Draußen auf dem Flur höre ich männliche Stimmen, doch mein Bruder versperrt mir die Sicht. Er wartet auf mich in der Tür. Andries lächelt, dann fährt er sich mit der Hand übers kurze Haar. Das tut er immer, wenn er nervös ist. Irgendetwas an all diesen Einladungen macht mir Sorgen. Seine plötzlichen Verkuppelungsversuche ergeben keinen Sinn. Er verschweigt mir etwas, aber danach fragen will ich ihn auch nicht.
»Jo«, sagt er. Ich verziehe hinter seinem Rücken das Gesicht. »Darf ich dir den fast schon berühmten Kunsthändler Theo van Gogh und seinen Bruder Vincent vorstellen.« Er verbeugt sich schwungvoll, soweit seine enge Hose das zulässt. »Messieurs, das ist meine Lieblingsschwester, Johanna Gezina Bonger.«
Andries hält inne und genießt sichtlich meinen überraschten Gesichtsausdruck. »Sie verbringt diesen Sommer bei mir.«
Ehe ich eine neutrale Miene aufsetzen oder meine Flucht in die Küche planen kann, um Clara bei einer Tasse Tee um Rat zu fragen, stehen die Gäste auch schon vor mir. Er ist es. Der Mann vom Moulin de la Galette, Saras Verlobter. Es ist Theo van Gogh.
An den roten Haaren kann man sofort erkennen, dass die beiden Brüder sind, obwohl sie unterschiedlicher nicht gekleidet sein könnten. Theo, der Kunsthändler, wirkt in seinem Gehrock mit Melone steif und elegant, während Vincent aussieht, als wäre er von einem lahmenden Pferd durch mehrere Hecken gezogen worden. Der graue Filzhut sitzt schief auf seinem Kopf, und seinen blauen Kittel ziert ein Regenbogen aus Farbflecken: gelb, blau, rot, grün. Er pafft an einer Pfeife und wirkt bereits jetzt gelangweilt.
Stumm starre ich die beiden Brüder an und grinse – vermutlich sehe ich aus wie eine Verrückte.
Während der vergangenen zwei Wochen habe ich viel über die Gebrüder van Gogh gehört. In Andries’ Kreisen sind sie ein beliebtes Klatschthema, und jeder, dem wir begegnen, hat eine Meinung oder weiß eine Geschichte über sie zu erzählen. Wann immer über die beiden gesprochen wird, höre ich aufmerksam zu. Theo scheint ein aufstrebender Stern in der Kunstwelt zu sein, obwohl er der Jüngere ist. Andries spricht von ihm, als sei er praktisch der König von Montmartre. Angeblich gilt er als begehrter Heiratskandidat, was aber keinen Sinn ergibt, da Sara ja sagte, sie seien verlobt. Seltsame Pariser Gepflogenheiten – das ist der einzige Schluss, den ich daraus ziehen kann. Vielleicht pflegen die Herren hier ganz offen die Gesellschaft mehrerer Begleiterinnen gleichzeitig?
Vincent wird vor allem als »mittelloser Künstler« bezeichnet. Ich habe gehört, wie Andries und seine Freunde sich darüber unterhalten haben, dass Vincent gerne Bordelle besucht und den monatlichen Unterhalt, den Theo ihm zahlt, für die Damen dort ausgibt. Vincent ist für die meisten eine Witzfigur. Bei solchen Bemerkungen wird mir elend zumute, denn ich frage mich, wie viele sich wohl in Utrecht und Amsterdam gerade über mich lustig machen.
Ich verlasse meinen Platz an der Staffelei, um sie zu begrüßen. Oh Gott! Die Leinwand. Das heutige Bild ist nichts, das ich jemals freiwillig einem Fremden zeigen würde, und erst recht nicht zwei Fremden aus der Pariser Kunstwelt.
