Stillleben mit drei Büchern

Mit kerzengeradem Rücken liest mein Bruder am Schreibtisch stehend seine Post. Neben ihm ruht seine Boxkamera. Er hat noch nicht einmal den Gehrock abgelegt, so sehr scheint ihn der Inhalt dieser Briefe zu fesseln.

»Es gibt wieder ein großes Tanzfest, heute Abend, im Moulin de la Galette«, berichtet er, jedoch ohne jegliche Begeisterung.

»Und das ist schlecht?«, erkundige ich mich von der confidante aus.

»Nicht unbedingt.« Er hat den Blick immer noch auf den Brief gerichtet.

»Dann wäre es doch eine perfekte Gelegenheit für mich, wieder mit Theo zu sprechen.« Ob er wohl gerne tanzt? Die Vorstellung, er könne insgeheim exotische Polkas mögen, lässt mich schmunzeln. »Hast du deine Aufnahme von Eiffels Bauwerk gemacht?«

Andries blickt auf und lächelt. »Sie machen große Fortschritte«, antwortet er. »Aber wegen heute Abend …«

»Alle Frauen sind willkommen.«

Andries nickt. »Normalerweise, ja«, bestätigt er. »Diese Veranstaltungen sind ein guter Ort, um ein Glas Muskatwein zu trinken. Heute ist es jedoch anders«, erklärt er. »Ein privater Tanzabend, bei dem nicht alle Frauen willkommen sind, und ganz besonders die nicht, die lockere Sitten pflegen. Nur für geladene Gäste.« Bei den Worten »lockere Sitten« verstellt er seine Stimme, aber ich bin mir nicht sicher, wen er nachahmt.

»Wird Sara da sein?« Andries nickt wieder. Vielleicht werde ich Gelegenheit haben, mit ihr zu sprechen, damit sie begreift, dass sie mich nicht einschüchtern kann. »Was soll ich anziehen? Da wäre dieses neue Satinkleid, das mit den grünen und pfauenblauen …« Ich verstumme, weil ich sehe, wie Andries’ Gesicht rot anläuft. »Was ist?« Ich bin mir unsicher, was ich gesagt habe, das ihn hätte verärgern können.

»Sara«, antwortet er.

»Sie wird da sein. Hast du gesagt.« Ich stehe auf und gehe zu ihm. »Und du möchtest, dass ich mich in ihrer Anwesenheit mit Theo anständig verhalte?« Ich gehe davon aus, dass mein Bruder sich Sorgen macht, ich könnte für Unruhe sorgen. Kein Herumschmusen auf den Tischen, beim Tanzen keine Knöchel zeigen.

Andries schüttelt den Kopf. »Schlimmer.« Er blickt zum Kamin und dann auf den Teppich. »Sie ist …«

»Spuck’s aus«, dränge ich.

»Sara ist bezüglich deiner Beziehung zu Theo auf den neuesten Stand gebracht worden.«

»Aber ich habe doch noch gar keine Beziehung zu Theo.«

»Nach meiner Unterhaltung mit ihm, bei der ich ihm berichtet habe, wie wichtig es dir war, dass Vincent erklärt, dass zwischen euch beiden nichts vorgefallen ist«, sagt er, »ist Theo klar geworden, wie ernst du es mit ihm meinst.«

»Ich meine es ernst mit ihm? Tue ich das?«

»Vielleicht habe ich ein kleines bisschen übertrieben.« Andries hebt die Hand, ehe ich etwas einwenden kann.

»Und das war, als du dich mit ihm im Le Tambourin getroffen hast?«, frage ich, was Andries bejaht.

»Und dann noch einmal, als ich zurückkam, um ihm zu erzählen, dass Vincent versucht hat …«

»War Sara beim zweiten Mal immer noch bei ihm?«, will ich wissen.

»Nein, aber wir haben sie heute auf dem Champ de Mars getroffen.«

»Und?«

»Theo war sehr gesprächig, was die Möglichkeit betrifft, du und er …« Andries macht eine Pause, aber ich nicke ihm aufmunternd zu. »Er hat Sara gesagt, dass du und er … also dass ihr euch bald verloben werdet.« Zum Ende des Satzes hin spricht er immer schneller.

