Das Le Chat Noir wirkt ein bisschen wie ein seltsames Wohnzimmer. Der Besitzer, Rodolphe – laut Andries ein »gescheiterter Künstler« – hat die Wände mit den schönsten Werken seiner Freunde dekoriert. Es ist jedoch unmöglich, sich die Arbeiten genauer anzusehen, denn das Lokal ist zum Bersten gefüllt. So verliebe ich mich stattdessen ein bisschen in die ausgestellten Tonkatzen, die den riesigen Kamin neben uns bevölkern. Die schwarze Katze auf dem Zinkschild draußen war nicht zu übersehen, genauso wenig wie die Tatsache, dass sich in jedem der Buntglasfenster hier eine Katze findet. Es sind diese unerwarteten Details, die mich begeistern: ein großer, tönerner Katzenkopf mitten im Kronleuchter, ein Wandbehang direkt neben mir, der die Geschichte einer schwarzen Katze erzählt, und ich habe bereits mindestens sieben echte Katzen, teils recht angriffslustig, teils schlafend, im Raum verteilt entdeckt.
»Ich verstehe nicht ganz, weshalb wir es so eilig hatten herzukommen«, sage ich. »Ist er nun tot oder nicht?«
»Ist er nicht«, erwidert Andries und winkt oder nickt den vielen Leuten zu, die er kennt. Er lacht. »Der Mann ist ein Genie. Das war nur ein Scherz, um möglichst viel Kundschaft zusammenzutrommeln.«
Er spricht von der Trauerprozession, die heute Nachmittag durch Montmartre gezogen ist. Ich hatte meinem Bruder erklärt, dass ich frische Luft brauche, und ihm von meinem kurzen Gespräch mit Clara vormittags im Innenhof berichtet. Andries schlug einen Spaziergang vor, während die Vorhänge im Salon wieder aufgehängt wurden.
Als wir den Boulevard de Clichy erreichten, stießen wir auf das Ende des Leichenzuges, und als mein Bruder hörte, wer da »gestorben« war, saß er mehr als fünf Minuten in Trauer versunken auf den Pflastersteinen. Es war Andries’ Anwalt Guy – der Mann, dem die Vorstellung gefallen hatte, ich könne ihn mit einer Million Kinder beglücken –, der aus dem Zug ausscherte und meinem Bruder das mit dem »vorgetäuschten Tod« verriet. Der hier so innig Betrauerte, ein gewisser Rodolphe Salis, hatte die Prozession selbst organisiert. Guy erzählte Andries, Rodolphe sei quicklebendig, und der Zweck dieses »Tricks« sei gewesen, neue Besucher in sein Kabaretttheater Le Chat Noir zu locken. Es hätte mich interessiert, wieso es gut fürs Geschäft sein sollte, den eigenen Tod vorzutäuschen, doch ich hielt mich zurück.
Nun kann ich mit eigenen Augen sehen, dass der Mann tatsächlich ein Genie ist. Denn nach dem Trauerzug konnte es Andries kaum erwarten, Rodolphes Etablissement zu besuchen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass der Mann keineswegs verstorben war. Deshalb sind wir heute Abend hier, und ganz offensichtlich hatten noch viele andere dasselbe Bedürfnis. Es ist uns gelungen, den letzten runden Holztisch mit zwei Stühlen zu ergattern, und inmitten eines Nebels aus Tabakqualm und lärmendem Gelächter kann Andries uns zwei Krüge bayerisches Bier bestellen.
»Was für entsetzliche, vulgäre Personen, diese Frauen, die Bier trinken«, erklärt er grinsend und stößt mit mir an.
»Santé . Auf die Schönheit des Pariser Lebens und auf die hässlichen Frauen, denen dieses herrliche boisson hygiénique schmeckt.« Unsere Krüge treffen sich.
»Das da ist übrigens ein van Gogh.« Andries zeigt über meine Schulter hinweg auf die gegenüberliegende Wand. Ich drehe mich um, kann aber nicht wirklich sehen, wo Vincents Bild hängen könnte.