»Ich hatte keine Gesellschaft erwartet«, entschuldige ich mich. »Bitte ignorieren Sie das da.« Ich deute auf die Staffelei. »Bitte sehen Sie nicht einmal hin. Tun Sie so, als wäre es gar nicht da.« Mit meinen hektischen Gesten sorge ich erst recht dafür, dass sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf mein misslungenes Werk richtet.
Stille, ungefähr hundert Jahre lang. Alle starren das Gemälde an. Ich kann mich nicht überwinden, Theos Gesicht anzusehen. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mitsamt diesem schrecklichen Bild auf der Stelle im Boden zu versinken.
»Ich bin zum Malen gekleidet«, erklärt Vincent. Unwillkürlich sehe ich ihn an. Er zeigt mit der Pfeife auf seinen Kittel. »Aber sie dort braucht eindeutig mehr Unterricht, als ich es je bieten könnte.« Nun deutet er auf meine Leinwand.
»Ich habe lediglich eine Technik ausprobiert. Wollte mich dazu zwingen …«
»Sie ist ziemlich klein und unterentwickelt«, unterbricht mich Vincent an Andries gewandt und starrt dabei auf meine Brüste.
Sprachlos reiße ich die Augen auf. Du aufgeblasenes Männlein . Ich verschränke die Arme vor der Brust, und mir ist sofort klar, weshalb er Frauen für intime Stunden bezahlen muss. Was ich natürlich nicht laut sage. Ich muss mich benehmen, wie es von mir erwartet wird, doch meine Hand ist bereits zur Faust geballt. Ich möchte Andries so gerne eine Freude machen, aber eine einzige Bemerkung von diesem van Gogh, und ich stoße bereits an meine Grenzen.
»Vincent.« Aus Theos Mund klingt der Name seines Bruders, als wären es glühende Kohlen.
»Aber gleichzeitig wild und ungestüm«, erwidert Andries. »Hüten Sie sich vor den Fäusten meiner Schwester.« Er betrachtet meine Hand.
»Und ziemlich alt, um noch keinen Gatten zu haben«, fährt Vincent unbeirrt fort.
Ich stehe direkt vor ihm, und er besitzt die Frechheit, mich von oben bis unten zu mustern wie ein Objekt, das er erwägt zu kaufen.
»Bereits fünfundzwanzig, ja«, bestätigt Andries. Ich funkele meinen Bruder böse an. Seine gezwirbelten Bartspitzen biegen sich weder nach unten noch nach oben, als er mich anlächelt. Vielleicht will er die Situation auflockern. Vielleicht muss ich nicken, um meinen Bruder zu beruhigen, tief ein- und …
»Ich habe die Leute Anzügliches über sie reden hören. Dass …«
»Gerade du«, wird er von Theo heftig unterbrochen, »solltest wissen, dass Tratsch stirbt, wenn er auf die Ohren eines weisen Mannes trifft.«
»Vielen Dank«, sage ich. Ich erlaube mir einen winzigen Seitenblick auf Theo. Sein Gesicht zeigt keinerlei Gefühlsregung: ein Mann wie eine leere Leinwand. Rasch sehe ich wieder Vincent an. Der mustert mich immer noch mit unverschämter, unwillkommener Neugier. Die Ärmel meiner Bluse fühlen sich auf einmal zu eng an, und der hochgeschlossene Kragen schnürt mir die Luft ab.
»Monsieur van Gogh, ich bin kein Gemälde, das zu Ihrer Erbauung erschaffen wurde. Also starren Sie mich auch nicht an wie eines.«
Andries lacht dröhnend. »Hab doch gesagt, sie ist unzähmbar«, sagt er, als er sich wieder beruhigt hat. Die letzten drei Tage über verhielt sich mein Bruder steif und reserviert während der Besuche dieser heiratswilligen Herren. Nun habe ich ihn zum ersten Mal in Anwesenheit Fremder wieder lachen hören. Er genießt die Gesellschaft der van-Gogh-Brüder, vor allem die von Theo, und ich liebe Andries’ Lachen, wenn es so herzlich ist, wenn er sich selbst vor Freude einen Augenblick lang vergisst.
