Selbstbildnis

Zwei Tage sind seit dem katastrophalen Spaziergang vergangen, ohne dass ich von Vincent Antwort auf meinen Brief bekommen hätte. Den Großteil der Zeit habe ich mit der Sorge verbracht, Andries könnte meine Lüge aufdecken. Inzwischen war ich sogar davon überzeugt, umgehend nach Amsterdam zurückgeschickt zu werden. Doch gerade eben kam sein Brief, und ich laufe erleichtert in den Salon.

Mein Bruder wirkt an seinem Schiefertisch, umgeben von den herrschaftlichen Möbeln, sehr majestätisch. Ich muss lächeln. Papiere liegen vor ihm ausgebreitet, und er studiert angestrengt ein Dokument.

»Vincent hat darum gebeten …«

»Sag Nein«, unterbricht mich Andries, ehe ich Vincents Einladung erläutern kann: eine Gelegenheit, Maltechniken vorzuführen, und das Versprechen, dass Theo definitiv anwesend sein wird.

»Was ist los?«, will ich wissen.

Nun durchbohrt mich Andries mit seinem Blick, hält das Blatt Papier in die Höhe, das er gerade gelesen hat, und wedelt damit in der Luft herum.

»Theo hat geschrieben. Hast du wirklich geglaubt, ich finde es nicht heraus?«

Rasch senke ich den Kopf.

»Er ist besorgt, weil du Zeit allein mit Vincent verbringen willst.« Andries’ Stimme klingt verdächtig ruhig. »Daraus schließt er, dass du an seinem Bruder interessiert bist.«

»Das bin ich wirklich nicht.« Es ist fast ein Flüstern. Ich kann den Blick nicht von den Fliesen heben.

»Und doch planst du ein Treffen mit ihm, um Zeit mit ihm allein zu verbringen?«

Energisch schüttele ich den Kopf und sehe Andries nun wieder an. »Das glaubst du doch nicht wirklich? Ich hatte keine Ahnung davon.«

Mein Bruder runzelt die Stirn, und ich warte.

»Ich glaube dir«, sagt er schließlich, und seine Miene wird wieder freundlicher. Er lächelt sogar. »Aber du musst doch erkennen, wie das nach außen wirkt, Jo.«

Ich nicke. Natürlich tue ich das.

»Wenn alles, was vorgefallen ist, ganz unschuldig war, weshalb hast du mir nicht gleich davon erzählt?« Eine berechtigte Frage. »Anstatt mir ins Gesicht zu lügen.« Er deutet auf seine Nase. »Dabei war deine Täuschung noch nicht einmal überzeugend. Auf dem Champ de Mars mit Rodin konntest du dich nicht an die beiden Künstlerinnen erinnern.« Er seufzt. »Wenn ich Theo nicht geschrieben hätte, um ihn zu fragen …«

»Hättest du mir denn geglaubt, wenn ich dir erzählt hätte, dass Vincent uns beide hinters Licht geführt hat? Dass es weder Künstlerinnen noch Atelierbesuche gab? Und was ist mit seinem Vorschlag, mit ihm in Theos Appartement zu gehen?«

»Hast du das getan?« Jetzt hebt er zum ersten Mal die Stimme.

»Natürlich nicht. Für was für eine Frau hältst du mich denn?«

Andries antwortet nicht. Du denkst tatsächlich, ich bin so eine. Wir starren einander an, ohne zu blinzeln, doch ich sehe als Erste weg.

»Trägt denn die Frau immer die Schuld?«

Mein Bruder zuckt mit den Schultern. »Vincent hat Theo gesagt, du hättest eine Beziehung mit ihm.«

»Wie bitte?«, rufe ich. »Warum erzählt er solche Lügen?«

Andries zieht die Augenbrauen hoch, als sei meine Frage lächerlich, aber ich will wirklich eine Antwort. Ich muss verstehen, was hier vor sich geht.