»Der Conférencier sollte demnächst den ersten Akt ankündigen«, sagt Andries. Er stellt sein Bier auf den Tisch, schaut auf seine goldene Uhr und lässt dann den Blick durch den Raum schweifen. »Sieh nur! Da ist er«, ruft er und springt auf. »Kein bisschen tot.« Mein Bruder lacht aus vollem Hals, was die Aufmerksamkeit des Mannes weckt, der gerade vorbeigeht. Er ist groß, hat kurzes rötliches Haar, einen spitzen roten Backenbart und strahlt übers ganze Gesicht, als er Andries entdeckt.
»Bonger!«, ruft er.
Mein Bruder umarmt ihn, und als er endlich fertig ist, seinem Freund auf den Rücken zu klopfen und sich zu versichern, dass er nicht demnächst tot umfallen wird, wenden sich die beiden mir zu. »Salis, das ist meine Schwester, Johanna.«
Beim Aufstehen stoße ich mit dem Knie an den Holztisch. Es gelingt mir gerade noch, Andries’ Bierkrug aufzufangen, ehe er umkippt. »Sie haben meinem Bruder einen ordentlichen Schrecken eingejagt«, sage ich.
Ich strecke ihm die Hand hin – und zwar die, die immer noch den Krug hält, klebrig vom Bier, doch Rodolphe beugt sich zu mir herunter, um mich zu umarmen. »Je suis désolé .« Er küsst mich auf beide Wangen. »Dann sind Sie also die junge Dame, in die sich Theo van Gogh verliebt hat.« Rodolphe begleitet seine Feststellung mit dramatischem Augenbrauenwackeln. Ich kann nicht anders, als zu lachen.
»Wir sind uns erst zweimal begegnet. Das ist lächerlich«, sage ich.
»Jo«, schilt mich Andries. Ich mag es, dass er auf seinen König von Montmartre nichts kommen lässt. Außerdem möchte ich weiter über Theo sprechen, denn ich habe beschlossen, Meinungen zu sammeln. Es würde mich sehr interessieren, ob Rodolphe denkt, der Mann würde bei der nächsten schlechten Entscheidung im Irrenhaus landen.
»Komm schon, Bruderherz.« Ich schwenke den Bierkrug durch die Luft, wobei einige Tropfen in die Richtung der beiden Männer spritzen. »Selbst du musst zugeben, dass ein Heiratsantrag nach nur einer Begegnung ziemlich nach Verzweiflung riecht. Er glaubt , mich zu lieben.«
Rodolphe lacht, und Andries zuckt mit den Schultern. »Sie ist zum ersten Mal in Paris«, erklärt er seinem Freund. »Sie ist immer noch sehr holländisch.«
»Dann werde ich Theo sagen, dass er behutsam mit ihr sein muss«, sagt Rodolphe mit einem Zwinkern.
Wieder muss ich lachen. Er legt Andries die Hand auf die Schulter und flüstert ihm etwas zu. Ich sehe meinen Bruder schmunzeln, ehe er sich von mir wegdreht, um Rodolphe etwas ins Ohr zu flüstern. Was auch immer die beiden da tuscheln, es scheint sie zu amüsieren. Nach weiterem gegenseitigen Rückenklopfen wendet sich der Zeremonienmeister ab, um einen anderen Gast zu begrüßen.
Wir setzen uns wieder, und ich reiche Andries seinen Krug. »Was für eine seltsame Atmosphäre«, stelle ich fest.
»Santé .« Wieder stoßen wir an. Andries grinst immer noch vor sich hin.
Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. »Was genau soll das hier sein, ein Varietétheater oder ein ironischer Kunstsalon?«
»Beides. Salis’ Idee ist es, Maler, Komponisten und Dichter gleichermaßen anzusprechen«, antwortet Andries. »Alle kommen hierher. Da drüben ist Toulouse-Lautrec, dort Signac, Debussy …« In rascher Folge zeigt er auf die verschiedenen Gäste, sodass ich kaum hinterherkomme.
»Toulouse-Lautrec?« Mein Blick irrt suchend herum. »Den hat Theo erwähnt.«
»Dort drüben. Soll ich dich vorstellen?« Ich schüttele den Kopf. »Das da ist von ihm, glaube ich.« Andries zeigt auf die Wand zu meiner Rechten. Dort kann ich einige Leinwände erahnen, aber durch den Rauch und das gedämpfte Licht nicht wirklich etwas erkennen.
