Gut Ding will Weile haben

Vor 9 550 Jahren lebten unsere Vorfahren noch in der Steinzeit. Der Ackerbau war gerade erst erfunden und noch nicht besonders weitverbreitet, und selbst heute bekannte Größen wie Ötzi, der Mann aus dem Eis, traten erst rund 5 000 Jahre später auf die Bildfläche.

Doch ein vermeintlich unspektakuläres Ereignis klingt bis heute nach: Ein einsamer Fichtensamen fiel im Gebirge Schwedens auf den Boden und keimte: Old Tjikko war geboren. Damals hatte das Bäumchen noch keinen Namen, war nur eines unter Millionen. Doch sein hervorstechendstes Merkmal war seine Zähigkeit. Trotz mehrfacher Klimaänderungen, trotz Wetterkatastrophen und hungriger Tiere hat Old Tjikko bis heute überlebt und gilt als ältester Baum der Erde. Für einen Baumliebhaber wie mich war natürlich klar, dass ich diesen Methusalem einmal besuchen musste.

Am 10. Mai 2018 war es schließlich so weit. Nach einer Anreise über Stockholm und Mora wurde die Straße schmaler und schmaler, der Verkehr verebbte, und die Abstände zwischen den typischen rot-weißen Häusern wurden immer größer. Schließlich bog ich in den letzten Abzweig zum Fulufjället-Nationalpark ab. Das Sträßchen schlängelte sich zwischen alten Bäumen und reißenden Bächen hindurch – gerade war die Schneeschmelze in vollem Gange. Der Parkplatz vor dem Nationalparkhaus war bis auf ein Auto leer, denn die Wandersaison hatte gerade erst begonnen. Der Geländewagen gehörte Sebastian Kirppu, dem Guide, der mich führen würde.

Er hatte schon angerufen, als ich noch unterwegs war. »Tee oder Kaffee?« Fein, das verhieß einen entspannten Tag, ohne Blick auf die Uhr. Wir schauten uns zunächst Plätzchen kauend das menschenleere, weil noch geschlossene Besucherzentrum an, doch mich zog es nach draußen. Ich war schon so gespannt auf Old Tjikko!

Die Sonne schien über dem Fjäll, und es war warm – unnatürlich warm. Ich hatte mich durch Sebastians Vorankündigung auf eine schwierige Gebirgswanderung eingestellt, bei der wir uns mit Schneeschuhen mühsam vorarbeiten würden. Doch tatsächlich war der meiste Schnee schon verschwunden, trockneten die Wanderwege bei Temperaturen von über 20 Grad. So wurde es eher ein Spaziergang, allerdings einer, der es in sich hatte.

Schmale Holzstege überbrückten immer wieder kleine Moore, die sich mit Baumgruppen abwechselten. Kaum hatten wir die ersten Meter darauf zurückgelegt, als Sebastian auch schon abbog und mit mir durch ein paar Schneeflecken stapfte. Wir blieben an einem auf zwei Meter Höhe abgebrochenen, halb verrotteten Kiefernstumpf stehen. »Wir müssen uns das einfach ansehen.« Sebastian deutete auf eine kleine, knallgrüne Flechte, die sich wie ein Ministrauch in das tote Holz gekrallt hatte. »Fass sie bloß nicht an! Damit hat man früher Wölfe vergiftet!« Entgegen seiner eigenen Warnung stupste er das Gebilde mit dem Zeigefinger an.

Und dann bekam ich Mitleid mit dem kleinen Wesen. Denn Sebastian erzählte, dass es vom Aussterben bedroht sei. Die Ansprüche der Wolfsflechte seien einfach so speziell, dass sie in Zeiten der modernen Forstwirtschaft keinen Platz mehr finden würde. Speziell ist vor allem der Zeitbedarf. Zunächst muss an dem Platz im Wald eine Kiefer wachsen (eine Fichte funktioniert nicht). Diese Kiefer muss uralt werden, mindestens mehrere Hundert Jahre. Wenn sie dann abstirbt, zerfällt der Stamm über weitere Jahrhunderte. Er schrumpft ganz langsam, entwickelt Risse und Spalten, verfault aber nicht, da das Holz der Kiefer so viel Harz enthält. Nun endlich kann die Wolfsflechte Fuß fassen und ihr besonderes Grün entfalten.

Ich schaute betroffen auf den Stamm. Wo bei mir zu Hause existiert ein Wald, in dem Bäume überhaupt so alt werden? Möglicherweise gibt es dort keine Wolfsflechten, dafür aber andere Wesen, die ebenfalls alte, zeitlose Wälder brauchen.

