Das Wildschwein – der Weiße Hai des Waldes

Haben Sie den Film »Der weiße Hai« gesehen? Ich leider mehr als einmal, und das bereue ich schon seit Jahren. Denn dadurch ist mir das Schwimmen im Meer verleidet worden. Ich weiß, dass Haie kaum gefährlich sind – auf 738 Millionen Strandbesuche kommt ein Angriff.25 Und obwohl es zudem immer weniger dieser bedrohten Fische gibt, schwimmt die Angst vor den Tieren immer an meiner Seite mit. Wenn viele andere Leute im Wasser sind, dann geht es einigermaßen, doch alleine ist bei einer Wassertiefe von einem Meter bei mir Schluss. Da kann der Verstand noch so sehr die Fakten zitieren; meine Emotionen verweigern den Gehorsam.

Was der »Weiße Hai« für den Umgang mit großen Raubfischen angerichtet hat, das erledigen subtile Botschaften von Lobbyisten und überbesorgten Institutionen täglich auch bei allen möglichen anderen Arten. Womit soll ich anfangen? Da wäre zum Beispiel der Fuchsbandwurm. Immer wieder wird davor gewarnt, Beeren unterhalb Kniehöhe direkt nach dem Pflücken zu verzehren, weil dort die staubfeinen Eier anhaften könnten. Doch diese vermeintliche Gefahr existiert in dieser Form nicht. Ein befallener Fuchs scheidet die Eier mit dem Kot aus. Wenn Mäuse diese Eier aufnehmen, entwickeln sich in ihren inneren Organen Blasen mit Larven. Die kleinen Nager werden dadurch langsamer, und der Fuchs kann sie besonders leicht fangen. Er frisst die Maus, die Larven werden in seinem Verdauungstrakt freigesetzt, und der Kreis schließt sich. Wenn der Mensch anstelle der Maus auftritt, also Eier verschluckt, wird er krank und muss behandelt werden. Doch wer isst schon Fuchskot oder streichelt verkotete Füchse?

Die Hauptinfektionsquelle ist ganz woanders zu suchen – nämlich im eigenen Heim. Haustiere wie Katzen und Hunde, die Mäuse fangen und nicht regelmäßig entwurmt werden, können über ihr Fell Eier auf die Besitzer übertragen. Das Genießen von Walderdbeeren in der Natur ist demnach völlig harmlos, die eigenen Tiere je nach Entwurmungsgrad dagegen nicht.

Ein anderes Thema sind Wildschweine. Sie sind grundsätzlich völlig harmlos. Gefährlich werden sie nur in zwei Situationen: Wenn sie sich in Innenstädten verirren und panisch alles, auch Passanten, umrennen, und wenn sie angeschossen und schwer verletzt sind. Laufen Jäger im letzteren Fall ihrer Beute nach, um sie endgültig zur Strecke zu bringen, so können die in die Enge getriebenen Todeskandidaten eine letzte Attacke versuchen.

Beides betrifft Spaziergänger nicht. Dennoch kursiert noch immer das Märchen von der Bache mit ihren Frischlingen. Trifft man auf solche Familien, dann soll das Risiko bestehen, dass das Muttertier angreift. Das ist Quatsch. Denn Erstens sind Wildschweine scheu, laufen also weg, lange bevor Sie sie überhaupt sehen. Und dort, wo sie zahm geworden sind, also in und um die großen Städte, da passiert in solchen Situationen ebenfalls nichts. Dennoch scheint im Wald hinter jedem Strauch eine solche Gefahr zu lauern, vor allem, wenn man allein unterwegs ist. Doch die Gefahr lauert nur in der Fantasie.

Zwischen Ängsten und Allergien gibt es auffällige Parallelen. Allergien entstehen, weil wir die meisten Gefahren für unser Immunsystem beseitigt haben. Medikamente wie Antibiotika und vor allem die extreme Hygiene verhindern in vielen Fällen, dass sich unser Körper mit kleinsten Angreifern wie Viren, Bakterien oder Würmern bzw. deren Eiweißstrukturen auseinandersetzen muss. Dennoch muss unser System in ständiger Abwehrbereitschaft bleiben. Und da es häufig nichts zu tun gibt, beginnt es, sich mit anderen Fremdkörpern zu beschäftigen. Pollen von Gräsern oder Bäumen führen dann zu heftigen Allergieschüben – sie bestehen ja auch großenteils aus Eiweiß. Die Konzentration der Birkenpollen, einer Baumart mit besonders hohem Allergiepotenzial, nimmt über die Jahre laufend zu. Grund ist nicht nur die trotz der Warnung von Fachärzten weiterhin erfolgende Anpflanzung in Städten, nein, es ist auch die besondere Ausbreitungsfähigkeit der Birke. Sie ist eine Pionierart, das heißt, sie siedelt sich auf Brachflächen als eine der ersten an. Und Brachflächen gibt es in Hülle und Fülle. Das können Bahndämme sein, Randbezirke von Industriegebieten, Inseln in Autobahndreiecken, aber auch abbruchreife Häuser, auf deren Dächern sie trotz Mangel an Boden ihr Dasein fristen. Hinzu kommt der Wind. Er verbreitet die staubfeinen Pollen über viele Kilometer.

