Porträt eines Mannes
mit Zylinder

»Das dort drüben ist der Kunsthändler Paul Durand-Ruel.« Andries bleibt stehen und deutet mit dem Kopf Richtung Ladentisch der Galerie. »Er hat Monet das Leben gerettet.«

»Wie bitte?« Mein Blick wandert zwischen Durand-Ruel und meinem Bruder hin und her.

»Hat ihn vor zwanzig Jahren davon abgehalten, in die Seine zu springen.« Andries starrt den Mann ein bisschen länger an, als es sich schickt.

»Kennst du ihn persönlich?«

»Leider nein«, seufzt er. Mein Bruder sammelt gewissermaßen besondere Menschen: Er glaubt, wenn er sich mit ihnen umgibt, färbt etwas von deren Glanz auch auf ihn ab. »Wir bewegen uns nicht in denselben Kreisen. Aber ich habe noch niemanden etwas Schlechtes über ihn sagen hören. Monet meint, ohne ihn wären die Impressionisten den Hungertod gestorben. Man sollte ihn auf jeden Fall auf seiner Seite haben.«

Ich betrachte Paul Durand-Ruel. Ein kleiner, bartloser Mann mit der Ausstrahlung eines altmodischen Geistlichen, wie man ihn vielleicht in einem Roman finden würde. Er unterhält sich mit einem Herrn mit Zylinder. Von hier aus klingt seine Stimme leise und etwas gedämpft. In diesem Moment hebt er den Kopf, bemerkt meinen Blick und tippt grüßend an seine Melone. Ich lächele. Irgendwie ist er mir sofort sympathisch.

»Er ist Witwer und hat fünf Kinder, geht jeden Tag in die Kirche und ist noch nie in einen Skandal verwickelt gewesen«, fügt Andries hinzu.

»Ein anständiger Mann also.« Ich starre immer noch den Kunsthändler an, doch er ist wieder mit seinem Kunden beschäftigt.

»Gerade erst aus New York zurückgekehrt, wo er in den American Art Galleries eine Ausstellung mit zweihundertneunundachtzig impressionistischen Gemälden auf die Beine gestellt hat. Es heißt, die Organisatoren wollen dasselbe in noch größerem Umfang in Manhattan wiederholen. Kannst du dir das vorstellen?«

»Nein«, erwidere ich. Das kann ich wirklich nicht, aber vielleicht werde ich es eines Tages verstehen.

Ich wende mich Andries zu, doch der sieht sich in der Galerie um. Etwas an der gegenüberliegenden Wand hat seine Aufmerksamkeit erregt, und er geht mit schnellen Schritten darauf zu. Als ich ihn einhole, steht er hinter zwei anderen Männern. Von hinten sind sie nicht zu unterscheiden, so ähnlich sehen sie sich mit ihren dunklen Gehröcken und Zylindern. Die beiden betrachten das Gemälde einer Mutter neben einer Wiege.

»Das ist der Morisot«, flüstert Andries. Er deutet mit dem Kopf auf das Gemälde, woraufhin ich einen Schritt zur Seite mache, um freien Blick darauf zu haben.

»Die Arbeit dieser Frau ist wirklich außergewöhnlich«, sagt einer der zylindertragenden Herren. Lächelnd trete ich etwas näher heran. »Zu schade, dass sie kein Mann ist«, setzt er hinzu.

»Hast du das gehört …«, wende ich mich empört an Andries.

»Pst!« Er legt mir rasch den Zeigefinger an die Lippen. Unwirsch schiebe ich ihn beiseite. »Das hier ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort für einen Streit«, flüstert er.

Wütend starre ich auf die Rücken der beiden Herren. Ich muss mich zusammenreißen, denn ich darf meinen Bruder nicht blamieren, wo er sich doch solche Mühe gibt, mich zu ermutigen und zu unterstützen. Ich weiß ja, dass er selbst nicht so denkt wie diese Männer.

»Sie malt wie Manet«, fährt derselbe Herr nun fort.

Da kann ich mich einfach nicht mehr zurückhalten. »Sie malt wie Morisot.« Meine Stimme ist ein wenig zu laut für die Galerie. Keiner von beiden dreht sich zu mir um, doch ich sehe, wie sie sich wortlos mit einem Seitenblick mokieren.

