Pariser Vororte,
Blick vom Montmartre

»Übrigens, wir gehen heute Abend aus«, erklärt Andries, als wir sein Appartement betreten und er meinen Lederkoffer abstellt. Ich sehe mich um: weiße Wände, schwarz-weiß gefliester Fußboden und ein Tischchen mit aufwendigen Schnitzereien und gedrechselten Beinen. Fasziniert streiche ich über das glatte Holz. Mein Bruder hat einen erstklassigen Geschmack, wenn es um Möbel geht.

Andries nimmt seine Korrespondenz vom Tisch und wedelt mir damit beim Sprechen vor dem Gesicht herum. »Ein erster Vorgeschmack auf deine Pariser Freiheit, Jo.«

Ich bin immer noch damit beschäftigt, diesen Eingangsbereich auf mich wirken zu lassen, doch mein Bruder wartet auf eine Erwiderung. »Muss ich wirklich mitkommen? Ich bin nicht unbedingt in Stimmung, Leute zu treffen.« Die Reise war lang und ermüdend, und die Vorstellung, mich nach Amsterdamer Mode zurechtzumachen und mich mit Fremden unterhalten zu müssen, birgt keinerlei Reiz.

»Es wird dir guttun. Du kannst nicht in Paris sein und dich zu Hause eingraben«, beharrt er. »Außerdem handelt es sich um den Ort, um gesehen zu werden. Eine Windmühle. Alle zieht es dorthin: Studenten, Künstler, Glückssucher. Vertrau mir, es wird dir gefallen.«

Ich schüttele den Kopf. »Vielleicht nächste Woche.«

»Stürz dich mitten hinein, Jo. Pack Paris beim Schopf. Solche Gelegenheiten bieten sich nur diesen Sommer.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Ich will aber nicht«, schmolle ich. Andries funkelt mich an. Er wartet auf eine Erklärung. »Ich habe nur noch ein anderes Kleid dabei, und das ist für so etwas kaum passend. Ich sehe darin aus wie eine altbackene Schulmeisterin.« Das Gefühl, nicht dazuzugehören, für diese Stadt nicht kultiviert genug zu sein, ist mit einem Mal überwältigend. Ich bin hier fehl am Platz – so wie ich mich mein ganzes Leben fehl am Platz gefühlt habe.

Ein Lächeln breitet sich auf dem Gesicht meines Bruders aus. »Und das ist der einzige Grund, nicht mitzukommen?«, fragt er. Ich nicke. Nun lacht er. »Clara hat ein neues Kleid für dich besorgt.«

»Wie bitte?«

»Es liegt auf deinem Bett.«

Ich drehe mich auf der Stelle um und eile den Flur entlang. Meine Absätze klappern auf den Fliesen.

»Dritte Tür rechts«, ruft er mir hinterher.

Ich öffne die Tür und mache beim Anblick des wunderschönen Kleides vor Freude einen kleinen Luftsprung. Dunkelroter Satin mit pfauenblauem Samt als Kontrast. Ein verlängertes Korsett, enge Ärmel und ein hochgeschlossener Kragen. An diesem Kleid ist nichts prüde: Meine Figur unterm Stoff wird nicht unbemerkt bleiben. Ich nehme es vom Bett und drehe mich, um es von allen Seiten zu begutachten. Die Röcke sind mehrlagig und gestuft, vorne mit Karree-Ausschnitt und hinten mit einer kleinen Schleppe, mit Plisseefalten sowohl im Rock als auch in dem aufwendigen Besatz. Es gehört eine Turnüre dazu, die aber weniger ausladend ist, irgendwie weiblicher. Mutiger, kompromissloser. Nie habe ich etwas Ähnliches besessen oder auch nur getragen wie dieses Kleid.

»Gefällt es dir?« Als ich mich umdrehe, steht Andries in der offenen Tür.

»Mama würde nie …«

»Nun, jetzt weilst du unter meinem Dach«, sagt er schlicht.

Ich eile zu ihm und schlinge ihm die Arme um den Hals, das Kleid noch in der Hand. »Danke.«

»Clara hat es ausgesucht.« Sie ist sein Hausmädchen und war zuvor in Amsterdam unsere Angestellte. Sie kennt mich, seit ich ein Baby war, und liebt uns beide abgöttisch.

»Wo ist sie?«, will ich wissen.

»Wahrscheinlich in der Küche. Komm, wir suchen sie und essen etwas, und dann hilft sie dir beim Ankleiden für heute Abend.«

Juni 1888

Bonjours, Paris!

Mein allererster Eintrag in dieses Skizzenbuch. Früher habe ich über alle gelacht, die Tagebuch schrieben, aber Dries lag vollkommen richtig, inzwischen verspüre auch ich den Drang, meine Zeit hier in Worten und Skizzen festzuhalten. Ich glaube, es wird mir helfen, all das, was ich erlebe, zu reflektieren, und auch über die Vergangenheit nachzudenken. Außerdem will ich versuchen, mich zu bessern. Ich werde während dieses Sommers in Paris wachsen und lernen – das ist mein neues, aufregendes Ziel. Es wäre doch furchtbar, wenn ich am Ende meines Lebens nichts erreicht hätte, das großartig oder wenigstens bemerkenswert ist.

Und ich bin hier frei. Und verloren. Ich bin ohne Eduard.

Wie gerne würde ich ganz Utrecht die Wahrheit ins Gesicht schreien, Pa erklären, was Eduard in Wirklichkeit war: ein Feigling, ein Heuchler, der mich nie anständig behandelt hat – oh, wenn ich das doch nur könnte. Der ganzen Welt würde ich das verkünden. Alle sollten es wissen. Ich würde ihn am liebsten brandmarken – ihn, der sich über alle anderen erhoben hat, aber eigentlich so viel, viel tiefer steht als wir.

Doch welchen Nutzen hätte eine solche Rache?

Lieber bin ich meinem Bruder wahrhaft dankbar. Eine Dries-förmige Welle reißt mich mit. Ablenkung ist eindeutig der beste Weg, die Sache durchzustehen. Ich kann nicht jede Stunde damit verbringen, mir zu wünschen, Eduard wäre nicht Teil meiner Geschichte, dass meine Familie, meine Schüler, Fremde nicht über uns tuscheln und jedes hämische Flüstern nicht die Scham in meinem tiefsten Innern vergrößert.

Heute Abend muss ich diese Gedanken beiseiteschieben und mein bestes Pariser Gesicht aufsetzen. Ins kalte Wasser springen. Ich darf Dries nicht wieder enttäuschen, meinen größten Unterstützer und besten Freund. Nicht jetzt, wo ich gerade erst in seiner Stadt angekommen bin.