Die Rue Victor mag ein ruhiges Sträßchen sein, doch vom Boulevard de Clichy kann man das nicht sagen. Als ich gerade die Straße überqueren will, höre ich eine Peitsche knallen und einen Schrei: »Hé, la-bas! «
Erschrocken springe ich zurück. »Pardon, pardon «, rufe ich. Lächelnd winke ich dem Kutscher zu, als der fiacre vorbeidonnert. Mit hastigen Blicken nach links und rechts eile ich schließlich über den Boulevard und biege in die Rue Lepic ein.
Nach wenigen Schritten bleibe ich stehen. Prompt rempelt mich jemand von hinten an. Ohne mich umzudrehen, höre ich ein Murmeln und ein Grunzen, doch ich bin gebannt vom Anblick vor mir, ganz verzaubert vom Treiben in der Rue Lepic bei Tag. Ich wünschte, ich hätte mein Skizzenbuch dabei, und dass es in Ordnung wäre, mich genau hier aufs Pflaster zu setzen und Notizen und kleine Zeichnungen von dem zu machen, was ich sehe.
Ein steter Strom an Markthändlern schiebt kleine hölzerne Handwagen über die holprigen Pflastersteine. Die Luft ist erfüllt von ihren Rufen zu den Waren, die sie feilbieten.
»Voilà des beaux poissons! «
»Demandez des haricots! «
»Voilà des bon merlans. «
Dabei versuchen sie, sich gegenseitig zu übertönen. Begleitet von Handglocken und Pfeifen bellen sie ihre Rufe – und konkurrieren miteinander um die für sie so überlebenswichtigen Kunden. Ein kleiner Mann spaziert neben mir her, bleibt stehen und nickt mir auffordernd zu. Auf seinem Rücken trägt er eine große Blechbüchse geschnallt, die ihm bis über den Kopf reicht. An der Seite hängen an Haken Tassen. Ich schüttele den Kopf. Ich will nichts kaufen. Er läutet seine Glocke und geht weiter.
Ein gut gekleideter Herr – Nadelstreifen-Hose, Gehrock, glänzende Stiefel – versucht, mich genau in diesem Moment zu überholen. »Excusez-moi «, sage ich. »Was genau verkauft er da?« Ich deute auf die seltsame Vorrichtung auf dem Rücken des kleinen Mannes und ignoriere dabei die Tatsache, dass es sich absolut nicht gehört, mit unbekannten Herren zu sprechen.
Der Mann bleibt stehen, offensichtlich erschrocken, dass ich ihn angesprochen habe. Er blickt in die Richtung, in die ich zeige. Dann nimmt er seine gebürstete Melone ab, trocknet sich die Stirn mit einem Taschentuch und hebt die Hand. »Warten Sie’s ab«, sagt er.
»A la fraîche! «, singt der Mann mit der großen Blechbüchse. Seine Stimme ist heiser vom stundenlangen Rufen.
»Gezuckertes Wasser«, erklärt der Herr. »Es ist recht schmackhaft, aber es gibt zu viele Verkäufer in Paris.« Nachdem er den Hut wieder aufgesetzt und grüßend an die Krempe getippt hat, setzt der Herr seinen Weg die Rue Lepic entlang fort.
Auch ich gehe weiter – meine Wangen schmerzen bereits vom vielen Lächeln –, denn ich will pünktlich zu meinem Treffen mit den van Goghs kommen, als ein anderer Verkäufer vorbeieilt. Er trägt zwei schwarze Taschen über den Schultern. Ich bleibe stehen und sehe zu, wie er plötzlich mitten auf der Straße stehen bleibt und seine Taschen fallen lässt. Ein Mantel, einige Hüte, verschiedene Haushaltsgegenstände fallen heraus. Ich bin entsetzt. Kutschen halten in Paris niemals an. Sie sind die Herrscher des Pflasters. Jeden Moment kann ein fiacre angedonnert kommen und den Verkäufer mitsamt seinen Waren so platt machen wie einen Crêpe.
»Weg da!«, rufe ich, und dann »Bougez-vous !« Ich blicke hektisch nach links und rechts und lausche auf das entfernte Knallen einer Peitsche, doch niemand sonst scheint sich Sorgen zu machen. Zwei Mägde beugen sich nun über die Taschen, eine greift nach einer großen kupfernen Backform, die andere inspiziert einen silbernen Kerzenhalter. Die ganze Zeit über reden sie, und in weniger als einer Minute wechseln etliche Francs den Besitzer.
