Ich sitze neben ihm im Café du Tambourin am Boulevard de Clichy, und er benimmt sich wie ein bockiges, trotzendes Kind. Ich habe alles versucht, um ihn zu locken – Essen, Alkohol, sein Bruder –, er weigert sich immer noch, mit mir mitzukommen.
»Ich habe fast eine Stunde gebraucht, um Sie zu finden«, sage ich. »Ich bin ohne Anstandsdame unterwegs und riskiere damit meinen guten Ruf … Dries wird fuchsteufelswild sein.«
Ich hatte mir meinen Plan auf dem Weg zwischen dem Appartement meines Bruders und dem Ende der Rue Victor zurechtgelegt: Ich würde Vincent finden, und er würde einwilligen, seine Tricksereien unseren Brüdern gegenüber zuzugeben. Dann war ich die Strecke unseres schrecklichen Spaziergangs abgelaufen in der Überzeugung, er würde irgendwo en plein air malen. Tat er nicht. Stattdessen fand ich ihn umgeben von Tabakrauch und lärmenden Unterhaltungen im Le Tambourin.
»Ich sollte wirklich nicht hier sein«, dränge ich und sehe mich hektisch um, denn ich fürchte, einen von Andries’ vielen Bekannten zu entdecken. »Wenn Mama das mitbekommt …«
Vincent hört mir gar nicht zu. Sein Blick ist auf eine andere Person gerichtet, deren Bewegungen durch den Raum er verfolgt.
»Sie müssen mit mir mitkommen.« Ich weiß nicht, wie oft ich das schon gesagt habe. »Dann schicken wir Clara Theo holen, und dann müssen Sie allen die Wahrheit über unsere Beziehung und unseren Spaziergang in Montmartre erzählen.«
Vincent nickt, aber es ist klar, dass er nicht zuhört. Er ist mit seinen Gedanken ganz woanders.
»Wer ist sie?«, will ich wissen. Ich muss brüllen, um über den Lärm des Klaviers und den Gesang sentimentaler Lieder, die nach Vergeltung rufen, gehört zu werden. Jemand am Tresen feuert den Pianisten an, andere singen Arm in Arm mit.
»Ihr gehört die Bar«, antwortet er. Er beugt sich auf seinem Stuhl vor, den Blick immer noch auf sie gerichtet. »Bietet Künstlern einen Ort, um auszustellen.«
In dieser Bar bin ich Holländerin. Ich bin blass und schäbig, sie ist exotisch und interessant. Unter einem roten Tuch kringeln sich lose Locken hervor, die ihr schmales Gesicht umrahmen. Ihr Kleid ist leuchtend bunt, ein Patchwork-Muster ohne schwere Turnüre, eine Silhouette, die ihre schlanke Figur betont. Sie ist zwar deutlich älter als ich, aber eine strahlende Erscheinung und irgendwie gleichermaßen attraktiv und schön: markante Nase, volle Lippen und olivfarbene Haut. Doch es sind ihre bemerkenswerten Augen, die mich fesseln. Sie ist so selbstbewusst wie ein erfolgreicher Mann. Beim Gehen hält sie den Kopf hocherhoben, ohne einen Hauch von Zweifel, wer sie ist.
»Agostina Segatori.« Ich sehe mich im Café um und stelle fest, dass alle Agostina beobachten. Es wird gesungen, gelacht, geredet, aber alle Blicke folgen der Gastgeberin. »Ich mag sie sehr«, sagt er.
»Ist sie Französin?«
»Italienerin.«
Sie zündet sich eine Zigarette an, und jemand reicht ihr ein Glas Bier, als sie stehen bleibt und sich mit dem Rücken an den Tresen lehnt.
Ich beuge mich vor und spreche nahe an seinem Ohr, damit er mich hören kann. »Ich will eine Zigarette«, sage ich. Auch ich sehe dabei unverwandt Agostina an.
Er lacht. Zupft sich am linken Ohrläppchen. »Du rauchst nicht«, sagt er, ohne mich dabei anzusehen.
»Ich will ein Glas Bier.« Ich will sein wie sie . Vincent schnippt mit den Fingern, und ich sehe, wie sie ihn bemerkt.