»Dann lies seinen Brief an mich«, verlange ich, trete an seinen Schreibtisch und reiche ihm den Umschlag. Aufmerksam sehe ich zu, wie er Vincents Worte überfliegt. Der Brief beginnt mit einer Entschuldigung für sein Verhalten und dafür, dass er sich nicht an die vereinbarten Treffen und Atelierbesuche gehalten hat. Dazu eine winzige Skizze, wie wir beide den Montmartre umrunden.

Als Andries fertig ist, schüttelt er den Kopf, faltet das Blatt zusammen und schiebt es zurück in den Umschlag. Seine Bewegungen sind langsam. Offensichtlich denkt er darüber nach, wie er reagieren soll.

»Es ist ein Ausrutscher. Ich werde Theo das wissen lassen«, sagt er schließlich. »Vermutlich ist er nicht einmal überrascht, aber es wird am besten sein, wenn du dich von Vincent fernhältst.«

»Ist es denn nicht gut, ihn zu kennen?«, will ich wissen. Schließlich hat Andries selbst gesagt, dass Vincent Anerkennung erfährt, dass Theo Vincents Bilder in die Hände der richtigen Leute gibt. Doch es ist noch mehr als das. Die van-Gogh-Brüder gehören zusammen. Bedeutet es nicht, den anderen zu verlieren, wenn ich mich von einem fernhalte?

»Ich bin sicher, Theo hat bessere Kontakte. Aber …«

Ich warte darauf, dass er fortfährt.

»Angeblich wurde auf diesem Spaziergang Händchen gehalten.«

»Es wurde was ?«, frage ich empört, aber ich sehe die Belustigung in den Augen meines Bruders.

»Vincents Hand hat ein paarmal meine gestreift. Wie das eben passiert, wenn Menschen mit schnellem Schritt nebeneinanderher gehen.«

»Loti hat euch zusammen gesehen.« Er greift nun nach einem anderen Blatt Papier und wedelt damit durch die Luft – zweifellos ein Brief von seinem schrecklichen Anwalt. »Er ist wohl kein Heiratskandidat mehr.«

»Du weißt schon, dass das alles andere als fair ist, oder?« Doch meinen Worten fehlt die Überzeugungskraft. Stört es mich, dass Loti mich nicht länger als passende Ehefrau betrachtet? Nein, nicht wirklich. Ganz im Gegenteil, ich bin heilfroh. Unwillkürlich muss ich lächeln. Andries beobachtet mich genau.

»Als Theo nicht aufgetaucht ist, hättest du hierher zurückkehren müssen«, sagt er, und ich weiß, dass er recht hat.

»Ich hätte dir zumindest hinterher gleich alles erzählen sollen. Es tut mir leid.«

Andries kommt auf mich zu und umarmt mich.

»Ich wollte so gern die Künstlerinnen treffen«, murmele ich, woraufhin mir mein Bruder einen Kuss auf die Haare drückt.

»Ich bin für dich verantwortlich, und es fällt mir schwer, all die Gerüchte über deinen Ruf zu zerstreuen. Ich habe die Kontrolle über sie verloren.«

Verblüfft löse ich mich aus seiner Umarmung. »Welche Gerüchte?«

»Sara Voort hat in meinen Kreisen von deiner Beziehung zu Stumpff erzählt. Nun behauptet sie, du und Vincent …«

»Aber hatte sie nicht selbst etwas mit Vincent?« Nun bin ich ziemlich verärgert.

»Nur Theos engste Vertraute wussten von diesem Plan.«

Ich seufze. »Warum lässt sie mich nicht in Ruhe? Ich kann nicht fassen, dass mir diese Frau mal leidgetan hat.«

»Sie erzählt allen, du seist Vincents neustes Spielzeug. Verstehst du die Tragweite dieser Behauptung?«

Ich schüttele den Kopf. Nein, das tue ich nicht.

