Fünf Minuten lang beobachten wir beide das Pariser Treiben, dann fragt mein Bruder: »Was hat die Köchin eigentlich gemacht, als sie euch erwischt hat?«
»Hysterisch geschrien, bis der Rektor kam«, antworte ich.
»Es überrascht mich nicht, dass er dich auf der Stelle entlassen hat.«
Ich nicke, kann jedoch die kribbelnde Hitze nicht unterdrücken, die mir den Hals hinauf in die Wangen steigt. »Aber Eduard hat seine Stelle behalten.« Ich sehe meinen Bruder an und warte auf seine Reaktion. Nichts.
»Und in Amsterdam wussten sie bei deiner Heimkehr bereits Bescheid?« Andries vermeidet es, mich anzuschauen, und blickt lieber aus dem Fenster.
»Pa hat mich am Bahnhof erwartet. Er war wütend, hat rumgeschrien, mir eine Ohrfeige verpasst und mir auf den Kopf geschlagen. Vermutlich werde ich in der Nachbarschaft noch wochenlang Gesprächsthema Nummer eins sein.« Unwillkürlich berühre ich meine Wange. Ich spüre das Brennen immer noch.
»Was hast du denn von ihm erwartet?« Jetzt sieht er mich an.
»Verständnis.« Meine Worte sind fast ein Flüstern. »Ich habe einen Fehler gemacht, mich hinreißen lassen, aber ist das nicht menschlich? Ich wusste nicht mal, was mich hier erwartet.«
»Ach, Jo.« Er drückt meine Hand. »Ich freue mich immer über eine Gelegenheit, Zeit mit dir zu verbringen.«
»Eduard hat gesagt, er liebt mich. Dass er unsere Verbindung bekannt macht, sobald sein Roman veröffentlicht ist.«
Andries schnaubt kopfschüttelnd. Ich bin mir nicht sicher, ob er sich über mich lustig macht, oder ob meine Worte ihn erheitern, aber ich weiß, er ist mir nicht böse. »Du Närrin! Du bist doch erwachsen. Fünfundzwanzig Jahre alt«, sagt er. »Du solltest es besser wissen.«
»Pa hat mir gar keine Gelegenheit gegeben, es zu erklären. Ich durfte nicht mal eine einzige Nacht zu Hause verbringen. Stattdessen wurde ich in den nächsten Zug hierher gesetzt.«
Wieder drückt mein Bruder mir mitfühlend die Hand.
Jetzt bin ich in Sicherheit .
»Du hast diesem Mann alles gegeben, was er wollte, ohne dass er dich heiraten musste.«
»Das habe ich ihm nicht gegeben!«, widerspreche ich. »Wir haben nie …« Ich will, dass er diese Wahrheit kennt.
»Das ist jetzt Vergangenheit.« Andries zupft an losen Fusseln auf seinen Hosenbeinen herum.
»Ich habe mich noch nie so elend gefühlt«, sage ich.
»Hat keinen Sinn, weiter darüber nachzugrübeln, Schwesterherz. Du bist hier, in Paris, bei mir. Am besten genießt du stattdessen deine Strafe.«
»Meine Strafe?« Ich sehe ihn fragend an. Er lächelt.
»Na, dass Pa dich den Sommer über aus Amsterdam verbannt hat.«
Ich lächele ebenfalls. Dann schließe ich die Augen und lausche dem Klippklapp der Hufe.
»Du hast doch Bücher und Kunst immer geliebt«, sagt Andries. Ich öffne die Augen.
»Frauen sollten die schönen Künste unterstützen, aber niemals Künstlerinnen sein «, ahme ich Pas strengen Tonfall nach.
Andries sieht mich an und lacht laut heraus. »In Paris gibt es ganz viele Künstlerinnen.«
»Und wie viele verdienen sich damit ihren Lebensunterhalt?«, will ich wissen. »Wie viele dürfen ihre Werke in den Salons ausstellen?« Die Antwort meines Bruders lässt auf sich warten. Ich nehme an, er geht in Gedanken seine Bekannten durch beim Versuch, ein Beispiel für seine Behauptung zu finden.