»Er hat was gesagt?« Ich baue mich neben meinem Bruder auf und gebe ihm einen Klaps auf den Arm.

»Sara hat ihn provoziert«, verteidigt er sich. »Sie hat auf dem Champ de Mars vor allen unseren Freunden verkündet, dass sie dem Organisator des heutigen Abends klargemacht habe, dass sie nicht teilnehmen werde, wenn du eingeladen seist. Sie meinte, deine Anwesenheit würde den gesellschaftlichen Status der Veranstaltung senken.«

»Und das war Theos Antwort darauf?«, frage ich, während ich immer noch versuche, das Gehörte zu verarbeiten. »Dass wir uns bald verloben werden?«

Andries nickt. »Es hat sie auf jeden Fall dazu gebracht, keinen weiteren Unsinn zu erzählen.« Er grinst. Theo und mein Bruder sind aus demselben Holz geschnitzt.

»Sie muss in ihre Schranken verwiesen werden.«

»Das wurde sie heute.« Andries’ Fröhlichkeit ist ansteckend. »Der Organisator will Sara aber nicht verärgern, und deshalb hat man mir verkündet« – er schwenkt den Brief durch die Luft – »dass meine Einladung nicht für dich gilt.«

»Dann hat sie also doch ihren Willen bekommen«, stelle ich fest. »Eine Frau, die die Männer kontrolliert.«

»Wohl kaum«, meint Andries lachend. »Nicht, wenn man bedenkt, wie besessen sie von Theo ist.«

»Warum tanzen dann alle nach ihrer Pfeife?« Ich nehme ihm den Brief aus der Hand, um ihn selbst zu lesen.

»Ihr Vater ist sehr wohlhabend und einflussreich.«

»Kann sie über alle bestimmen, denen sie begegnet?«

Andries schmunzelt. »Natürlich nicht. Sie ist eine Frau, und ihr Ruf wird von Tag zu Tag schlechter. Bei meinen Freunden wird sie bereits zur Zielscheibe für Spott.«

»Und damit hast du kein Problem?«

Mein Bruder zuckt mit den Schultern, während ich den Kopf schüttele. Er kann nicht verstehen, weshalb mich diese Haltung ärgert. Ich habe meine eigenen Vorbehalte gegen Sara, aber wir leben beide in einer Gesellschaft, die Frauen unterordnet. Saras Wünsche werden nur erhört, weil sie einen mächtigen Vater hat. Sie wird nicht einmal erfahren, dass der Organisator wenig erfreut war, sich den Mätzchen einer Frau beugen zu müssen. Dass er es nur getan hat, um Monsieur Voort nicht zu verärgern. Weshalb sollte ich eine solche Veranstaltung besuchen wollen?

»Dann verbringe ich den heutigen Abend allein mit meiner Leinwand, den Farben und Charlotte Brontë. Oder vielleicht lässt du mich einen der Romane lesen, die du da eingeschlossen hast.« Ich deute auf seinen Bücherschrank, in dem ungelesene Bücher Spalier stehen und sich zweifellos danach sehnen, eines Tages gehalten und gelesen zu werden.

»Das erinnert mich an etwas anderes.« Sein Tonfall ändert sich. »Vorhin ist ein Päckchen mit Romanen für dich angekommen.«

»Ich habe aber nichts bestellt.«

»Vincent«, sagt Andries nur. Sein Blick wandert über meine Schulter hinweg, und ich erwarte beim Umdrehen fast, dem Mann persönlich gegenüberzustehen. Dieser Name wird langsam zum Schreckgespenst hier im Appartement meines Bruders. »Sie liegen im Flur.«

Sofort eile ich aus dem Salon. Draußen auf dem Tischchen liegt ein Stapel Bücher, mit Schnur zusammengebunden. Ich lege den Kopf schief, um die Rückenaufschrift lesen zu können. Drei Autoren. Drei Romane. Alle bereits von Vincent geliebt und gelesen. Braves Gens von Jean Richepin. Das Paradies der Damen von Émile Zola und La Fille Élisa von Edmond de Goncourt. Und eine Notiz.

Meine liebe Johanna.

Diese Künstler beschreiben das Leben, wie wir selbst es ertragen.

Bis bald, Vincent

Ich rühre mich nicht vom Fleck. Ich knote die Schnur nicht auf.