»Wenn sich das als richtig herausstellen würde …« Andries seufzt schwer. »Dann würdest du von Mama und Pa zurückgewiesen und aus der gehobenen Gesellschaft verstoßen werden.«

Er nimmt meine Hand und küsst sie sanft. »Ich will dich weder kontrollieren noch dir Angst einjagen. Ich sehe nur irgendwie kein gutes Ende für dich, wenn du weiterhin ernsthaft an Vincent interessiert bist.«

Entsetzt blicke ich zu ihm auf. »Ich bin nicht ernsthaft an ihm interessiert.« Kopfschüttelnd entziehe ich ihm meine Hand. »Ich dachte, ich wäre bei Vincent sicher. Theo betet seinen Bruder an, und ich hatte gehofft, wenn wir Zeit miteinander verbringen, gewinne ich Vincents Respekt. Dass er mich als ebenbürtig betrachten würde oder es Theo sogar etwas bedeutet, wenn Vincent mich schätzt. Aber ich verstehe nicht, wie Vincent denkt. Ich verstehe nicht, was er tut und wie er reagiert.« Ich suche nach Worten. »Es scheint ihm nicht wichtig zu sein, dass Theo glücklich ist. Für mich empfindet er keinerlei Respekt. Er ist wild, ungezügelt, und das macht mir Angst. Ich habe noch nie einen Mann wie ihn getroffen.«

Ich verschweige, dass die Herausforderung durch Vincent etwas Neues in mir weckt. Dass es sich anfühlt, als würden die Brüder bereits mehr von mir erwarten – oder sogar fordern –, als bloß eine hübsche Ehefrau und Mutter zu sein.

»In letzter Zeit ist Vincent für seinen Bruder zunehmend zur Last geworden«, sagt Andries mit zustimmendem Nicken. »Er wirft Theo extreme Dinge vor, und Theo versucht, ihn zu beruhigen. Aber das war nicht immer so. Es braucht Zeit, die Beziehung der beiden zu verstehen.«

»Warum kann ich nicht sein wie du?«, seufze ich.

Mein Bruder sieht mich fragend an, gleichermaßen interessiert und besorgt. »Wie ich?«

»Du hast den Luxus der Zeit. Du erinnerst mich ständig daran, dass Freiheit für Frauen eine Illusion ist und ich irgendwann alle kreativen Ziele aufgeben und mich wieder den Erwartungen der Gesellschaft unterwerfen muss. Die Zeit vergeht zu schnell. Die Unausweichlichkeit …« Ich breche ab. Stattdessen richte ich meinen Blick nun auf einen roten Faden, der sich aus dem Empire-Aubusson-Teppich gelöst hat. Instinktiv will ich mich bücken und ihn verstecken, damit mein Bruder ihn nicht entdeckt. Am liebsten würde ich unter den Teppich kriechen. Aber ich stehe reglos da.

»Sag mir, was du meinst«, fordert Andries mich auf.

»Sieh dir Camille an.«

»Claudel?«, fragt er, und ich nicke.

»Es heißt, sie hätte unglaubliches Talent. Eine ernst zu nehmende Bildhauerin. Und doch reden die Leute von ihr immer nur als Rodins Geliebte.«

»Schwierige Frauen treffen problematische Entscheidungen. Sie hat ihre Wahl getroffen, und nun wird sie rasch alt und hässlich.«

Ich schüttele den Kopf. »Sie hat sich verliebt«, widerspreche ich. »Das schmälert ihr Können als Bildhauerin doch nicht.«

»Sie hat sich in einen Mann verliebt, der nicht zu haben ist«, entgegnet Andries. »Das wusste sie, als die beiden ihr arrangement begonnen haben.« Er begreift einfach nicht, was ich sagen will. Er hört mich nicht.

»Vincent ist so frei wie du. Theo auch. Jeder Mann in Paris ist frei. Du kannst dir Zeit lassen, dich jeder Umarmung hinzugeben, für jeden Wochentag eine andere Geliebte haben, Herzen brechen, emotionale Wracks zurücklassen, und doch wirst du immer über deine Berufswahl bewertet werden.«

»Aber siehst du denn nicht, dass Vincents Freiheit einen hohen Preis hat?« Der Tonfall meines Bruders ist sanft. »Selbst Kunst muss sich in den Grenzen des Humanitären abspielen, wenn der Künstler in dieser Gesellschaft agieren will.«

»Und das tut Vincent nicht?« Ich sehe Andries fragend an.