Kunst fasziniert mich – das Machen, das Entdecken, auch das Analysieren. Hat sie schon immer. Ich will unbedingt die verschiedenen Maltechniken verstehen und wie Künstler etwas erschaffen. Früher habe ich davon geträumt, in Paris zu studieren, aber Pa hörte sich meine Argumente nicht einmal an. Für meine Kunst hatte er weder Zeit noch Interesse, ja, er weigerte sich sogar, meine Leinwände oder Skizzen überhaupt anzusehen. Sie stapeln sich immer noch im Keller, meine Versuche mit Aquarellfarbe, Kohle, sogar einige Ölgemälde, allesamt im Grunde armselige Experimente. Ich habe nie behauptet, Talent oder genialen Schöpfergeist zu besitzen. Als ich beschloss, mir Bildung zu erkämpfen und die erste Frau in unserer Familie zu sein, die traditionelle Rollenbilder ablehnt und nach etwas anderem strebt – etwas Besserem, nach mehr –, da war mir klar, dass es kein Studium der bildenden Künste sein würde. Stattdessen wählte ich Englische Literatur – Romanschriftsteller und Poeten –, und aus meiner Liebe zur bildenden Kunst wurde Liebhaberei, eine heimliche Schwäche. Nur Andries wusste, wie sehr sie mich weiterhin faszinierte. Pa hätte mir erklärt, es sei bloß Verschwendung von Zeit und Geld.
»Ich habe einen Freund, der macht sich gerade einen Namen als Kunsthändler. Hat viele Kontakte hier in der Stadt. Ich werde ihn mal nach Künstlerinnen fragen und um Hilfe für deine Ambitionen bitten. Aber jetzt musst du dich erst einmal darauf konzentrieren, diesen Mann zu vergessen«, erklärt Andries. Er macht eine wegwischende Handbewegung, als wolle er Eduard einfach fortzaubern. Ich nicke. Meine Lider werden schwer, und das Hufgetrappel lullt mich ein.
Ich habe diesen Mann, Eduard, zu Beginn meines zweiten Jahres als Lehrerin kennengelernt. Wir waren beide an einem Mädchenpensionat in Utrecht angestellt. Er war intelligent, witzig und besaß die hellsten blauen Augen, die ich je gesehen habe – und war zehn Jahre älter als ich. Er wusste viel, hatte Erfahrung: mit Literatur, mit Kunst, mit Frauen. Ich verliebte mich auf der Stelle in ihn, und im Gegenzug hob er meine Welt aus den Angeln. Er schwor mir, er habe vor mir noch niemanden geliebt, ich sei seine Muse, und wenn ich ihn verließe, würde er nie wieder ein Wort schreiben. Während der drei Jahre, die wir uns trafen, machte er mir nie einen Antrag, und ich fand immer neue Entschuldigungen dafür. Ich glaubte seinen Worten und wilden Ansichten. Versuchte, es zu ignorieren, als die Köchin erwähnte, Eduard Stumpff sei verlobt, oder wenn er vergaß, irgendwelche Reisen zu erwähnen, oder wenn Gerüchte über Eduard und die junge Musiklehrerin in der Schule die Runde machten. Ich akzeptierte sein Schmollen, tolerierte seine unangenehmen Phasen des Schweigens und war sofort zur Stelle, wenn er spontan ein Stündchen oder zwei für mich übrig hatte. Ich benahm mich wie eine lächerliche Witzfigur.
»Es ist erst zwei Tage her. Das hier«, sagt Andries, und als ich die Augen öffne, sehe ich ihn mit der Hand vor meinem Gesicht herumwedeln, »wird vorbeigehen.« Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich weinte.
»Er ist der einzige Mann, den ich je lieben werde.« Doch noch während ich das sage, weiß ich, dass es nicht stimmt. Er ist der erste Mann, den ich geliebt habe, und er war der Falsche. Ich hätte ihn nie lieben dürfen, diesen Dieb unterm Deckmantel eines Schulmeisters. Drei Jahre meines Lebens hat er mir gestohlen, und wofür?
Andries lacht nur. »Du, ich … wir als Familie haben einen Ruf zu wahren. Dazu gehören gewisse Erwartungen, und das weißt du genau.« Einen Augenblick lang richtet er den Blick schweigend auf die vorbeiziehenden Gebäude. »Es wird eine neue ›Liebe‹ geben. Mama und Pa werden dafür sorgen. Vor Ende des Jahres werden sie dich unter die Haube bringen.«
»Ich werde niemals heiraten.«
Er wischt meine Worte beiseite. »Es gibt Dinge, die du schlicht und einfach wirst tun müssen. Du musst die Konsequenzen deines Handelns tragen, Jo. Aber alles kann wieder geradegerückt werden. Jetzt hast du erst einmal einen ganzen Sommer, um zu lesen, zu zeichnen und zu malen. Montmartre wird dein Spielplatz sein.«
»Solange ich von Männern verschont bleibe, vor allem von Schriftstellern«, sage ich und werfe nun meinerseits einen Blick aus dem Kutschenfenster. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du dir ausgerechnet das Montmartre-Viertel als Quartier ausgesucht hast.«
»Nicht ganz der Montmartre«, korrigiert mich Andries. »Mama ist der Ansicht, dass ich auf der richtigen Seite des Boulevard de Clichy wohne, wobei sie mir vermutlich nie verzeihen wird, dass ich nicht das 8 . Arrondissement gewählt habe.« Andries grinst. »Ich habe dir übrigens ein Geschenk mitgebracht.«
Er greift in die Innentasche seines Gehrocks und überreicht mir ein Skizzenbuch.
