Zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten frage ich: »Und du bist sicher, dass sie uns für heute eingeladen haben?«
Es ist noch nicht einmal zehn Uhr, und wir stehen bereits vor der Tür.
»Vielleicht wird ja die Bildhauerei deine Waffe«, entgegnet Andries. Er zieht an der Schnur, die in Rodins Atelier die Glocke läutet.
Kurz darauf sehen wir Camille drinnen auf die große Tür zulaufen. Sie trägt einen weißen Kittel über ihrer Kleidung, und ihre ausgestreckten Finger sind mit nassem Ton verschmiert. Obwohl uns noch die Tür trennt, ist ihre Energie ansteckend. Andries lacht, und auch ich muss lächeln.
»Johanna, mon amie .« Wir hören sie durch die Glaspaneele, während sie versucht, mit den Handflächen den Schlüssel umzudrehen. »Je suis si contente que tu sois là .« Dann umarmt sie mich fest mit den Ellbogen, weil sie mit ihren schmutzigen Fingern nicht meine Kleider berühren will.
»Bonger, immer eine Freude«, begrüßt sie meinen Bruder mit einer gleichermaßen herzlichen Umarmung. »Mein Frettchen ist da drin.« Sie deutet nach rechts. Bei ihrer Handbewegung rieseln winzige Tonkrümel zu Boden. Ich muss den Impuls unterdrücken, sie aufzufangen. »Geh ruhig zu ihm, dann habe ich Johanna ganz für mich allein.«
Ich muss unwillkürlich lächeln. In der Vergangenheit hatte ich oft das Gefühl, dass ich andere Frauen mehr mag als sie mich. Bei Camille fühlt sich das anders an. Ihre Freude über meinen Besuch macht mich glücklich. Hier bin ich nicht unsichtbar, und mein Interesse an Kunst wird ernst genommen.
»So ein herzliches Willkommen wie bei Ihnen gerade erlebe ich nicht mal bei meinen Eltern, wenn ich sie besuche«, sage ich lachend und folge Camille durch den Eingangsbereich. »Vielen Dank, dass Sie so nett sind.«
Sie bleibt stehen, wartet, bis ich auf ihrer Höhe bin, und hakt sich dann bei mir unter. Nur ein oder zwei Tonkrümel landen dabei auf meinem Kleid. Es gefällt mir: Hier bin auch ich eine Künstlerin.
»Mag deine Mutter dich denn?«, will sie wissen. Ihre Direktheit ist beeindruckend. Sie interessiert sich für mich – für Johanna Bonger, nicht für Andries’ jüngere Schwester. Ich lächele kopfschüttelnd. Nein. Mama hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie mich nicht leiden kann.
»Meine Mutter verabscheut mich. Sie wünscht, ich wäre als Mann geboren worden, und sie findet meine Kunst obszön«, sagt Camille und lacht. »Als man mir erklärt hat, ich hätte das falsche Geschlecht, um an der École des Beaux Arts zu studieren, hielt ich es für einen Fluch, eine Frau zu sein.«
Ich nicke. »Ich wünsche mir im Moment auch sehr, ein Mann zu sein.«
»Aber der Körper einer Frau und dessen Form sind wunderbare Geschenke«, fährt Camille strahlend fort. »Die Dinge werden sich wandeln, und Paris ist das Zentrum für all das.«
»Wirklich?«
»Absolut.« In ihrem Wort liegt nicht der Hauch eines Zweifels.
Wir betreten nun eine große Halle, deren Fußboden mit weißen Leintüchern und Wassereimern bedeckt ist. Skulpturen in verschiedenen Größen, Formen und Vollendungsstadien stehen im Raum verteilt.
»Das ist dein Atelier?«, frage ich.
»Rodins, aber wir teilen es uns. Die meisten sind noch nicht fertig«, erklärt sie. Wie ein Schleier liegt weißer Staub in der Luft und bedeckt alle Oberflächen. Marmorklumpen und Steinblöcke warten auf hölzernen Stützen und Kisten. »Spitzmeißel, Raspel und Flachmeißel.« Camille deutet auf die Werkzeuge, die in einer ordentlichen Reihe neben den Steinen liegen, während sie auf einen matschigen Klumpen feuchten Tons zugeht. Sie nimmt einen nassen Lappen und reibt damit kräftig über ihre Finger.