»Ich habe gehört, dass Manet und Morisot einander sehr respektieren«, sagt Andries im Versuch, die Situation zu entschärfen.

»Einige von uns betrachten beide als gleichwertig«, sage ich.

Das lässt die feinen Herren nun laut auflachen.

»Die weiß, was sie wert ist«, sagt derselbe Mann, immer noch mit dem Rücken zu mir, und bevor ich fragen kann, was das heißen soll, gehen die beiden weiter, um sich andere Gemälde anzusehen.

Mit geballten Fäusten blicke ich ihnen nach. Sie drehen sich nicht um.

»Du musst noch lernen, wann es sich lohnt, Streit anzufangen«, unterbricht Andries meine finsteren Gedanken. »Tief durchatmen. Bitte, Jo, beruhige dich.« Er wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum, als wolle er meinem erhitzten Temperament ein wenig kühle Luft zufächeln.

Ich wische seine Hand weg, doch erst in diesem Moment habe ich wirklich freien Blick auf das Gemälde. Es zieht mich sofort in seinen Bann. Ich bin sprachlos. Minuten vergehen, und ich merke, wie mein Bruder mich beobachtet. Ich weiß, dass er lächelt.

Mit einem Kopfnicken in Richtung des Bildes trete ich einen Schritt näher heran. »Was weißt du über sie?«

»Sie versucht, beides zu vereinen. Familie – Ehemann und ein Kind – mit ihrer Arbeit als Künstlerin.«

»Diese Tiefe an Gefühl in dem Bild«, flüstere ich. »Das ist wunderschön. Es überrascht mich, dass die Kritiker bei diesem Sujet überhaupt auf sie aufmerksam geworden sind.«

»Sind sie nicht«, erwidert Andries. Ich kann mich nicht von dem Gemälde lösen.

»Aber dieser sanfte Blick der Mutter und das engelsgleiche Gesicht des Kindes.« Ich muss unwillkürlich lächeln, während ich die Schönheit der Szene regelrecht aufsauge. »Das ist einfach perfekt.«

»Sie ist darauf beschränkt, häusliche Szenen zu malen«, meint Andries.

Ich nicke und hoffe, dass er aufhört zu reden.

»Du wirst das irgendwann selbst erleben, aber diesen Sommer ist dir noch etwas Freiheit vergönnt.«

Wieder nicke ich, übertrieben begeistert. Ich will und muss mich jetzt einfach nur auf dieses Bild konzentrieren.

»Die Locken sind richtig fein gearbeitet.« Ich beuge mich näher zur Leinwand. »So liebevoll. Aber sonst ist der Pinselduktus ein ganz anderer. Ich wünschte, ich würde mehr davon verstehen.« Inzwischen bin ich so dicht davor, dass meine Nasenspitze es fast berührt. Tief atme ich den Geruch von Ölfarbe auf Leinwand ein. Mein Lieblingsduft. »Möchtest du es nicht kaufen?«

»Das Motiv ist nichts für mich«, meint Andries.

»Ich fühle mich genau wie damals, als ich Lewes’ Goethes Leben und Schriften gelesen habe«, sage ich. »Ich möchte meiner Begeisterung irgendwie Ausdruck verleihen, aber in Gegenwart eines solchen Bildes fühle ich mich so unbedeutend.«

»Ich ziehe Kunstwerke vor, die Frauen in verschiedenen Stadien des Entkleidens zeigen.«

»Du willst eine Fantasie betrachten. Die Frau als hinreißende Kreatur, die dich in Versuchung führen und sich nach dir verzehren soll.« Eigentlich will ich dieses Gespräch gar nicht führen. Nicht jetzt. »Aber Morisot ist es irgendwie gelungen, die Struktur des Stoffes einzufangen.« Ich zeige auf den Besatz am Ärmel der Mutter. »Wie ist das möglich, Dries?«

Andries lacht. »Genau das, meine liebe Schwester, wirst du diesen Sommer lernen.«

Doch bei diesem Gemälde geht es um so viel mehr als nur Technik. Dieses Werk ist ein Triumph. Berthes Können ist außergewöhnlich, aber noch viel beachtlicher ist, dass sie der Pariser Kunstwelt wütend mit der Faust droht ob der Beschränkungen, die man ihr auferlegt. Ihr und allen weiblichen Künstlern. Ihre Botschaft ist klar: Sie kann mit sämtlichen männlichen Malern mithalten. Und sie wird weiterhin außergewöhnliche Kunstwerke erschaffen, egal welche Motive ihr zur Verfügung stehen, und trotz der Erwartungen und Einschränkungen, mit denen Männer sie gängeln wollen.

