Gerade mal neun Uhr morgens, und es ist bereits sehr warm. Die Vorhänge sind zurückgezogen, die Fensterläden aufgeklappt und das Erkerfenster einen Spalt geöffnet. Unterhaltungen auf Französisch plätschern herein, während die Menschen über die Pflastersteine der Rue Victor spazieren. Glockenhelles Lachen, jemand singt in einem der oberen Stockwerke, Rufe nach einer maman – dieses Gefühl, in einer großen Stadt nie allein zu sein, verursacht ein freudiges Kribbeln in meinem Bauch.
Ich sitze seitlich auf der confidante , die Stiefel aufs Polster gelegt. Der schwere Stoff meines Stufenrocks bauscht sich um meine Oberschenkel, während ich mich in halb liegender Position an einer lockeren Skizze meiner Beine versuche. Mama hat mein Gepäck aus Utrecht immer noch nicht geschickt, aber Andries hat mich begeistert nach Pariser Mode komplett neu eingekleidet: flachere Turnüren (die meiner Silhouette eine S-Form verleihen), Überröcke, die nach oben schwingen (manchmal so hoch, dass der Unterrock sichtbar wird und ich darüber schmunzeln muss, weil Mama sicher entsetzt wäre), enge Leibchen (mit schmalen Ärmeln und hohem Kragen). Meine Garderobe ist voller leuchtender Blautöne und Grün und Rot, mit Besätzen und aufwendigen Perlenverzierungen als Kontrast. Heute ziert ein ornamentales Chrysanthemenmuster meine Röcke. Mit jedem Tag, den ich hier bin, fühle ich mich ein bisschen mehr als Pariserin und sehe auch so aus. Manchmal habe ich das Gefühl, als ströme mir die Freude aus jeder Pore. Ich rieche förmlich nach Glück.
»Dir ist schon klar, dass ich nicht deine Magd bin«, erklärt Andries beim Betreten des Salons. Ich blicke auf und sehe, dass er lächelt. Er ist nicht sauer auf mich.
Ich lege mein Skizzenbuch und den Bleistift beiseite, schiebe meinen Rock nach unten und versuche, mich elegant aus meiner Schräglage aufzurappeln. Was mir nicht gelingt. Anmut war noch nie meine Stärke. Mein Bruder wedelt mit zwei Umschlägen vor den wilden Locken herum, die sich aus meiner Frisur gelöst haben, und reicht mir dann die Post.
»Ich hab dir doch gesagt, er wird sich wieder melden.«
»Theo?« Leider gelingt es mir nicht, gleichgültig zu klingen.
Mein Bruder nickt grinsend. »Nur drei Tage Schmollen. Ich glaube fast, seine übertriebene Zuneigung könnte tatsächlich echt sein.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich ihn an, kann aber ein Lächeln auch nicht unterdrücken.
»Theo ist es nicht gewöhnt, abgewiesen zu werden«, meint Andries. »Er ist der begehrteste Mann, den ich kenne. Die Frauen stehen förmlich vor seinem Appartement Schlange, um einen Blick auf ihn zu erhaschen.«
Lachend schlage ich mit den Briefumschlägen nach ihm.
Andries hat am Tag nach unserer Begegnung mit Theo gesprochen. Ihm erklärt, dass ich mich erst von Eduards Grausamkeit erholen müsse und dass »geduldige Unterstützung« die beste Vorgehensweise sei. So konnte mein Bruder im Lauf der vergangenen drei Tage meine Sorge wegen des unerwarteten Heiratsantrags zerstreuen. Außerdem hat er großen Spaß daran, mich mit Theo aufziehen.
»Ich konnte doch zu einer solchen Liebeserklärung nicht Ja sagen«, beharre ich. »Nicht nach einem einzigen Treffen.« Nicht, wenn ich noch Gefühle für Eduard habe . Dieser Satz bleibt allerdings unausgesprochen.
Andries zuckt mit den Schultern. »Vielleicht«, sagt er. »Du schaust dir die nächste Woche über noch ein paar Pariser Sehenswürdigkeiten an, und dann können wir den Vorschlag neu bewerten.«
»Aber …«
»Da ist auch noch ein Brief von Vincent.«
Er beugt sich über die Lehne der confidante . Ich betrachte die gelben Umschläge und sehe auf beiden meinen Namen mit Andries’ Adresse darunter. Ein Umschlag ist groß und makellos, der andere mit Zeichenkohle-Fingerabdrücken und gelben Farbspritzern übersät.
