Wir stehen vor der Galerie Durand-Ruel in einer kleinen Straße, die vom Boulevard Haussmann abzweigt. Ich dachte eigentlich, wir würden den Hügel hinaufspazieren, um zu zeichnen, doch stattdessen zeigt Andries auf einen Aushang neben der Galerietür.
»Ja, ein Plakat«, sage ich, woraufhin mein Bruder wieder darauf deutet.
»Sprich mit mir.« Ich gebe ihm einen neckenden Klaps auf den Arm. »Ich habe keine Ahnung, weshalb das interessant sein sollte.«
Er fährt mit dem Finger unter den großen Buchstaben der ersten Zeile entlang, als wolle er sie unterstreichen. »Die Société anonyme des artistes peintres, sculpteurs et graveurs«, sagt er.
»Lesen kann ich selbst«, gebe ich leicht gereizt zurück. »Aber wer soll das sein?«
»Eine Gruppe von Künstlern. Monet, Degas und Pissarro waren Gründungsmitglieder«, erklärt er. »Sie haben sich zusammengetan, um unabhängig ausstellen zu können.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen bedeute ich ihm fortzufahren.
»Damals war das richtiggehend radikal. Ende 1873 , glaube ich. Sie haben sich selbst organisiert, außerhalb des jährlichen Salons.«
»Und das ist gut?«
Andries nickt. »Sie wollten sich nicht auf eine Jury aus Künstlern von der Académie des Beaux-Arts verlassen, die Werke auswählte und Auszeichnungen vergab. Es ging ihnen weniger um Prestige, sondern vielmehr darum, ihre Kunst zu zeigen.«
Ich deute auf das Datum der Ausstellung, denn ich begreife immer noch nicht ganz, was mein Bruder mir eigentlich sagen will. »Aber das Plakat ist zwei Jahre alt.«
»Diese Künstler wollen das moderne Leben darstellen. Das echte Leben.« Er hält einen Moment inne. »Und ist das nicht auch das, was dich interessiert?«
»Ja und nein«, erwidere ich. »Es ist eher so, dass meine bescheidenen Fähigkeiten bestenfalls erlauben, das zu kopieren, was ich vor mir sehe.«
Er schüttelt den Kopf. »Du wirst es lernen.«
»Aber das Plakat ist zwei Jahre alt … heißt das nicht, dass mein Geschmack schon wieder veraltet ist?«
Noch einmal schüttelt er den Kopf und klatscht in die Hände. »Du könntest eine neue Gruppe gründen, mit aufstrebenden Künstlerinnen.«
Ich will etwas erwidern, doch er bedeutet mir zu schweigen. »Wenn du so weit bist«, sagt er. »Und wenn du das gelernt hast, was du eben lernen musst, dann kenne ich jemanden, der dir dabei helfen kann.«
Dieses Mal bin ich diejenige, die den Kopf schüttelt. Andries ist mein größter Fan und will einfach nicht einsehen, dass meine künstlerischen Fähigkeiten begrenzt sind – und das auch bleiben werden.
Ich lasse den Blick über die aufgelisteten Namen wandern. »Keine einzige Frau dabei«, stelle ich fest. Ich zähle durch. »Sechzehn Männer.«
»Marie Bracquemond, Mary Cassatt und Berthe Morisot fehlen auf der Liste«, erklärt Andries und strahlt mich an. Er freut sich unbändig, dass er mir etwas beibringen kann. Plötzlich erfüllt mich unendliche Dankbarkeit. Anscheinend hat er sich seit meiner Ankunft hier mit jemandem über weibliche Kunstschaffende unterhalten.
»Kennst du eine von ihnen?«, frage ich.
»Nein, aber ich kenne jemanden, der es tut«, antwortet Andries. »Und zwar den, der mir erzählt hat, Degas hätte es als idiotisch bezeichnet, dass keine der Frauen aufgelistet wurde. Angeblich hat er sich deswegen damals sogar beschwert.«
Andries’ Begeisterung ist ansteckend. Auf einmal bin ich ganz aufgeregt.
»Wer hat dir davon …«
»Ich bin sicher, wenn du interessiert bist, können wir ein Treffen mit Künstlerinnen für dich arrangieren. Was meinst du?«
Ich nicke heftig. Auf jeden Fall. Das fände ich großartig.
»Dann bitte ich ihn, das zu organisieren. Es wird genau das Richtige für dich sein, Jo«, meint er. »Aber jetzt lass uns hineingehen. Man hat mir empfohlen hierherzukommen, da drinnen gibt es ein Werk von Morisot.«
Noch im Sprechen dreht sich mein Bruder um und öffnet die Tür. Ein Glöckchen klingelt, und mit forschem Schritt betritt er die Galerie.