Ich trinke einen Schluck Bier.
»Salis hat gerade erzählt, Sara Voort hätte Theo verkündet, sie sei bereit und willig, einen Heiratsantrag anzunehmen«, berichtet Andries. »Als sei der, den du abgelehnt hast, nun irgendwie zu haben.« Er lacht.
»Und was hat Theo getan?«
»Hat ihr erklärt, es gebe nur eine Frau, die er je heiraten würde.« Er zwinkert mir zu, und ich lächele. »Theo ist verliebt«, meint Andries. Er beugt sich zu mir und senkt die Stimme. »Außerdem ist Sara verrückt.«
Ich schüttele den Kopf. Immer sind die Frauen schuld. Niemand spricht über die Verantwortung des Mannes, wenn eine zuvor in sich gefestigte Frau nach und nach »den Verstand verliert«.
»Sie erzählt jedem, der es hören will, dass du den armen Theo mit einem Fluch belegt hast.« Er drückt meine Hand. Hoffentlich macht er Witze. »Wenn du dir Sorgen wegen Sara machst, Guy Loti steht auf meiner Liste immer noch ganz oben.« Er sieht sich wieder um und winkt jemandem.
»Ist er hier?«
Andries nickt. »Nicht unbedingt der unterhaltsamste Mann, aber er ist reich und möchte gerne eine Familie gründen. Seine erste Frau ist letztes Jahr im Kindbett gestorben. Du könntest für ihn richtig erfrischend sein.«
Ich schüttele den Kopf. »Er braucht zehn Kinder«, sage ich und trinke den Rest meines Bieres.
»Wir könnten eine Vereinbarung treffen, dass du weiterhin deine Kunststudien betreiben darfst, zumindest bis das erste Kind gesund auf der Welt ist.«
Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie Guy mich beobachtet. Seine Miene ist starr, im Gegensatz zu meiner, die im Moment bestimmt zittert. Er ist ein sehr großer, rundlicher Mann, mit weichem Mondgesicht. Sein Bart, der sein Gesicht einrahmt, ist grau und buschig. Ich würde ihn als stattlich bezeichnen, andere vielleicht sogar als gut aussehend. Doch da ist etwas in seinem Blick, das mich beunruhigt. Eine leise Stimme in mir drängt mich, vor ihm wegzulaufen. Der Plan meines Bruders, eine Zweckehe mit Guy einzugehen, ist überaus fehlerhaft . Mein Körper protestiert bereits lautstark, wenn ich mich nur im selben Raum befinde wie er.
»Die Zeit drängt, und wenn ich das richtig sehe, bleibt dir nicht mehr die große Auswahl: Loti« – er deutet mit dem Kopf in Richtung des Anwalts, der mich garantiert immer noch anstarrt – »oder Theo«, verkündet Andries. Er blickt zur Decke hinauf, als bete er um himmlisches Eingreifen. »Mama würde deine Verbindung mit Theo gutheißen.«
Ich nicke. »Genau darüber wollte ich mit dir auf unserem Spaziergang vorhin reden, aber …« Andries beugt sich näher zu mir herüber und bedeutet mir weiterzusprechen. »Ich würde Theo gern besser kennenlernen, sein Angebot annehmen, Zeit mit ihm zu verbringen und Freunde zu werden«, sage ich, woraufhin mein Bruder begeistert in die Hände klatscht.
»Das sind wunderbare Neuigkeiten.«
Gerne würde ich in seine Begeisterung einstimmen, doch mein Blick bleibt auf meinen leeren Bierkrug gerichtet.
»Es gibt ein Aber?«, will er wissen. Ich hasse und liebe es gleichermaßen, dass er mich so gut kennt.
»Was, wenn ich mich für ihn entscheide und seine Zuneigung zu mir vergeht?« Andries seufzt. »Stell dir vor, er reicht mich an Vincent weiter, um mich abzulenken. Dann wäre ich im Handumdrehen zurück in Amsterdam, verheiratet mit diesem stinkenden, fetten …«
»Ich bezweifle, dass das passiert, doch es gibt immer noch eine sicherere Option.« Er deutet Richtung Guy.