»Ich habe den Fehler gemacht, Mama gegenüber die van-Gogh-Brüder zu erwähnen. In der heutigen Korrespondenz habe ich einen ordentlichen Vortrag über Vincents ungezügeltes Verhalten bekommen«, berichte ich. »Offenbar ist sein Ruf bis Amsterdam vorgedrungen …« Aufmerksam beobachte ich Andries’ Reaktion. Ich hege keinen Zweifel daran, dass er Mama gewisse Geschichten erzählt hat, und es interessiert mich, was genau er ihr berichtet hat.
»Und das hat dein Interesse an ihm geweckt?«, neckt er mich.
»Absolut nicht.« Ich fächele mir mit der Post Luft zu.
Ich habe keinerlei Interesse an dieser unangenehmen Person, und man sollte meinen, die Gebrüder van Gogh seien mein kleinstes Problem. Mamas Brief ist allerdings besorgniserregend. Sie hat meine Rückkehr nach Hause für Ende August angeordnet. Sie schreibt, eine »aufregende Überraschung« warte auf mich, und allein schon der Gedanke daran lastet schwer auf meinen Schultern. Mamas Vorstellung von etwas Aufregendem wäre zum Beispiel, dass ich ausgewählt wurde, nach dem Gottesdienst die Gesangbücher einzusammeln. Wenn ich dann noch für die Klingelbeutel verantwortlich wäre, würde Mama vermutlich vor Freude explodieren. Es ist traurig, aber ich glaube, ich habe sie im Zusammenhang mit mir noch nie glücklich gesehen. Trotzdem versuche ich, mich an der winzigen Hoffnung festzuhalten, die Überraschung könnte eine »Grand Tour«, eine Studienreise, sein, womöglich sogar noch mit einem großzügigen Stipendium, doch das ist höchst unwahrscheinlich. Mama glaubt, das »fremde Wasser«, das ich während meiner Studienzeit in England getrunken habe, sei für meine »unangemessene Liaison« mit Eduard verantwortlich. An meinem zweiten Tag hier schrieb sie mir sogar, es sei mir »verboten«, während meines Aufenthalts Wasser irgendwelcher Art zu trinken. Ohne es darauf anzulegen, habe ich offenbar all das perfektioniert, was Mama an modernen Frauen hasst. Manchmal wünsche ich mir immer noch, sie würde mich mögen.
Ich lege Theos Brief neben mich aufs Sofa, reiße zuerst den farbverschmierten Umschlag auf und lese laut vor.
Liebste Johanna,
ich sehne mich danach, Sie wiederzusehen. Wie ich höre, haben Sie den Heiratsantrag meines Bruders abgewiesen. Üblicherweise wenden alle früheren Angebeteten meines Bruders ihre Aufmerksamkeit danach mir zu, und ich freue mich darauf, Sie besser kennenzulernen.
Anbei eine kleine Skizze von Ihnen, an der ich mich versucht habe. Noch beherrsche ich Gauguins Malen aus dem Gedächtnis noch nicht ganz, und ich kann nur darauf vertrauen, dass die Ähnlichkeit Sie nicht brüskiert.
Ich werde heute vielleicht noch bei Ihnen vorbeischauen.
Tout à toi
Vincent
»Wovon redet er?«, frage ich verwirrt.
Schulterzuckend wendet mein Bruder den Blick ab. Er ist ein miserabler Lügner.
»Dries …«
Er seufzt. »Als die Beziehung mit Sara ins Stocken kam, wollte Theo ein schnelles und klares Ende dieser Verbindung«, erklärt er. »Doch er machte sich Sorgen wegen Saras Geisteszustands und wie sie auf seine Zurückweisung reagieren würde.«
Ich runzele die Stirn. Mir gefällt ganz und gar nicht, wie sich diese Unterhaltung entwickelt, aber ich nicke meinem Bruder auffordernd zu.
»Vincent hat eingewilligt, sie zu übernehmen.«
»Er hat was?«
»Der Plan war, dass Vincent sie von Theo ablenkt. So machen die beiden das. Viele Frauen finden Theo attraktiv, und wenn er beschließt, dass sie nichts für ihn sind, ist Vincent zur Stelle. Das hat schon viele Male funktioniert, dauert üblicherweise etwa einen Monat …«
»Das ist barbarisch«, sage ich fassungslos.
»Dieses Mal hat es auch funktioniert, aber Theos Antrag …«
Ich schüttele den Kopf – die van-Gogh-Brüder sorgen für nichts als Chaos –, während ich das Blatt Papier mit Vincents Skizze auffalte.