Schnell waren wir beide in eine Diskussion über moderne Forstwirtschaft vertieft. Ein tieferes Verständnis von der Komplexität solch fragiler Lebensräume fehlt an dieser Stelle oft, wie die Kahlschläge nicht nur in Schweden, sondern etwa auch in deutschen Nationalparks bezeugen.

Doch zum Trübsalblasen blieb keine Zeit, denn wenige Meter weiter blieb Sebastian abermals stehen. Old Tjikko musste einfach noch ein, zwei Stunden warten! Und schon wieder betrachteten wir einen ähnlichen Stumpf, wieder Kiefer, nur diesmal von einem Feuer versengt. Ich konnte beim besten Willen nichts Aufregendes entdecken. Doch Sebastian zog eine kleine Lupe hervor und deutete auf winzige schwarze Punkte. Wieder eine Flechte, wieder mit einem unglaublichen Zeitbedarf. Im Gegensatz zu ihrer grünen Kollegin braucht sie eine weitere Zutat: Holzkohle. Doch nicht irgendwelche, nein, es muss eine sein, die mindestens hundert Jahre alt ist und sich auf der Oberfläche alten Holzes befindet. Hier und nur hier fühlt sie sich wohl und wird dabei gerne übersehen.

Während normale Waldbesucher (und da schließe ich mich durchaus ein) sich gerne von den bunten Blumen schwedischer Gebirgswälder bezaubern lassen, bleiben solch langsame Gesellen völlig unbeachtet. Verschwinden sie durch die Beseitigung der Urwälder und durch den Anbau von Plantagenwäldern, dann weint ihnen niemand eine Träne nach. Außer jemand wie Sebastian natürlich, und der unternimmt alles, um weitere Wälder vor dem Zugriff der immer hungrigen Holzindustrie zu entziehen. Dazu besucht er Urwälder, die in Kürze abgeholzt werden sollen. Meist wiegeln die zuständigen Förster ab, bestreiten, dass dort seltene Arten leben. Und falls doch, gestehen sie bestenfalls zu, dass kleine Bauminseln von wenigen Metern Durchmesser stehen bleiben dürfen – viel zu wenig für ganze Lebensgemeinschaften. Sebastian vergleicht das gerne mit einer Stadt, in der alle Hochhäuser bis auf eines abgerissen werden. Und dann müssten alle Bewohner in dieses letzte Gebäude umziehen, was natürlich unmöglich wäre. Ähnlich ergeht es den Tausenden von Arten, die nun plötzlich ihr Zuhause verlieren. Manchmal konnte Sebastian in letzter Sekunde einen Einschlagstopp bewirken, oft aber auch nicht. Deshalb ist er nicht zufrieden, obwohl er eigentlich sehr stolz auf sich sein könnte.

Bevor es endlich den steilen Anstieg auf das Hochplateau hinaufging, rasteten wir noch kurz an einem beeindruckenden Wasserfall. Durch die Schneeschmelze stürzten große Wassermengen die Klippe hinunter und erzeugten Gischtwolken, die im Sonnenschein funkelten. Bis zu diesem Punkt arbeiteten sich auch Turnschuhträger durch, die, nachdem sie schnell ein Selfie gemacht und ihre Coladosen in die Landschaft geworfen hatten, wieder den Heimweg antraten. Hier sieht man, wie Natur zu einem touristischen Event verkommt. Es interessiert nur das Bild für zu Hause, mit dem man beeindrucken möchte. Dass in der Steilwand neben dem Wasserfall seltene Falken nisten, entgeht den meisten Besuchern.

Doch jetzt wurde der Pfad steiler, und wir waren allein. Über Schnee- und Geröllfelder ging es aufs Hochplateau hinauf, von dem aus wir eine atemberaubende Fernsicht über den Nationalpark hatten. Seine Grenzen waren leider allzu deutlich zu erkennen: Es sind die Kahlschläge, die zeigen, wo der wirtschaftende Mensch Narben in der grünen Decke der Natur hinterlässt. »Da hinten ist er!« Sebastian deutete auf ein kleines grünes Dreieck am Horizont. Durch trockene Flechten, die unter den Stiefeln knirschten, stapften wir auf unser Ziel zu.