Ich schüttele den Kopf. Auf gar keinen Fall könnte ich meinen Körper und meinen Geist überreden, mein Leben mit diesem wohlhabenden, aber gruseligen Anwalt zu verbringen.
»Frauen deines Alters, vor allem jene, die sich weigern zu heiraten, werden immer mit Misstrauen betrachtet.« Andries bestätigt seine eigenen Worte mit eifrigem Nicken.
»Männer nicht?« Ich gebe ihm einen Klaps auf den Arm.
»Loti sagte, wenn ihr heiratet, wird er dafür sorgen, dass du alle …« Seine Miene ist plötzlich ernst. Gespannt warte ich auf den Rest seines Satzes. »Dass du alle Kleider bekommst, die du haben willst.«
Du meine Güte! »Ich habe bereits alle Kleider, die ich brauche, vielen Dank.«
Sein lautes Lachen überrascht mich. Unwillkürlich muss auch ich kichern, während er mir den Arm um die Schultern legt.
»Du solltest dein Gesicht sehen!«, sagt er. »Bist du so weit?« Er deutet auf die Bühne, wo sich der Conférencier gerade darauf vorzubereiten scheint, den ersten Akt anzukündigen. »Das théatre d’hombres wird in wenigen Minuten beginnen.« Er hält unsere leeren Bierkrüge in die Höhe und schwenkt sie herum, um die Aufmerksamkeit des Kellners zu erhaschen. »Es wird Lieder und andere Überraschungen geben. Es wird dir gefallen, Jo, das verspreche ich.«
»Gefällt Frauen der Gedanke wirklich, dass ein Mann ihnen ein Kleid kauft?« Darüber kann ich nur den Kopf schütteln.
»On peut avoir la même chose, s’il vous pla ît ?«, ruft Andries in die Menge.
Juli 1888
Gemessen daran, wie lange wir gestern Abend im Le Chat Noir waren und wie viele Krüge Bier wir getrunken haben, sollte heute eigentlich ein fauler Tag sein. Ich war auf der confidante eingenickt, als plötzlich Dries hereingestürmt kam und mich weckte. Vincent hatte geschrieben und für den nächsten Tag einen herrlichen Ausflug mit den van Goghs vorgeschlagen. Offensichtlich will er seinen Bruder unterstützen und möchte, dass wir uns alle vertragen! Das Schönste daran ist, dass ich auf dem Weg dorthin ganz allein durch Montmartre spazieren darf. Zehn bis zwanzig Minuten allein, in Paris, bevor ich um elf Uhr Theo und Vincent vor dem Moulin de la Galette treffe.
Dann werden mich die beiden Brüder zu mehreren Künstlern in deren Ateliers begleiten. Vincent hat versprochen, dass in einem davon zwei aufstrebende Künstlerinnen arbeiten. Mit ihnen wollen wir zu Mittag essen. Dries hat sich sehr für mich gefreut. Er meinte sogar, das könnte das erste Treffen der neuen Gesellschaft für Künstlerinnen sein, die ich seiner Ansicht nach gründen soll. Er war sehr verärgert, dass er Termine hat, die er nicht verschieben kann, und sorgte sich ein wenig, weil ich das kurze Stück durch Montmartre allein unterwegs sein würde. Doch ich habe ihn überzeugt, dass ich das gut schaffe, und er vertraut den Brüdern van Gogh (Theo vermutlich mehr als Vincent).
Dries sagte auch, dass ich bis morgen eine Liste mit künstlerischen Techniken erstellen soll, die mich interessieren, und dass Vincent versprochen hat, mir alle zu demonstrieren. Dazu, dass ich den Tag mit Theo verbringen würde, hat er nichts gesagt, und ich habe mich um eine neutrale Miene bemüht, aber das wird der Beginn unserer Freundschaft sein.
Ich habe bereits drei Listen mit Techniken erstellt und meinen Weg zum Moulin de la Galette geplant.
Jetzt bin ich leider viel zu aufgeregt, um zu schlafen.