Ein kurzes Zucken des Wiedererkennens in ihrem Mundwinkel. Agostina kommt zu uns herüber. Ihre Hüften schwingen unter Vincents Blick. Sie bewegt sich zur Musik des Cafés und kommt dabei nicht ein Mal aus dem Takt. Ohne zu blinzeln, sieht sie ihn an. Mit jedem Schritt scheinen sich ihre dunklen Augen in seine Seele zu bohren. Zwischen Vincent und dieser Frau fließt Energie, so intensiv, dass die Luft um sie beide zu knistern scheint. Ich sinke tiefer in meinen Stuhl. Ich bin unsichtbar. Noch nie habe ich mich so zur falschen Zeit am falschen Ort gefühlt. Ich bin eine farbenblinde Künstlerin, eine Schriftstellerin, die noch nie ein Buch gelesen hat, eine Schauspielerin, die ihren Text nicht lernen kann. Ich gehöre nicht in diese Welt, und trotzdem würde ich in diesem Moment meinen linken Arm dafür geben, sie zu sein. Ich will Agostina Segatori sein.
»Una birra e una sigaretta per la signora «, sagt Vincent. Er deutet mit den Händen ein Bier und eine Zigarette an. Agostina mustert mich kurz, wobei ihre Miene unbewegt bleibt, dann kehrt ihr Blick zu Vincent zurück. Sie schnalzt mit der Zunge und wirft den Kopf in den Nacken. Vincent lacht. Es ist ein tiefes Lachen, während Agostina zu ihrem Tresen zurückstolziert.
»Sie hat Nein gesagt«, erklärt Vincent. »Sie hält dich für eine anständige Lady.«
Sie lachen über mich. »Ich habe genug von Ihren Spielchen«, sage ich und stehe auf, um zu gehen, doch er packt auf einmal meine Hand. Ich schüttele ihn ab und hole tief Luft.
»Kommen Sie mit mir zu Andries’ Appartement«, bitte ich noch einmal.
Vincent zieht die Augenbrauen hoch. »Hat so nicht auch unser letztes Missverständnis begonnen?« Er lacht wieder.
Dieser Mann hält sich für witzig. »Sagen Sie unseren beiden Brüdern, dass zwischen uns nichts passiert ist. Sagen Sie Theo, dass ich während unseres ganzen Ausflugs darauf gewartet habe, dass er kommt.«
»Viele wollen mich zähmen, mich von meiner Verschrobenheit befreien. Ich fürchte, viele sehen Leidenschaft als Schwäche.« Vincent drückt Tabak in den Kopf seiner Pfeife. Dann zündet er ein Streichholz an, lässt es einige Sekunden brennen, ehe er es mit einer kreisförmigen Bewegung über seinen Tabak führt.
»Ich interessiere mich für Theo, und Sie sind ihm wichtig. Deshalb bin ich hier, deshalb versuche ich, Sie zu mögen.« Ich starre ihn an, doch er weigert sich, meinen Blick zu erwidern. Ich weiß nicht einmal, ob er hört, was ich sage.
Plötzlich eine Veränderung, als würde er etwas oder jemanden bemerken, den ich nicht sehen kann. Vincents Blick ist wild und springt von Person zu Person. Der Lärm der klirrenden Gläser, das Zischen von Streichhölzern, Gesang, Gelächter – jedes Geräusch scheint ihn mit einem Mal zu schmerzen.
»Du willst mich nicht kennen.« Seine Stimme ist fast ein Flüstern, doch ich lese die Worte von seinen Lippen ab. Er pafft an seiner Pfeife.
»Ihr Wissen über Maltechniken und die Kunstwelt fasziniert mich. Ich würde so gerne mehr erfahren über …«
»Ich liebe vollkommen, ich widme mich vollkommen den Dingen – oder gar nicht. Ich fürchte, anderen geht es mit mir genauso. Entweder sie schätzen mich sehr – oder verabscheuen mich mit Genuss. Es scheint keinen festen Boden zu geben«, sagt er. Ich habe keine Ahnung, was er meint – wir sprechen zwar dieselbe Sprache, aber ich verstehe kein Wort.
Als ich die Hand ausstrecke, um seinen Arm zu berühren, zuckt er zusammen, wobei sein Knie gegen die Tischplatte stößt. Schnell halte ich sie fest, bevor alles auf den Boden rutscht. »Können wir mit diesem Unsinn aufhören und uns anständig unterhalten?«, herrsche ich ihn an, ehe ich selbst merke, wie barsch ich klinge. »Nur dieses eine Mal?«, bitte ich, nun freundlicher. »Reden Sie mit mir über Ihren Bruder?« Vincent antwortet nicht. Vielleicht hat er mich nicht gehört. Vielleicht will er mich nicht hören. Er zündet ein weiteres Streichholz an und hält es wieder über seine Pfeife.
»Der Ausdruck von Bäumen ist ziemlich bemerkenswert«, sagt Vincent.