Und dann war es endlich so weit: Vor uns stand eine windzerzauste Fichte, die sich aus einem Polster grüner Zweige erhob. Rings herum war die Landschaft voller Felsblöcke, die die Kargheit der Hochebene zusätzlich unterstrichen. Was mir durch den Kopf ging? Auch wenn mir keine Tränen kamen, war ich doch sehr gerührt. Ich war einen Moment sprachlos ob des Gedankens, wie lange dieser kleine, mickrige Baum dort oben schon ausgeharrt hatte. Fast 10 000 Jahre waren seit der Keimung aus dem Samenkorn vergangen, Mammuts waren danach ausgestorben, Stonehenge errichtet und die Pyramiden gebaut worden. Mehrfach hatte sich das Klima von kalt zu warm und wieder zurück entwickelt, aber von alldem unberührt stand die Fichte immer noch unversehrt an ihrem Platz.

Erlebt hatte sie, abgesehen von den Klimaschwankungen, dabei sicher nicht viel – das ist eher eine menschliche Vorstellung. Denn Old Tjikko konnte nur so alt werden, weil sie besonders langsam wuchs, und langsames Wachstum bedeutet späte Geschlechtsreife.

Die Langsamkeit wird durch die Umgebung verursacht: Die Vegetationszeit ist dort oben nur sehr kurz, die Winter sind hart und lang – da bleibt wenig Zeit, um wenigstens etwas Fotosynthese zu betreiben. Immer wieder bogen gewaltige Schneemassen das Stämmchen um, sodass ein Seitenzweig die Führung übernahm und einen neuen Haupttrieb bildete. Der derzeitige »Baum« ist somit nur einige Hundert Jahre alt; die eigentliche alte Fichte ist der Wurzelstock und das Gestrüpp am Boden.

Hier stellte sich mir erneut die Frage, was eigentlich das Wesen eines Baums ausmacht. Ist es der Stamm, den wir für gewöhnlich für das Wichtigste halten? Oder sind es die Wurzeln, die die Jahrtausende überdauert haben und in denen möglicherweise die Erinnerungen dieser alten Fichte gespeichert sind? Ich neige mittlerweile dazu, Letzteres als entscheidend zu sehen.

Sebastian und ich verzehrten unser mitgebrachtes »Polarbröd«, eine Art weiches Knäckebrot, dazu gab es Käse und Blaubeersaft. Sebastian erzählte, dass die Parkverwaltung überlegte, ob sie nicht einen markierten Weg zu Old Tjikko bauen sollte. Viele Touristen kämen in den Nationalpark, suchten im Gebirge den Baum und kehrten entrüstet und enttäuscht zurück zum Eingangsgebäude, um sich zu beschweren, wenn sie nicht fündig geworden waren. Old Tjikko war schließlich der Grund ihres Besuchs.

Ein markierter Weg? Diese Idee gefiel mir überhaupt nicht. Wenn ich mir die fragile Fichte so betrachtete, dann konnte ich schon Tausende Souvenirjäger vor mir sehen, die sich zum Selfie auch noch ein Ästchen als Trophäe mit nach Hause nehmen wollten. Das konnte nicht lange gut gehen.

Bisher war die Position nur recht vage in der Karte verzeichnet, und ein dünnes weißes Seil war im Abstand von fünf Metern an 30 Zentimeter hohen Pflöckchen gespannt. Diese »Absperrung« sollte verhindern, dass Menschen auf den empfindlichen Wurzeln herumtrampeln. Außerhalb der Absperrung waren schon sämtliche Flechten in den moorigen Boden getreten. Da die Wurzeln von Old Tjikko sich bestimmt mindestens doppelt so weit vom Stamm durch den Boden ziehen, ist er schon heute durch die Besucher lädiert. Auch durch mich. Und ich kam gleich doppelt ins Grübeln. Mit meiner Schuhgröße 48 hatte ich ebenfalls etliche zarte Flechten ins Nirwana befördert, und noch schlimmer: Wurden durch mich nicht noch mehr Menschen auf diese Kostbarkeit aufmerksam, war ich nicht sogar mitschuldig am künftig anschwellenden Strom der Touristen? Solche Gedanken setzten mir schwer zu. Sollte ich besser nicht mehr von Naturjuwelen berichten, von intakten Ökosystemen, die Hoffnung geben und vielen Menschen neuen Zugang zu unserer Umwelt ermöglichen?

Oder gab es nicht vielleicht andere Lösungen?