Ich zeige auf einen Haufen fertiger Körperteile. »Warum gibt es so viele Füße und Hände?« Sie liegen in diesem großen Raum verteilt, als sei hier vor Kurzem eine Schlacht zu Ende gegangen.
»Die mache ich für Rodin«, sagt sie. »Er findet sie schwierig.«
»Und er benutzt sie dann für seine Skulpturen?« Camille nickt. »Und bekommst du eine Anerkennung für deinen Beitrag?«
Sie schüttelt den Kopf. »Manchmal signiert er sie sogar als seine eigenen.«
»Aber …«
»Ich bin lieber ein Teil von etwas als gar nichts«, erklärt Camille ohne jede Bitterkeit.
»Aber das ist so ungerecht. Warum …«
Diesmal unterbricht ihr Lachen meinen Ausbruch. Wieder schüttelt sie den Kopf. »Mit achtzehn kam ich nach Paris, um bei Alfred Boucher zu studieren.« Sie sieht mich fragend an, aber ich kenne ihn nicht. »Als Alfred nach Florenz ging, bat er Rodin, meinen Unterricht zu übernehmen, doch stattdessen lud mich mein Frettchen ein, eine seiner Assistentinnen zu werden. Seither bin ich sein Modell, seine Geliebte, Muse und ihm künstlerisch ebenbürtig. Doch für andere werde ich immer nur seine Geliebte bleiben.«
»Wie lange schon?«, frage ich, während ich zwischen den Skulpturen herumgehe und das Bedürfnis unterdrücken muss, die Hand auszustrecken, um die glatten Formen zu streicheln.
»Vier Jahre«, antwortet sie und kann mir mein Entsetzen am Gesicht ablesen. Vier gestohlene Jahre . »Er ist kein schlechter Mann«, fügt sie rasch hinzu. »Er liebt zwei Frauen, und jede von uns gibt ihm etwas, was die andere nicht geben kann.«
Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihr um. Sie starrt eine Tonfigur an. »Bist du glücklich?«, frage ich.
»Nein«, antwortet sie ohne Zögern. »Die Traurigkeit macht meine Seele krank. Das hier« – mit ausgestreckten Armen zeigt sie auf das große Atelier – »bewahrt mich vor dem Wahnsinn. Ich glaube, mein Geist würde implodieren, wenn ich meine Kunst nicht hätte.« Sie macht eine kurze Pause. »Und ich würde ein Leben ohne ihn nicht ertragen. Er hat mir geholfen, die Künstlerin zu werden, die ich bin, aber …«
»Er zerstört dich.« Ich gehe zu ihr.
»Ich will ihn für mich allein haben. Er zieht es vor, mit ihr zu leben«, sagt sie tonlos.
»Seine Frau?«
»Sie sind nicht verheiratet, aber sie haben einen gemeinsamen Sohn. Er hat versprochen, sie zu verlassen …«
Als ich etwas erwidern will, fällt mein Blick auf die Figur neben ihr. Ich bin völlig überrumpelt. Ihre Schönheit verschlägt mir die Sprache.
»Die habe ich in dem Jahr begonnen, als ich Rodin kennengelernt habe«, sagt Camille. »Ich nenne sie La Valse .«
»Der Walzer. Wie du die Bewegung eingefangen hast … ich meine, in dieser festen Form … das ist atemberaubend.« Ich trete noch einen Schritt näher. »Wie ist das überhaupt möglich?«
Staunend umrunde ich die Plastik und sauge die vielen Feinheiten in mich auf. Sie verändert sich aus jedem neuen Winkel. Es handelt sich um ein tanzendes Paar, das sich der eigenen Körperlichkeit und der Bewegung des gemeinsamen Tanzes sichtlich bewusst ist.
»Dass die beiden vollkommen verliebt sind, steht außer Frage«, stelle ich fest. »Wie sie sich neigen, in diesem einen Moment innehalten … pure Verletzlichkeit.« Ich bin völlig erschüttert von der so offensichtlichen Zerbrechlichkeit von Liebe, diesem winzigen Einblick in Camilles Gefühle. Das Werk ist voller Freude und Zärtlichkeit.