Wie weit sie verweht werden können, ist am Beispiel eines Krauts, der Ambrosia, gut belegt. Diese extrem allergisch wirkende Pflanze, schon im 19. Jahrhundert aus Nordamerika eingeschleppt, wächst oft in Sonnenblumenfeldern. Achten Sie deshalb beim Kauf von Vogelfutter darauf, dass ein Hinweis auf Ambrosiafreiheit abgedruckt ist. Ansonsten sind die Sonnenblumenkerne nicht aufwendig gesiebt worden, und rund um Ihr Vogelhäuschen sprießt im nächsten Frühjahr das auch »beifußblättriges Traubenkraut« genannte Gewächs. Größere Bestände davon existieren beispielsweise in Ungarn, und von dort wehen bei entsprechender Wetterlage solch große Mengen Pollen selbst bis nach Deutschland, wo sie Anlass zu Vorwarnungen geben.

Baumpollen können ähnlich weit fliegen. In Jahren, in denen besonders viele Arten blühen, staubt es so gewaltig aus den Wäldern, dass die Landschaft wie nebelverhangen wirkt. Die weite Reise mit dem Wind dient den Bäumen zur Verhinderung von Inzucht. Pollen sind in der Frühjahrsluft also etwas völlig Normales, Allergien gegen sie allerdings eher etwas Neues. Wendet sich unser Körper mangels Auseinandersetzung mit anderen Gefahren also allmählich gegen unser ursprüngliches Zuhause?

Und was ist mit dem Geist? Dort lässt sich tatsächlich Ähnliches wie bei den Allergien beobachten.

In grauer Vorzeit bis ins 19. Jahrhundert hinein konnte ein Waldspaziergang tatsächlich gefährlich werden. Allerdings weniger wegen der Raubtiere als vielmehr wegen der menschlichen Artgenossen. An den Verbindungswegen lauerten Räuberbanden, wie in meiner Eifel-Heimat noch aus den 1870er-Jahren berichtet wurde. Sie überfielen Planwagen mit Lebensmitteln, die das reiche Köln der hungernden Landbevölkerung schickte.

Aber natürlich gab es auch Wölfe, die vor allem das Vieh bedrohten und deshalb als unmittelbare Lebensgefahr angesehen wurden – wer konnte schon ohne die Milchspender und Zugtiere überleben? Von direkten Übergriffen auf Menschen wurde zwar selbst damals nicht allzu häufig berichtet, sie setzten sich aber in Form von Märchen in der Seele der Menschen fest.

Und heute? Wälder sind zu extrem sicheren Orten geworden. Räuberbanden gibt es nicht mehr, Tierangriffe sind (von Haushunden und vereinzelten Kühen bei einer Weideüberquerung einmal abgesehen) kaum noch vorstellbar. Giftschlangen sind Mangelware, ebenso entsprechende Insekten. Wovor sollte man also Angst haben? Und dennoch gibt es viele Menschen, die genau diese Angst empfinden, wenn sie alleine im Wald unterwegs sind. Probieren Sie es einmal aus. Und wenn Sie es tagsüber nicht spüren, wie wäre es dann mit einem nächtlichen Waldspaziergang? Im Dunkeln schlagen unsere Instinkte besonders gnadenlos zu und machen jeden Versuch des Verstands, die Harmlosigkeit der Situation zu beschwören, zunichte. Ich gebe zu: Selbst mich befällt ab und an eine leise, ganz leise Angst, die im Hintergrund aufzusteigen versucht, es aber aufgrund hundertfacher Erfahrung zum Glück nicht mehr schafft, mich zu packen.

Machen Sie es also analog zu einer Desensibilisierung bei Allergien: Waldspaziergänge bei Nacht, fein dosiert durch kurze Dauer, bauen Ängste ab und trainieren zugleich all die Sinne, die tagsüber zu kurz kommen.