Die Taschen wieder über die Schultern geworfen, hüpft der Mann weiter und singt bei jedem Sprung »Marchand d’habit. Marchand d’habit. « Ich schüttele den Kopf. Meine Panik war unbegründet, und ich muss wieder lächeln.
Rings um mich herum spazieren Pariser. Sie alle haben ein Ziel, wollen jemanden treffen. Sie sind immun gegenüber dem Charme der Verkäufer. Ich nicht. Je länger ich hierbleibe, umso größer wird mein Verlangen, alles zu kaufen, was sie anbieten: sogar den Weißfisch.
Kirchenglocken läuten. Es ist elf Uhr. Ich bin zu spät. Schnell raffe ich meine Röcke und eile im Laufschritt weiter. Mama wäre entsetzt. Sie würde mich sofort festnehmen und nach Amsterdam zurückbringen lassen. Doch sie ist nicht hier, sieht mich nicht rennen.
Noch nie habe ich mich so frei gefühlt. Noch nie so lebendig.
Ich erreiche das Moulin de la Galette ein paar Minuten zu spät und völlig außer Atem. Erschöpft beuge ich mich vornüber, die Hände auf die Knie gestützt, und versuche, Luft zu bekommen. Es dauert ein paar Minuten, bis ich mich erholt und begriffen habe, dass weder Vincent noch Theo bereits da sind. Ich weiß nicht genau, was ich tun soll. Vielleicht habe ich sie verpasst. Aber sie hätten doch sicher ein paar Minuten gewartet, oder?
So stehe ich unterm Torbogen des Eingangs, die hölzerne Mühle und entfernte Unterhaltungen auf der Terrasse hinter mir. Ich blicke nach links und rechts im Versuch, die Brüder durch den Strom an Pariser Bürgern, fiacres und Verkäufern mit ihren Karren zu entdecken, doch es ist kein van Gogh in Sicht.
»Johanna Bonger«, höre ich auf einmal jemanden sagen und drehe mich zur Windmühle um. Da kommt Vincent mit Pfeife in der Hand auf mich zuspaziert. »Wie schön, dass Sie gekommen sind«, sagt er. Er trägt denselben grauen Filzhut und denselben blauen Malerkittel. Der Regenbogen aus Farbspuren wirkt bunter und die Flecken, Spritzer und Streifen zahlreicher. Ich spähe an ihm vorbei, doch Theo ist nicht da.
»Ist Ihr Bruder …«
»Arbeit, die weitaus wichtiger ist als Sie oder ich, beschäftigt ihn«, erklärt Vincent. »Lassen Sie uns spazieren, bis er uns mit seiner Anwesenheit beehrt.«
Dass Theo mehr an die Arbeit als an mich denkt, versetzt mir einen kleinen Stich, obwohl es das nicht sollte. Natürlich bin ich enttäuscht, dass er nicht hier ist, doch es ist mehr als das. Da ist diese nagende Angst, er könnte mich bereits abgelegt und an seinen Bruder weitergereicht haben. Dass ich mit Vincent allein bin, war nicht ausgemacht.
Was soll ich tun? Mit den Füßen aufstampfen und mich weigern, Vincent zu begleiten? Verlangen, dass er sofort seinen Bruder holen geht?
Vincent räuspert sich. Vielleicht um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Es gibt immer noch Künstler zu sehen«, sagt er.
Ich nicke. Das gibt es, und Maltechniken zu lernen – dieser Teil bleibt unverändert. Es ist offensichtlich, dass Vincent zum Malen gekleidet gekommen und deshalb bereit ist, mich zu unterrichten. Er hat heute mir den Vorzug vor seiner Kunst gegeben. Ich darf die Gelegenheit nicht verpassen, andere Künstler zu treffen und von ihnen zu lernen. Da würde Andries mir zustimmen. Vielleicht ist es ja sogar eine glückliche Fügung, dass ich diese Möglichkeit bekomme, freundschaftliche Bande mit Theos Bruder und bestem Freund zu knüpfen.
»Dann gehen Sie mal voraus«, sage ich.