»Das ist wirklich großartig. Umwerfend«, staune ich. »Ich glaube, du bist die talentierteste Künstlerin, die ich je getroffen habe.«
Sie lacht, als wolle sie mein Kompliment abtun. »Ich habe es ausgestellt, und die Leute waren entsetzt.« Man kann ihren Kummer darüber deutlich hören.
»Wie bitte?« Ich beuge mich näher zu dem tanzenden Paar. »Wie kann jemand von dieser Schönheit nicht berührt sein?«
»Wegen meines Geschlechts und meines Rufs als Rodins Geliebte«, erklärt sie. »Als Bildhauerin ist es schwierig, an Aktmodelle zu kommen, und wenn überhaupt, dann wäre nur ein sittsames Aktmodell akzeptabel. Ich habe mich geweigert, die Regeln einzuhalten.«
»Was ist passiert?«
»Die Plastik wurde als obszön abgestempelt, und man hat mir gesagt, in einer öffentlichen Galerie gäbe es dafür keinen Platz.«
»Aber Männer können die nackte Form studieren – und ihre Kunst wird gefeiert?« Camille nickt.
»Ich würde sie so gern in Bronze gießen lassen, aber die Societé Nationale des Beaux-Arts wird diese Nacktheit nicht unterstützen.« Sie zeigt auf die Plastik, und wir schweigen beide einige Minuten lang, während wir ihre Kreation nachdenklich betrachten.
»Ich weiß, es ist nicht ideal«, schlage ich vor, »aber hast du darüber nachgedacht, ihr einen Rock anzuziehen?«
Keine Antwort, aber ich beobachte, wie Camille ihr Werk umrundet. »Nur über diesen Teil.« Ich deute auf das Stück zwischen dem nackten Hinterteil bis zum Fuß der Plastik.
»Der Verlust des Selbst«, sagt sie. Ihre Finger wandern über den Ton. »Er könnte ohne Turnüre anliegen, sodass die Kontur des Körpers erkennbar bleibt.«
»Eine fließende Form würde funktionieren«, bestätige ich. »Als ob die Erde ihr Wesen verschlingt.«
»Genau so ist es, Rodin zu lieben«, sagt Camille.
Heimlich versuche ich, mir eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen. So eine Verletzlichkeit und Ehrlichkeit habe ich bisher noch nie in Kunstwerken erlebt. Camilles Talent ist nicht zu verkennen. Diese Unterhaltung, dieses Leben – ich fühle mich mehr wie ich selbst als je zuvor.
»Wer war er?«, erkundigt sie sich. Sie tritt an meine Seite und legt mir den Arm um die Schultern.
»Ein Schriftsteller, älter, weiser, immer noch an der Schule angestellt, die mich entlassen hat«, antworte ich. »In Amsterdam werde ich immer noch durch meine Indiskretion definiert. Aber bald wird meine Vergangenheit ausradiert sein, und ich werde Ehefrau.«
»Ich höre da aber nicht viel Freude heraus«, stellt sie fest.
»Ein Witwer, fast siebzig. Meine Eltern haben alles arrangiert. Ich muss einwilligen, sonst verstoßen sie mich.«
Camille baut sich vor mir auf und legt mir die Hände auf die Schultern. Die Tonabdrücke werde ich noch tragen, wenn sie mich längst wieder losgelassen hat. »Dann lass sie doch«, sagt sie.
»Ich habe keine Mittel, mich selbst zu finanzieren.« Irgendwie kann ich ihr nicht in die Augen sehen. Auf einmal genüge ich nicht mehr, bin ihr nicht mehr ebenbürtig. »Dries versucht, hier in Paris einen passenden Ehemann für mich zu finden, aber das ist kompliziert. Theo hat mir einen Antrag gemacht.«
»Van Gogh?«
Ich nicke. »Ich mag ihn, aber ich habe drei Jahre lang Eduard geliebt. Ich bin noch nicht bereit, mich auf jemand anderen einzulassen …«
»Sie lügen, sie betrügen, und trotzdem tragen wir die Last des Skandals auf unseren Schultern«, sagt sie. »Dass meine Kunst dich berührt hat, wird uns für immer verbinden.«
Juli 1888
Ich habe einmal etwas über das Leben von Beethoven gelesen. Danach konnte ich seine Musik umso mehr schätzen und genießen.
Nun, da ich Camille getroffen habe, werde ich für immer in jeder Skulptur nach ihrer Geschichte lauschen.