Armada des Buchdruckers, eines wenige Millimeter großen Käferchens aus der Familie der Borkenkäfer, aufgemacht, die Rinde und damit letztendlich die gesamten Bäume großer Fichtenbestände zu vernichten.

Er erhielt seinen Namen wegen der symmetrischen Gänge, die er und seine Larven unter die Rinde graben. Der Buchdrucker liebt Fichten, genauer gesagt die Wachstumsschicht zwischen Rinde und Holz. Sie ist saftig und nährstoffreich und übrigens auch für den menschlichen Verzehr geeignet. Das Problem: Gesunde Fichten können sich wehren, ertränken jeden Angreifer gleich beim Einbohren mit einem Tropfen Harz. In trocken-heißen Sommern, wie sie im Zuge des Klimawandels verstärkt auftreten, schwächeln die Bäume jedoch und sondern dabei Stressdüfte aus. Die Käfer können das riechen und überfallen solche Fichten, die dadurch absterben. Anschließend wird der nächste Baum angegriffen, und oft machen die Käfer auch vor gesunden Fichten nicht halt. Durch die schiere Masse an Angreifern kann der Baum nicht alle Eindringlinge abwehren und gibt auf. Borkenkäfer können also große, monotone Fichtenwälder vernichten. Allerdings vermehren sich währenddessen Krankheitserreger, die sich unter den Käfern ausbreiten und schließlich auch zu einem Ende der Käferwelle führen.

Waren die Fällungen also zulässig in einem Gebiet, das zu Europas letzten Urwäldern zählte? Oder war es gar kein Urwald, wie viele Förster behaupteten? Eine schwierige Frage, wie selbst Waldschützer zu bedenken geben. Die Fakten: Ein kleinerer Teil des alten Waldes mit einer Größe von rund 100 Quadratkilometern wurde schon 1932 zum Nationalpark erklärt, der größere auf weißrussischer Seite mit über 1 000 Quadratkilometern dann 1991 ebenfalls entsprechend geschützt. Der gesamte Wald beidseits der Grenze wurde von der UNESCO als Weltnaturerbe ausgewiesen und befindet sich damit in exklusiver Gesellschaft mit Juwelen wie dem Great Barrier Reef in Australien oder dem Yellowstone-Nationalpark in den USA. Neben den alten Bäumen sind es über 20 000 Arten, die dort ein Zuhause finden, darunter der mächtige Wisent, der kurz vor dem Aussterben stand und immer noch stark gefährdet ist.

Bleiben wir auf der polnischen Seite des Naturerbes. Dort dehnt sich der alte Wald weit über die willkürlich gezogenen Nationalparkgrenzen aus. Insgesamt bedeckt er über 600 Quadratkilometer und ist mit seinen seltenen Arten so wertvoll, dass er den Status eines Natura-2000-Gebietes hat, eine Schutzklasse auf EU-Ebene, die nur behutsame Eingriffe zulässt. Hinter dem bürokratischen Begriff steckt die Absicht, die letzten halbwegs intakten Ökosysteme Europas zu erhalten.

Wohl wissend, dass wirklich große Nationalparks wie in den USA hier nicht umzusetzen sind, stellten solche Schutzgebiete einen Kompromiss dar, indem sie eine Nutzung weiterhin erlauben. Zumindest so lange, wie der Wald dabei nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen wird.

Doch genau dies geschah in Polen, und zwar mit Ansage. Der Borkenkäfer als Vorwand konnte nur schwer die eigentliche Absicht kaschieren, dass hier zwei Bedürfnisse befriedigt werden sollten: Zum einen mochten die Verantwortlichen nicht so viel Holz der Natur überlassen, zum anderen wollte man der EU zeigen, dass man auf ein einengendes Regelwerk zugunsten der Natur pfiff. Der damalige polnische Umweltminister Jan Szyszko verdreifachte im Jahr 2016 mit einem Federstrich die zum Einschlag freigegebene Menge und gestattete der Forstindustrie, bis 2023 knapp 200 000 Kubikmeter Holz aus dem Schutzgebiet zu holen.

Trotz heftiger internationaler Proteste begannen schwere Maschinen, Hunderte Bäume pro Tag zu fällen. Das Ganze wurde als Rettungsaktion für den Wald ausgegeben, die Baumfällungen als einzige Möglichkeit dargestellt, den Borkenkäfer zu vernichten, der angeblich den Restwald bedrohte.