Schon heute findet während der Saison einmal täglich eine geführte Tour zu Old Tjikko statt. Könnte man es nicht einfach dabei belassen und eine Art Warteliste einrichten? Auch bei Konzerten sind irgendwann alle Karten ausverkauft, warum sollte das bei den Stars der Bäume anders sein? Die dritte Alternative wäre, generell jedermann den Zutritt zu verwehren. Davon halte ich allerdings gar nichts, denn Naturschutz, bei dem Menschen komplett ausgesperrt werden, führt dazu, dass das Interesse für die zu schützenden Lebensräume sinkt.

Unten im Tal angekommen, machten wir noch einmal am Nationalparkhaus halt. Helena, Sebastians Freundin, ging hinein und kam kurz darauf mit einem Stückchen Wurst zurück. »Das ist für die Unglückshäher« sagte sie. Unglückshäher verdanken ihren Namen der Tatsache, dass sie in besonders kalten Wintern sehr weit südlich bis nach Mitteleuropa hinein ausweichen müssen, um noch etwas zu fressen zu finden. Ihr Auftauchen kündigte vor Jahrhunderten extrem harte Witterungsbedingungen wie eisige Kälte und große Schneemassen an. Das war für die bitterarme Landbevölkerung ein großes Unglück, und dementsprechend wurde der Vogel auch benannt.

Im Fulufjället Nationalpark heitern die Tiere die Touristen auf. Mickrige Flechten sind als Erlebnis nicht genug; da können die zahmen Vögel enttäuschte Wanderer wenigstens etwas erfreuen. Zumal dann, wenn diese aufgrund der nur vagen Angaben auf der Karte Old Tjikko nicht gefunden haben.

Und damit kommen wir zum Kern des Problems: Viele Besucher reizt und fasziniert nicht die wundervolle Landschaft mit ihren atemberaubenden Ausblicken, interessiert nur wenig die Fülle an hochspezialisierten Lebewesen. Nein, es ist das hohe Alter des mickrigen Bäumchens, das sturmzerzaust dort oben auf dem Bergrücken ausharrt. Optisch ist die Fichte kein Highlight; es geht hier ausschließlich um ihre Geschichte. Nur das Wissen, dass sie schon seit 9 550 Jahren ums Überleben kämpft und vielleicht noch weitere Jahrtausende ausharrt, macht ihren Reiz aus. Kleine Fichten gibt es schließlich wie Sand am Meer, lediglich ihr Alter unterscheidet sie vom betagten Artgenossen.

Meine Tour mit Sebastian war aber noch nicht beendet. Er wollte mir unbedingt noch weiteren Urwald in der Umgebung zeigen. Den sahen wir auch, doch vor allem fuhren wir an unzähligen Holzstapeln aus Urwaldholz vorbei – im Hintergrund riesige Kahlschläge, die dieses einzigartige, langsame Ökosystem zerstört hatten. Der Gipfel sei, so Sebastian, dass dieses Holz mit dem FSC-Siegel ausgestattet wurde, also einem Zertifikat für besonders ökologische und sozialverträgliche Forstwirtschaft.

Dieses Siegel verwende ich auch in meinem Forstbetrieb in Wershofen, und allein schon aufgrund der eigenen Beobachtungen der letzten Jahre (so zertifizierte der FSC Kahlschlagsholz auch im Nationalpark Eifel) bin ich mir nicht mehr sicher, ob so ein Label noch sinnvoll ist. Gibt es etwas Schlimmeres als Urwaldkahlschlagsholz? Wenn ein Siegel so etwas nicht nur nicht verhindern kann, sondern solche Hölzer offenbar trotz öffentlicher Hinweise weiter zertifiziert, dann müsste man sich nach einer Alternative umsehen. Doch nach welcher? Es gibt noch das PEFC-Siegel, dessen Standards noch unterhalb denen des FSC liegt. Ansonsten ist gähnende Leere auf dem Holzmarkt, gibt es nur noch Produkte ganz ohne externe Kontrollen durch nichtstaatliche Organisationen.

Mit gemischten Gefühlen fuhren wir wieder nach Hause, doch ein letztes positives Gespräch fand noch während des Abschiedsessens in einem Imbiss im Nirgendwo der schwedischen Wildnis statt. Überall auf der Welt gibt es einsame Aktivisten wie Sebastian, die für sich kämpfen, viel erreichen und dennoch frustriert sind. Wäre es nicht schön, wenn sich dieser Kreis einmal jährlich trifft, nur um sich auszutauschen? Ohne Tagesordnung, ohne Ziele, einfach nur, um sich nicht so allein zu fühlen? Wir haben an diesem Abend ein solches Treffen vereinbart, und ich freue mich schon auf all die einsamen Wölfe – lasst uns zusammen heulen!