»Wie bitte?«
Seine Augen sind auf ein Gemälde an der Wand gerichtet, während er an seiner Pfeife pafft. Ich folge seinem Blick zu einem sous-bois .
»Bewundern Sie dieses Bild?«, frage ich vorsichtig. Vielleicht finden wir ja in der Kunst ein gemeinsames Thema. »Der Schritt weg von traditioneller Landschaftsmalerei und stattdessen vom Wald umgeben zu sein … der gemalt wird … das muss aufregend sein für einen Künstler«, stammele ich. Ich weiß nicht, wie ich Vincent in ein Gespräch verwickeln soll, denn ich habe noch nie mit jemandem wie ihm gesprochen.
»Wenn es mir nicht gelingt, etwas zu erschaffen, zerstöre ich womöglich mich selbst. Durch die Kunst, durch das Malen halte ich meinen Absturz in die Dunkelheit auf. Kunst und Romane begeistern mich«, murmelt er. »Aber ich bin ein schlechter Finanzier.«
»Soll ich um die Rechnung bitten?« Ich hebe die Hand und schnalze mit den Fingern, doch Agostina dreht sich nicht zu mir um. Frauen rufen keine anderen Frauen herbei, nicht einmal im Le Tambourin. Auch Vincent reagiert nicht. »Wovon leben Sie?«, frage ich. »Also was Geld angeht.«
»Theo lebt für uns beide.«
Ich zwinge mich, tief durchzuatmen. Er macht mich wahnsinnig. Diese Unterhaltung ist unendlich mühsam. »Das ergibt wenig Sinn.«
»Und doch verstehst du jedes Wort.« Er hält sich die Pfeife dicht vor die Augen und betrachtet den Kopf.
»Aber was ist mit Ihrer Zukunftsperspektive?«
»Ach, die verbotene Zukunft. Auf die haben es alle abgesehen. Der zukünftige Vincent. Was wird er wohl sein? Über welche Mittel wird er wohl verfügen? Könnte er der berühmteste Mann der Kunstgeschichte werden?« Er atmet durch die Nase ein und durch den Mund aus. Legt die Pfeife auf den Tisch mit dem Tambourin. Dann streckt er die Arme aus und wedelt damit herum, als wolle er meine Frage vertreiben.
»Nein«, widerspreche ich, »das habe ich nicht gemeint. Ich will wissen …«
»Aber was ist mit dem Vincent der Gegenwart? Ist er deine Zeit und Aufmerksamkeit nicht wert, Mademoiselle Bonger? Wirst du mich necken, bis ich voller Erwartung bin, und dann so tun, als wärst du dir deiner Verführungskünste nicht bewusst?« Er schreit über den Gesang im Café hinweg und starrt mich mit aufgerissenen Augen an. »Ich war mein Leben lang zu schüchtern, mich denen vorzustellen, die mich interessieren. Ich habe aus der Ferne bewundert und mich in Gegenwart der Großartigen immer unterlegen gefühlt.«
»Ich bin nicht großartig. Im Gegenteil. Madame Segatori ist großartig.« Mein Tonfall ist bei ihrem Namen ein wenig zu scharf.
»Möchtest du wissen, was meine größte Angst ist?«, fragt er, und ich nicke.
Er trinkt einen Schluck von seinem Bier, dann beugt er sich zu mir herüber, bis seine Lippen nur noch wenige Zentimeter von meinem rechten Ohr entfernt sind. Seine Barthaare kitzeln meine Haut. Instinktiv zucke ich ein Stück zurück. Nein, Vincent . Ich will ihm nicht so nah sein. Man kann wohl sagen, dass diese Unterhaltung ganz und gar nicht läuft wie geplant. Wieder mal bin ich völlig überfordert mit der Situation.
»Dass ich nie einen Zweck erfüllen werde. Dass ich nie gut genug sein werde. Ein Meister in nichts.« Jedes Wort ist von Traurigkeit durchdrungen.
Ich schweige. Diese plötzliche Veränderung in Vincent hat mich überrumpelt. Aber ich muss an meinem Plan festhalten. Wenn ich nicht bald zurückkehre, wird Andries sich auf die Suche nach mir machen. Die Vorstellung, wie wütend er sein würde, spornt mich an. »Ich muss darauf bestehen, dass Sie jetzt mit zu Andries kommen …«
»Eines Tages, unter der schwefelgelben Sonne, werde ich eine Künstlerkolonie gründen. Einen Ort, an dem Künstler einfach sein können, sein und malen.«
Dann verfällt er wieder in Schweigen. Zwei Tische zu unserer Rechten lacht eine Frau laut auf. Vincent zuckt zusammen. Sein Bein stößt wieder gegen unseren Tisch und befördert diesmal die leeren Gläser und seine Pfeife zu Boden. Die Gläser zerbrechen. Die Musiker halten inne. Einen Moment lang herrscht Stille, in der sich alle nach uns umdrehen. Vincent beugt sich zu Boden und sammelt die Scherben mit bloßen Händen auf.