Mut, allen Widrigkeiten zum Trotz, das ist es, was ich lernen will in diesem Sommer.

Da kommt mir ein Gedanke. »Wer hat eigentlich vorgeschlagen, dass wir hierherkommen? Wer ist der Mann, mit dem du dich unterhalten hast?«

»Theo natürlich. Theo van Gogh.«

»Saras Verlobter?« Ich kann meine Neugier nicht verbergen. Andries antwortet nicht. »Und er wollte, dass ich dieses Gemälde sehe?«

»Er meinte, es würde dir bei der Suche nach einer Richtung für deine Kunst helfen.«

Wir schweigen.

»Morisot ist mit Manets Bruder Eugène verheiratet. Auch Maler. Aber ich habe Gerüchte gehört, dass er an einem Roman schreibt«, sagt Andries.

Ein plötzlicher Stich, oder vielleicht ist es auch Angst: Eduard. Gleichzeitig brodelt da jedoch noch etwas anderes in mir auf, das alle Gedanken an ihn verdrängt – Hoffnung, neue Möglichkeiten, Freude.

Ich wende mich Andries zu und schlinge ihm die Arme um die Taille. »Danke«, flüstere ich, den Kopf an seine Brust gedrückt.

Juli 1888

Ich bin schon sechs Tage hier und habe Dries nichts Neues mehr über diese katastrophale Beziehung in Utrecht zu erzählen. Über Eduard zu sprechen hat mich heute furchtbar wütend gemacht. Ich rege mich darüber auf, dass ich seine endlosen Lügen geglaubt habe. Je häufiger ich mich wiederhole, desto peinlicher ist es mir. Wie wenig originell von mir, meine Zuneigung einem Mann zu schenken, der drei lange Jahre nur damit gespielt hat.

Vielleicht hat mein Bruder das gespürt, oder vielleicht wollte er mich auch nur auf andere Gedanken bringen, denn heute hat er sich endlich breitschlagen lassen, mir Geschichten aus seiner Zeit hier in Paris zu erzählen.

Der Montmartre sei für ihn ein Fluchtort, um sich ablenken zu lassen, sagte er. Er gestand mir, dass er momentan mit seinen Freunden am liebsten ins Kabarett und in Café-Konzerte geht. Als er merkte, dass mich das nicht schockierte, sprach er über berühmte Schauspielerinnen in romantischer und anrüchiger Atmosphäre. Von heimlichen Begegnungen. Ich kicherte wie ein Schulmädchen über die Details wirrer Liaisons und unangemessener Beziehungen.

In seinen Beschreibungen war die Stadt randvoll von schillernden Künstlern, Komponisten, Schriftstellern, Malern, Dichtern, Musikern, Dramatikern und Bildhauern. Wenn es stimmt, was er sagt, dann scheinen in Paris sämtliche kreativen Künste zu Hause zu sein. Und möglicherweise feiert jede in ihrer Arbeit den Montmartre.

Laut Dries verfassen alle, die hier wohnen, entweder gerade einen epischen Roman, malen ihr Meisterwerk oder komponieren eine heldenhafte Symphonie. Jeder Einzelne lebt ein außergewöhnliches Leben. Er sagt, Montmartre sei eine Ecke von Paris, wo niemand als Versager gilt – er hat schlicht nur noch nicht sein größtes Werk erschaffen. Alle hier stehen im Bann kreativer Magie.

Ich kann nicht aufhören, daran zu denken. Ich will zu dieser Gruppe gehören. Ich muss hierbleiben.

Was erwartet mich denn in den Niederlanden? Mama, Pa und das ständige Gerede über die Schande, die ich über den ach so kostbaren Familiennamen gebracht habe.

Ich könnte einfach ganz hierherziehen. In Paris bleiben. Bedeutung erlangen. Auf ewig bei meinem Bruder leben. Glücklich sein!