»Oh, Dries, sieh nur.«
Es ist eine Tuschezeichnung, ein ganzes Blatt gefüllt mit Tausenden von Strichen in unterschiedlicher Länge und Dicke, die zusammen mein Porträt ergeben. Schraffuren zeigen die Form meines Gesichts, und zarte Linien erschaffen Schatten unter und zwischen meine Augen. Es ist das erste Werk von Vincent van Gogh, das ich sehe, und es überrumpelt mich völlig. Es ist gleichzeitig schön und schmeichelhaft. Kein Ton von Vincent seit jenem Besuch, bei dem er nur unverschämte, kritische und abwertende Bemerkungen gemacht hat, und nun das hier. Warum hat er mich so genau studiert? Hat meine Zurückweisung Theos mich plötzlich für ihn begehrenswert gemacht?
»Er hat viel Talent«, sage ich. Sein Können fasziniert und verwirrt mich gleichermaßen.
Andries beugt sich über meine Schulter. »Sieh dir die zusätzlichen Linien hier an.« Er drückt den Finger auf die Zeichnung, sodass ich sie sicherheitshalber aus seiner Reichweite entferne. »Deine knubbelige Nase hat ihm Schwierigkeiten bereitet.«
Automatisch fasse ich mir an die Nasenspitze, und mein Bruder lacht.
»Es ist wunderbar.« Ich falte das Bild und den Brief zusammen, schiebe beides zurück in den Umschlag und diesen in mein Skizzenbuch. Ich werde mir beides später noch einmal in Ruhe ansehen, zusammen mit Clara, wenn Andries keine dummen Bemerkungen machen kann. Vielleicht weiß sie Rat und hat eine Erklärung für das plötzliche Interesse dieses Mannes an mir.
»Meinst du, es besteht Hoffnung für Vincents Kunst?«, will ich von meinem Bruder wissen. »Ich würde zu gerne seine Gemälde sehen.«
»Er bekommt durchaus Anerkennung. Theo glaubt fest an ihn und arbeitet hart daran, dass Vincents Werke in die Hände der richtigen Leute kommen.«
Ich lache. »Aber Vincent hat doch mit seinem Können sicherlich auch Anteil daran?«
»Er hat einige schöne Sachen gemacht. Seine Blumenbilder sind nicht ohne. Ich bin immer ehrlich zu ihm«, meint Andries. Sein Mund verzieht sich unterm Schnauzbart zu einem Lächeln.
Ich versetze ihm mit meinem Skizzenbuch einen Klaps auf den Arm. »Du kritisierst Vincent, obwohl du selbst nicht mal ein Strichmännchen malen kannst.«
»Konstruktive Kritik«, sagt mein Bruder lachend und reibt sich übertrieben den Arm. »Ist das nicht die Art, wie wir alle lernen? Willst du selbst nicht auch auf diese Weise lernen?«
Das stimmt, doch Andries kritisiert nie meine Kunst. Ich wünschte, er würde es tun. Wenn er kritischer wäre, würde ich mich vielleicht mehr wie eine angehende Künstlerin fühlen als wie ein kleines Mädchen, zu dem sein Bruder nett sein will.
»Mama würde nie erlauben, dass du diese Skizze behältst.« Andries deutet mit dem Kopf auf mein Skizzenbuch. »Eine skandalöse Verbindung, würde sie schimpfen.«
»In ihrem Brief schreibt sie, dass jegliche Verbindung mit Vincent van Gogh neuerlich Schande und unerwünschte Aufmerksamkeit auf unsere Familie lenken würde «, ahme ich Mamas Stimme nach. »Sie meint, ich hätte ihr bereits genug Kummer für ein ganzes Leben bereitet .« Ich halte inne und betrachte Andries. Er weicht meinem Blick aus. »Ich vermute, du hast ihr erzählt, dass ich Theo abgewiesen habe?«
Mein Bruder nickt. »Sie meint, dass du zuerst heiraten sollst und dann schauen, ob es dir passt.«
»Dass du mein Liebesleben mit Mama besprichst, finde ich ungeheuerlich. Sag mir endlich, was hier wirklich los ist!«
Er zuckt mit den Schultern. »Mama hat Angst, dass dich keiner mehr haben will.«
Ich warte, doch Andries fügt dieser Aussage nichts hinzu, was ihm gar nicht ähnlich sieht. Dabei gibt es noch so viel zu sagen. Immerhin nimmt er neben mir auf der confidante Platz.
»Mama hat …«, setzt er an, mit tieferer Stimme als sonst. »Also, du darfst dich jetzt nicht aufregen«, fährt er fort, was mich natürlich sofort in Panik ausbrechen lässt.