»Er wird noch nicht über seine Kunst definiert. Er hat seinen Ruf verdient«, antwortet er und rümpft dabei angewidert die Nase. Zu gerne wüsste ich, was diese Reaktion hervorruft. Ich merke ihm an, dass er ungern weiter über dieses Thema reden will.

»Ich werde Theo schreiben und ihm berichten, was zwischen Vincent und dir vorgefallen ist«, sagt Andries schließlich.

Frustriert verschränke ich die Hände hinterm Rücken. Auch Ärger und Angst mischen sich hinein. »Ich bin durchaus in der Lage, ihm selbst zu schreiben.«

»Das hier muss in Ordnung gebracht werden, oder du endest beim ekligen Dr. Janssen.«

»Dann werde ich es in Ordnung bringen.« Ich breite die Arme aus, um meine Worte zu unterstreichen. »Niemand wird mich zwingen, dieses fette Schwein zu heiraten.« Andries geht zu seinem Schreibtisch zurück – offenbar langweilt ihn unsere Unterhaltung inzwischen –, dann dreht er sich wieder zu mir um.

»Jo, ganz ehrlich, ich liebe dich sehr, aber manchmal bist du ein Albtraum.«

»Bruderherz, du bist zu gütig.«

»Du kannst es dir nicht leisten, so …« Er nimmt die Briefe und schwenkt sie durch die Luft. »So theatralisch zu sein.« Er seufzt. »Vertrau mir. Ich bin doch auf deiner Seite.«

»Und du bist manchmal ein aufgeblasener Wichtigtuer«, entgegne ich frech, wohl wissend, dass mein Bruder nur das Beste für mich will. Kopfschüttelnd lässt Andries sich auf seinen Thron fallen.

»Denk mal einen Moment lang über die einzige Alternative nach«, warnt er. »Ich versuche, dir zu helfen. Dein von Mama ausgesuchter Zukünftiger ist ziemlich abscheulich.« Statt etwas zu sagen, zucke ich nur mit den Schultern. »Ist dir bewusst, was du opferst, wenn du Dr. Janssen heiratest?«

»Ich will dein Leben!« Am liebsten würde ich mit dem Fuß aufstampfen.

»Das ist keine Option, und du hörst mir nicht richtig zu. Wenn Theo sein Interesse zurückzieht, müssen wir auf meine Liste an potenziellen Ehemännern zurückgreifen. Uns läuft die Zeit davon. Siehst du denn nicht, dass ich versuche, jemanden für dich zu finden, der dir erlaubt, deinen eigenen Weg zu gehen?«

»Erlaubt?«, schreie ich. »Warum sollte ich die Erlaubnis brauchen, die ein Mann nie nötig hätte?«

»Du musst dich jetzt vor allem mal beruhigen«, sagt er. »Du benimmst dich wie ein hysterisches Weib.«

»Und du klingst wie Pa«, schimpfe ich. »Ich lass mich nicht kontrollieren, weder von dir noch von …«

»Werde endlich erwachsen, Jo!« Andries ist auf einmal wütend. »Benimm dich deinem Alter entsprechend, oder ich sorge dafür, dass du schnellstmöglich nach Amsterdam zurückkehrst.«

Ich kann mein Blut in den Ohren rauschen hören. Tränen brennen in meinen Augen. Andries ist nie wütend auf mich. Mir wird klar, wie ernst die Lage ist, und ich bekomme Bauchschmerzen davon.

»Wo ist Clara?«, will ich wissen, so laut, dass sie es hören sollte.

»Besorgungen machen«, antwortet er, und ich wende mich zum Gehen.

»Wo willst du hin?«

»Die Sache in Ordnung bringen.« Ich weiß nicht, ob er mich hören kann, als ich durch den Flur zur Wohnungstür eile. »Ich nehme mal an, das ist erlaubt, oder würdest du mich lieber als Gefangene halten, an deinen Schreibtisch gekettet?«