»Halt!« Ich packe seine Handgelenke und sehe das Blut aus winzigen Schnitten quellen. Vincent blickt mir in die Augen. Die seinen voller Trauer.
»Dries sagt, Theo glaubt, dass Ihre Kunst gefeiert werden wird. Für ihn sind Sie einer der Meister«, sage ich.
»Er ist geblendet von brüderlichem Pflichtgefühl.«
Um uns herum wird es wieder laut. Ich lasse Vincents Handgelenke los. Er greift nach seiner Pfeife. »Oh, einfach nur in Frieden meine Pfeife zu rauchen und zu trinken.« Wir lehnen uns beide in unseren Stühlen zurück.
»Dries sagt, dass die Farbigkeit und Art des Farbauftrags Ihre Kunst verändert. Das würde ich gerne sehen. Ich würde mir das gerne von Ihnen zeigen lassen.«
»Theo glaubt, dass ich mein Handwerk beherrsche. Er sagt, das kommt davon, dass wir zusammenleben. Es gibt mir Stabilität.« Vincent starrt seine Handflächen an. Dann zieht er kleine Glassplitter aus seiner Haut und legt sie auf den Tisch.
»Geht es Ihnen genauso?«, frage ich vorsichtig. Ich habe Angst vor dem, was er als Nächstes tut.
»Ich bin von dir besessen.« Sein Ton ist so bestimmt, dass es klingt wie eine allgemein bekannte Tatsache. Wieder bin ich völlig verwirrt.
»Ich brauche Ihre Hilfe!« Die Worte klingen hart, weil ich so laut sprechen muss. »Theo muss wissen, dass wir« – ich zeige auf uns beide – »keine Liaison haben. Dass da nichts ist zwischen uns. Bitte, Vincent. Sagen Sie ihm die Wahrheit.«
Vincent steht auf. Ganz offensichtlich hat er kein Interesse mehr an unserer Unterhaltung. Er winkt Agostina Segatori, die ihm daraufhin zunickt. Seine Schritte knirschen auf den Glasscherben, als er weggeht und mich allein im Le Tambourin sitzen lässt.
Juli 1888
Als ich nach Hause kam, wusste mein Bruder bereits von meinem »heimlichen Treffen mit Vincent«. Ich erzählte ihm alles von unserem Gespräch und wie sehr Vincent mich verunsichert hat, weil nichts von dem, was er tat oder sagte, für mich Sinn ergab. Es gelingt mir auch nicht, vorherzusagen, was als Nächstes von ihm kommt.
Ich bezweifle, dass es in ganz Paris eine Frau gibt, die Vincent van Gogh beschwichtigen könnte.
Dries blieb nichts anderes übrig, als mir nun doch zu erklären, weshalb Vincents Ruf absolut gerechtfertigt ist. Er beschrieb mit (sehr) intimen Details Vincents Besessenheit von seiner Verwandten und dass er mal mit einer schwangeren Prostituierten in Sünde zusammengelebt hatte.
Ich hatte ja gehofft, seit meiner Ankunft in Paris etwas lockerer geworden zu sein, aber mir wurde bei diesem Bericht ganz elend. Bei jedem schmutzigen Detail und jeder mutmaßlichen Krankheit wurde mir übler. Die Vorstellung, andere könnten glauben, ich sei mit diesem Mann intim gewesen, ließen mir kalten Schweiß ausbrechen. Kein Wunder, dass Guy Loti sein Interesse verloren hatte.
Aber was soll ich tun? Er ist Theos Bruder, und wenn ich Theo in mein Leben lasse, bedeutet das dann nicht auch, dass ich lernen muss, seinen Bruder zu ertragen?
Natürlich wird auch Theo inzwischen von meinem Treffen mit Vincent im Le Tambourin erfahren haben, und in Anbetracht der »Beweislage« wird er vermutlich daraus schließen, dass ich von seinem Bruder fasziniert bin. Ich bezweifle, dass ich je wieder von ihm hören werde.
Wieso gelingt es mir ständig, alles nur noch schlimmer zu machen?