Doch in Białowieza gibt es mehrere Gründe, diesem Spiel der Kräfte ohne Eingreifen zuzusehen. Der Wald ist ja gerade nicht eine Fichtenmonokultur, sondern ein ursprünglicher Wald, der durchmischt ist mit verschiedensten Baumarten. Werden die Fichten vom Käfer getötet, so wird der Baumbestand nur aufgelockert, ohne dass Kahlflächen entstehen. Hinzu kommt der Schutzstatus: Er wurde verfügt, damit das freie Spiel der natürlichen Kräfte erhalten bleibt, wozu eben auch aus menschlicher Sicht unerwünschte Prozesse gehören, ja gehören müssen. Und davon abgesehen wird die Natur schon seit Jahrmillionen mit solchen Entwicklungen fertig – dazu braucht sie uns Menschen gar nicht.

Die großen Kahlschläge, die im Namen der Waldrettung durchgeführt wurden, nahmen demnach nur das vorweg, was man durch den Käfer offiziell befürchtete: eine großflächige Zerstörung des geschützten Waldes. Keine Frage: Das schrie geradezu nach einer Unterstützung der Aktivisten vor Ort!

Piotr und Adam, Forscher und Umweltschützer, holten mich am Flughafen von Warschau ab und kutschierten uns stundenlang in einem Bus Richtung polnisch-weißrussische Grenze. Das Fahrzeug flog regelrecht über die teils maroden Straßen, und lediglich die interessanten Gespräche mit den beiden ließen mich meine Sorge vergessen, heil an unserem Ziel anzukommen. Spätabends erreichten wir den Wald von Białowieza, doch fürs Erste standen nicht die Bäume, sondern das Protestcamp auf dem Plan.

Entgegen meiner Vorstellung wehten uns weder bunte Flaggen entgegen, noch stießen wir auf eine Zeltsiedlung. Nein, es war ein großes altes Haus, in dem die Waldschützer ihr Quartier aufgeschlagen hatten. Wenn man jahrelang ausharren möchte, ist das vielleicht auch die bessere Alternative. Wir wurden sehr freundlich empfangen und an einen großen, hölzernen Gemeinschaftstisch mit Bänken gebeten. Hier gab es erst mal Kaffee und Kuchen, bevor die eigentliche Mission startete: Unterstützung durch unsere bloße Präsenz. Natürlich saßen wir uns nicht schweigend gegenüber, sondern sprachen mit der ganzen Truppe über die Probleme und Erfolge.

Anwesend war auch ein Kamerateam eines Lokalsenders, der, so hatte man mich vorgewarnt, nicht unbedingt aufseiten der Protestler stand. Ebenso wie viele der Einwohner rund um das Schutzgebiet, die ähnlich wie die kanadischen Förster vom Wald und seinen Holzprodukten lebten.

Wir übernachteten zweimal im Hotel Wejmutka, einem gemütlichen Haus ganz aus Holz, das nicht weit vom Nationalpark entfernt am Ortsrand von Białowieza stand. Die Eigentümerin war bekennende Unterstützerin der Protestbewegung, und so war es kein Wunder, dass hier am zweiten Abend eine Konferenz mit Wissenschaftlern, Umweltschützern und Freunden des Nationalparks stattfand.

Ich muss gestehen, dass mir während der Konferenz immer mal wieder die Augen zufielen, aber nicht etwa, weil es so langweilig war. Nein, wir waren morgens schon um 3:30 Uhr aufgestanden, um wilde Wisente zu beobachten. Wenn wir schon in Białowieza unterwegs waren, mussten wir doch wenigstens einmal diese imposanten Tiere gesehen haben! Und das hieß früh aufstehen, um mit der beginnenden Dämmerung beste Beobachtungsmöglichkeiten zu haben.

Schlaftrunken standen Piotr, Adam und ich also vor dem Hotel und warteten auf den Ranger. Der kam kurz darauf in einem alten Skoda angefahren und stieg aus, ganz in militärische Tarnkleidung gehüllt. Er murmelte eine kurze Begrüßung, stieg wieder ein, und wir beeilten uns, in unserem Auto nicht den Anschluss zu verlieren. Am Rande einer kleinen Siedlung hielten wir an. Die Dämmerung hatte eingesetzt, die Landschaft war in Nebel gehüllt. Das Gras war klatschnass, unsere Schuhe und bald darauf die Socken auch. Wir pirschten auf einem Weg ins Grasland hinaus, immer dem Ranger hinterher. »Da«, er deutete auf eine Nebelbank. Zuerst sahen wir nichts, doch dann schälten sich allmählich drei mächtige Körper heraus. Wisente!