»In der Tat«, sagt Vincent. Eine kurze Pause. Wie Narren warten wir mit angehaltenem Atem darauf, was er als Nächstes sagen wird. Stattdessen pafft er an seiner Pfeife und lässt uns zappeln, während sein Blick durch den Raum schweift. »Gibt es einen Künstler, den Sie schätzen, werte Johanna Bonger?«
»Mein Bruder hat mich kürzlich an Gauguins Werke herangeführt. Haben Sie von ihm gehört?«, frage ich.
Vincents Lachen hallt im Zimmer wider. »Ob ich von ihm gehört habe?«
»Er ist nicht so bekannt«, fahre ich vorsichtig fort, denn mir ist nicht klar, was ich so offensichtlich Erheiterndes gesagt habe. »Seine Kunst ist mutig und anders. Fast schon primitiv, mit kräftigen Farben und übertriebenen …«
»Sie wissen etwas über Kunst?«, unterbricht mich Vincent mit hochgezogenen Augenbrauen. Unsere Blicke begegnen sich. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser van Gogh nur etwas seltsam und überaus direkt ist, auf jeden Fall aber ist er unverschämt und nicht die Art Mensch, mit der ich Zeit verbringen möchte.
»Unterschätzen Sie niemals meine Schwester«, sagt Andries wieder. Er stellt sich neben mich und legt mir den Arm um die Schulter. »Sie ist eine echte Künstlerin.«
»Das bin ich nicht«, widerspreche ich errötend, denn die übermäßige Begeisterung meines Bruders ist mir peinlich.
»Sie ist eine Frau«, murmelt Vincent, doch bevor ich etwas erwidern kann, sagt Andries: »Also dann, lernen wir uns doch erst einmal kennen.«
Vincent tritt einen Schritt auf mich zu. Widerwillig strecke ich ihm die Hand hin, wie es die Etikette verlangt. Sein Schnurrbart müsste gestutzt werden, und sein Blick ist stechend unter den buschigen rotbraunen Brauen. Er beugt sich über meine ausgestreckte Hand, doch statt sie zu schütteln, drückt er einen zarten Kuss darauf. Vermutlich erwartet er, dass ich nach Luft schnappe oder zu seinen Füßen in Ohnmacht sinke, doch ich verziehe nur das Gesicht und blicke Andries’ Hilfe suchend an. Mein liebster Bruder weicht mir jedoch aus, indem er sich in seinen blau gepolsterten Sessel sinken lässt und die Quasten am Besatz glatt streicht. Mama hatte darauf bestanden, dass er unbedingt aufwendig mit teurem Stoff bezogene Sitzmöbel brauche. Wie bei allem anderen gelang es Andries, »aufwendig bezogen« noch zu steigern.
Als Vincent beiseitetritt, ergreift Theo meine inzwischen feuchte Hand und drückt sie fest.
»Es ist mir eine Freude, Sie endlich kennenzulernen«, sagt er. »Ich versuche seit zwei Wochen, mit Bonger ein Treffen auszumachen.«
»Wirklich?« Ich sehe zuerst Andries und dann wieder Theo an. »Wird Sara auch noch zu uns stoßen?« Ich versuche, selbstbewusst zu wirken und von meiner verschwitzten Hand abzulenken. Theo wendet den Blick ab. Es sieht aus, als stiege ihm Röte in die Wangen. Habe ich ihn in Verlegenheit gebracht?
Andries hüstelt, ein Hinweis für mich, die Initiative zu ergreifen.
»Meine Herren, wo sind nur meine Manieren geblieben?« Ich lächele unsere beiden Gäste an. »Ich bin sicher, mein entzückender Bruder wird für uns einen Nachmittagstee arrangieren. Schließlich sind wir seine Gäste.«
Andries lacht, doch er springt von seinem Sessel auf und eilt aus dem Zimmer, um Clara zu suchen.