»Führe Tagebuch über deine Zeit hier. Fülle die leeren Seiten mit Worten und Skizzen.«
Ganz plötzlich meldet sich ein Kribbeln in meinem Bauch bei dieser unerwarteten Aussicht, tief in die Pariser Kunstwelt einzutauchen. Ich habe mir sehr gewünscht, meinen Bruder in Paris besuchen zu dürfen, und nun scheint meine ›Strafe‹ genau darin zu bestehen.
»Lass uns diesen gemeinsamen Sommer genießen, bevor du nach Amsterdam zurückkehrst, egal welche Lösung unsere Eltern sich für dich ausdenken«, sagt er.
»Was wird denn da gebaut?«, frage ich und deute aus dem Fenster. Auf der Kuppe eines kleinen Hügels ragen zwischen einem quadratischen Gerüst weiße Mauersteine aus der Erde.
Andries beugt sich vor, um an mir vorbeischauen zu können.
»Das da? Auf dem Butte Montmartre?« Er zeigt auf den höchsten Punkt der Stadt. »Das soll irgendwann mal eine Basilika werden. Eine Kapelle gibt es dort schon. Man kann sie hinter dem Gerüst erahnen. Alle, die ich kenne, haben mindestens für einen Stein gespendet, aber ich bekomme trotzdem dauernd Anfragen, ob ich nicht eine Säule finanzieren will. Weiß der Himmel, ob das Ding je fertig wird.«
»Die Aussicht wird jedenfalls atemberaubend sein«, sage ich.
Andries nickt. »Paris verändert sich. Warte ab, bis du siehst, was Eiffel auf dem Champ de Mars baut«, berichtet er begeistert. »Wir schauen uns das jede Woche an.«
»Wir?«, frage ich.
»Erinnerst du dich an Sara Voort?«
Kopfschüttelnd wende ich mich meinem Bruder zu. »Bist du verliebt?«
Er lacht schallend. Anscheinend findet er den Gedanken an ihn und Miss Voort als Paar sehr erheiternd.
»Erinnerst du dich an Pas Freund, Samuel Voort? Sie ist seine Tochter. Hat Mama ein paarmal besucht. Hässlich. Ein Gesicht so rund wie der Vollmond, Knollennase und winzige, gemeine Schweinsäuglein.«
»Was für eine entzückende Beschreibung, Bruderherz.« Ich versetze seinem Arm einen Klaps mit meinem Skizzenbuch.
»Sie läuft ständig einem Freund von mir hinterher. Theo van Gogh – hast du von ihm gehört?« Ich schüttele den Kopf. »Er ist der aufstrebende Kunsthändler, den ich vorhin erwähnt habe. Kennt alle vielversprechenden Nachwuchskünstler. Theo und ich verbringen viel Zeit zusammen. Du wirst ihn mögen. Ich besorge dir eine Audienz bei ihm. Dann kannst du ihm deine Werke zeigen und …«
»Andries, ich habe wirklich kein Talent.«
»Dann nutze diesen Sommer, deine künstlerischen Fähigkeiten zu perfektionieren und von anderen zu lernen. Konzentriere dich darauf statt auf einen aufgeblasenen Idioten, der dir das Herz gebrochen und Schande über unsere ehrbare Familie gebracht hat .« Er ahmt Mamas keifende Stimme nach. Dieses Mal versetze ich seinem Bein einen Klaps mit dem Skizzenbuch. Dann hake ich mich bei ihm unter und lehne den Kopf an seine knochige Schulter.
»Danke«, sage ich.
»Wofür?« Er küsst mich aufs Haar.
»Dass du mich nicht in ein stinkendes Kellerloch sperrst.« Ich weine schon wieder, aber dieses Mal mischen sich Freude und Erleichterung unter meine Tränen.