Ich bin erst zehn Minuten im Moulin de la Galette und fühle mich jetzt schon lebendiger als die ganzen letzten drei Jahre. Trotzdem bin ich noch nicht mutig genug, mich mit hineinzustürzen.
»Jo!« Andries’ Stimme. »Jo, komm mal her.« Ich suche in der Menge nach seinem Gesicht. Andries ist ein groß gewachsener Mann – alle Männer in unsere Familie sind lang und dünn –, darum entdecke ich ihn gleich jenseits der improvisierten Tanzfläche.
Tief durchatmen. Lächeln . Ich bahne mir einen Weg durch die tanzende Meute, ohne sehen zu können, mit wem sich mein Bruder unterhält. Ich höre eine Männerstimme und auch eine schrille Frauenstimme, doch Andries versperrt mir die Sicht. Mehr Gelächter – eines gackernd, das andere tief und rau. Andries fährt sich mit der Hand übers kurze Haar mit dem leichten Seitenscheitel. Ich tue es ihm gleich, um den Sitz meiner Hochsteckfrisur zu prüfen, aus der sich Locken gelöst haben. Dabei muss ich der Versuchung widerstehen, die Haarnadeln einfach alle herauszuziehen.
»Du erinnerst dich an Sara Voort?«, fragt Andries, sobald ich ihn erreicht habe. Sein Gebaren ist steif, förmlich. Mit einer Kopfbewegung bedeutet er mir, mich entsprechend zu benehmen. Dann tritt er zur Seite, und Sara kommt auf mich zu. Ihr Gesicht ist nicht rund wie ein Vollmond, ihre Nase nicht knollenartig und ihre Augen nicht winzig. Nein, sie hat mandelförmige braune Augen, eine schmale kleine Nase, volle Lippen in einem herzförmigen Gesicht. Mit anderen Worten: Sara ist bildhübsch. Ich hoffe, sie ist auch nicht so gemein, wie mein Bruder gesagt hat.
»Sara, wie schön, Sie wiederzusehen. Wie geht es Ihren Eltern?« Lächelnd versuche ich, selbstbewusst zu wirken.
»Liebste Johanna, wie geht es dir?« Sie ergreift meine Hände, tritt einen Schritt zurück und mustert mich von oben bis unten. »Man sagt, du bist zu einer Schönheit herangewachsen.« Kurze Pause. Ihre unnatürlich dunklen Augenbrauen treffen sich in der Mitte. »Ich habe von dieser schrecklichen Sache in Utrecht gehört.«
Ich werfe meinem Bruder einen Blick zu. Du hast es ihr erzählt? Er schüttelt den Kopf. Sie ist Holländerin. Ihre Eltern werden sein wie meine: schnell dabei, das Unglück anderer Leute weiterzutragen. Tratsch wird in den Niederlanden von Neidern und Narren verbreitet.
»Mama hat mir sofort geschrieben, als sie davon hörte«, sagt sie. Dabei lächelt sie zuckersüß – in die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen würde eine Franc-Münze passen –, doch ihr Tonfall ist nicht freundlich. Sie lässt meine Hände los, um mir die Schulter zu tätscheln wie eine Mutter ihrem unliebsamen Kind.
»Meine Schwester ist hier, um den Sommer über Kunst zu studieren«, sagt Andries und zieht mich an sich.
Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter, und genau in diesem Moment nehme ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Nur ein verschwommener Fleck am Rand meines Sichtfeldes. Instinktiv hebe ich den Kopf und drehe mich nach rechts.
Der Mann steht stocksteif da und wirkt im ausgelassenen Treiben des Moulin de la Galette völlig deplatziert. Als wäre er aus Holz geschnitzt. Er trägt einen eleganten, hoch geknöpften Mantel und in der Hand einen Bowler-Hut. Seine Züge sind fein, fast schon feminin, wenn auch ohne Wärme. Sein Teint ist rötlich blass, doch es sind seine hellblauen Augen, die mich fesseln. Alles an ihm wirkt steif und unnachgiebig, und trotzdem kann ich den Blick nicht von ihm abwenden, wie er allein inmitten all der Fröhlichkeit steht. Ich wage fast nicht zu blinzeln – aus Angst, er könnte verschwinden.
Da sieht er mich an. Eine plötzliche Verbindung zwischen uns, die ich so noch nicht erlebt habe. Etwas Fremdartiges und dennoch Notwendiges. Wie Magnetismus. Fühlt er es auch?
Andries zieht mich enger an sich. »Findest du nicht auch?«, fragt er, aber ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. Ich lache, was wiederum Andries zum Lachen bringt und schließlich auch Sara. Deren Lachen klingt jedoch nicht echt. Ich sehe diesen Fremden unverwandt an, und auch er wendet den Blick nicht ab.
»Wer ist das?« Ich glaube, ich frage eher den Fremden als meinen Bruder.
»Wer?«, fragt Andries zurück, und ich zeige auf den rothaarigen Mann. Der Fremde betrachtet meine Hand und dreht sich weg.
»Na, das ist er. Der Freund, von dem ich dir erzählt habe«, sagt Andries. »Das ist Theo van Gogh.«
»Er und ich werden heiraten!«, verkündet Sara und entschuldigt sich dann, um in Richtung ihres Verlobten davonzueilen.
Juni 1888
In meinen ersten vier Tagen in Paris saß Andries geduldig neben mir, während ich rings um den Montmartre verschiedene Szenen zeichnete und mir notierte, was ich sah und hörte. Er lauschte meinen Geschichten von Eduard und machte mir dann Vorschläge, wie ich meine Gedanken davon abhalten könnte, Unterhaltungen und gemeinsame heimliche Momente immer wieder aufs Neue durchzuspielen. Er war geduldig und nett, und seine kleinen Scherze hoben meine Laune, ohne mir das Gefühl zu geben, dass er mich nicht ernst nahm.
Es gibt niemanden außer meinem Bruder, mit dem ich so offen über alles sprechen kann. Arm in Arm erkunden wir Paris, und jeder Tag mit ihm erinnert mich an die unbeschwerten Jahre unserer Kindheit. Nie hätte ich gedacht, solche Augenblicke noch einmal zu erleben. Nicht jetzt, wo er ein erwachsener Mann ist. Ich mag seine dumme kleine Schwester sein, die so wenig vom Leben und den Männern versteht, aber niemand könnte ihn je so lieben wie ich.
Meine Anspannung hat ein kleines bisschen nachgelassen: dieser fieberhafte Strudel, in den es mich zieht, wann immer ich an die Demütigung meiner Entlassung aus der Lehranstellung denke. Die schmerzhaften Stiche durch Eduards Verrat jedoch bleiben – ich kann mir immer noch nicht vorstellen, je wieder einem Verehrer zu vertrauen.
Abstand, Zeit, mein Bruder, Paris, Bücher und Kunst – das scheint alles zu sein, was ich im Moment brauche.
Vielleicht bin ich lieber einen einzigen Sommer lang durch und durch glücklich, als dieses Glück in kleinen Dosen auf mein ganzes Leben verteilen zu müssen.
Nach Theo van Gogh habe ich Andries noch nicht gefragt.