Aufgeregt wechselten wir uns an einem Fernrohr ab, das der Ranger zwischenzeitlich aufgestellt hatte. Drei Schatten im Nebel, die Hörner gut zu erkennen – dann drehten sie sich um und verschwanden wieder im Nebel. »Manchmal sehen wir gar keine Tiere«, erklärte der Ranger lapidar und machte uns damit klar, dass wir wirklich Glück gehabt hatten. Auf meine Nachfrage, wovon sich denn die Tiere ernährten, erzählte er, dass es natürlich überwiegend Gras sei. Und damit die Bauern der Umgebung nicht gegen die Wisente opponierten, bekämen sie über Fördergelder die Weidepflege speziell für die Wildrinder ersetzt. Wisente fressen lieber alte Grasarten, die nährstoffärmer sind als die neuen Züchtungen, die zudem mit Dünger besonders kalorienreich gemacht werden. Wir sprachen hier also von Gras. Dabei gelten Wisente doch als Waldtiere! Und genau hier zeigte sich ein Problem unserer zerstückelten Landschaft.

Ursprünglich gab es tatsächlich auch grasreiche Landschaften bei uns, und zwar in den Flussauen. Ursache war der vor dem Klimawandel noch oft zu beobachtende Prozess der Baumzerstörung durch Treibeis während der Schneeschmelze, der für baumfreie Flecken sorgte. Daneben gibt es noch im Hochgebirge an der Baumgrenze und an Moorrändern Weidemöglichkeiten für große Pflanzenfresser – das war’s. In diesen Bereichen möchten wir nicht weichen, und daher drängen wir Tiere wie den Wisent in Waldschutzgebiete, wo er aber nicht überlebensfähig ist. Das Resultat ist eine Landwirtschaft, die Gras bereitstellt, im Winter sogar als Heu. Alle sind zufrieden, doch der Wisent lebt dadurch kein ursprüngliches, wildes Leben mehr.

Was wir mit unserer kleinen Reisegesellschaft erlebten, war also nicht viel mehr als ein großer Safaripark. Um das zu ändern, bräuchten wir viel größere Schutzgebiete. Doch die polnische Regierung war ja gerade dabei, den Wald abzuholzen. Und darunter leidet natürlich nicht nur der Wisent, sondern es trifft auch viele andere Tiere wie Luchse oder Wölfe, deren Spuren wir ebenfalls mehrfach sahen.

Nach der morgendlichen Safari kehrten wir zurück ins Haus der Aktivisten und starteten von dort aus unseren Waldspaziergang auf einem Forstweg. Wir kamen an mächtigen, 500-jährigen Eichen vorbei. Die ersten Mücken umschwirrten uns, und wir bogen quer in den Wald ab. Schon nach wenigen Metern taten sich breite Fahrspuren auf, teilweise fast einen Meter tief. Sie zogen sich weit in den Wald hinein und waren gesäumt von mächtigen frischen Baumstümpfen. Hier hatte offenbar erst vor Kurzem eine große Maschine Baumstämme abtransportiert – aus dem geschützten Wald. Überall waren diese heftigen Auflichtungen durch Fällarbeiten zu sehen; der Boden war dort mit frischem Grün überzogen, ein Zeichen von ungewöhnlich viel Lichteinfall. Wir machten Fotos für die Presse und für meinen Social-Media-Account.

Am nächsten Waldweg lagen dann die toten Riesen fein säuberlich aufgestapelt und bereit zur Abfuhr. Die Waldschützer hatten bei vielen Exemplaren das Alter anhand der Jahresringe gezählt und auf die jeweiligen Stämme gesprüht. So dokumentierten sie, dass hier illegal sehr alte Bäume gefällt und verkauft wurden. Wir machten noch ein Foto vor einem Banner, das den Schutz der Wälder forderte, danach ging es wieder zurück ins Örtchen Białowieza.

Das Fazit dieser Reise: Der Wald ist sehr alt und schützenswert, doch es ist kein echter Urwald, zumindest in weiten Teilen nicht. Zu deutlich sieht man Aufforstungen früherer Jahrzehnte, und selbst wenn große Teile der alten Eichen und anderer Laubbäume schon seit über 100 Jahren nicht mehr genutzt werden, müssen vermutlich weitere 400 Jahre vergehen. Erst dann ist im Sinne der vorhin beschriebenen Definition wieder unverfälschte Natur entstanden. Doch dem Schutzbedürfnis tut das keinen Abbruch: Immerhin hat dieser Wald schon viele Jahrzehnte Entwicklung in diese Richtung hinter sich gebracht, die eine forstwirtschaftliche Nutzung wieder auf null setzen würde. Zudem haben wir kaum noch vergleichbare Gebiete in Europa, bei denen wenigstens über diese Zeitspanne hinweg kaum aktive Veränderungen stattgefunden haben. Ich wünschte, wir hätten solch einen Wald in Deutschland, doch die, die dem zumindest nahekommen, sind bei uns weiterhin stark bedroht – im folgenden Fall durch Energiegewinnung.