»Er scheint wie besessen.« Beim Klang von Andries’ Stimme zucke ich zusammen, dann nicke ich.

»Wir sollten sie ihm zurückschicken«, sage ich.

»Wird ihn das nicht nur noch mehr anstacheln?«

»Ich will die Bücher, aber mit Vincent will ich nichts zu tun haben.« Wenn ich sie behalte, besänftige ich ihn damit? Entschuldige ich sein Verhalten? Ich lese noch einmal seine Nachricht. »Nicht der Hauch einer Entschuldigung für sein Benehmen neulich.« Ich streiche mit dem Finger über die Buchrücken. »Aber beleidige ich womöglich Theo, wenn ich ein Geschenk seines Bruders zurückweise?«

Den Blick auf die schwarz-weißen Bodenfliesen gerichtet, versuche ich zu entscheiden, was die beste Strategie ist. Doch wie kann ich die Reaktionen eines Mannes vorhersagen, den ich nicht verstehe? Die Fliesen sind schmutzig und müssten geputzt werden. Ich denke an die arme Clara und wie unmöglich es ist, den Haushalt auf Vordermann zu halten, doch bald wandert mein Blick wieder zu den Büchern.

Es sind Romane, die er auf unserem Spaziergang erwähnt hat. Werke, die seine Kreativität stimuliert haben. Doch ich weiß bereits, dass sie noch viel mehr sind. Es sind Worte, die seinen Standpunkt als Künstler geprägt haben. Von jedem anderen Maler wären sie das perfekte Geschenk: das großzügigste Geschenk. Ich möchte die Seiten umblättern, die Vincent so fasziniert haben. Ich möchte jedes Wort aufsaugen, das ihn dazu inspiriert hat, etwas zu erschaffen, um zu sehen, ob diese Worte auf mich dieselbe Wirkung haben. Ich will, dass die Kreativität von meinem Wesen Besitz ergreift. Ich will sein Handwerk besser verstehen. Ein Gespür für Künstler und ihre Sicht auf die Welt entwickeln.

Doch ich habe bereits gelernt, dass alles, was Vincent anbietet, seinen Preis hat.

»Behalte sie«, sagt Andries. »Vincent mag die Jagd. Er wird deiner überdrüssig werden, sobald er die nächste Frau gefunden hat.«

Ich schüttele den Kopf, denn dieser Meinung bin ich nicht. »Das hier ist keine Entschuldigung. Vincent markiert sein Revier.« Es ist ebenso eine Nachricht an Theo wie an mich.

Andries zuckt mit den Schultern. »Das neueste Gerücht ist, dass du Vincent Modell stehst und er dich gestern unbekleidet skizziert hat.«

Ich sehe meinen Bruder an, der mit hochgezogenen Augenbrauen auf eine Erwiderung wartet. »Ernsthaft?«, frage ich, und Andries lacht. »Ich weiß ehrlich nicht, was ich über Vincent van Gogh noch sagen soll. Ich werde ihn nie verstehen.«

Andries zieht mich an sich und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Jedenfalls hast du mich noch gar nicht nach meinen Plänen für heute Abend gefragt.«

Ich trete einen Schritt zurück, um zu ihm aufschauen zu können. Sein Lächeln ist verschmitzt. »Theo hat nämlich auch geschrieben.« Ich will etwas sagen, doch er bremst mich. »Und wir haben beschlossen, dass wir ebenfalls nicht an dieser Party teilnehmen werden, wenn du ausgeschlossen bist. Stattdessen wird Theo mit uns hier zu Abend essen.«

Ich lache erleichtert auf. Sara hat nicht gewonnen.

»Siehst du, er ist bereits ein sehr unterhaltsamer Freund «, sagt Andries.

»Sara wird ihn als ihren Ehrengast vorgesehen haben.«

»Das war er tatsächlich«, bestätigt mein Bruder. »Er ist erfolgreich, hat viele Verbindungen. Sie wird fuchsteufelswild sein.« Er lacht schallend und steckt mich damit an. »Außerdem weigert sich Theo, Bescheid zu geben, dass er nicht teilnehmen wird. Ich vermute, sie wird den gesamten Abend damit verbringen, auf sein Erscheinen zu warten.«

Ich lächele immer noch, aber gleichzeitig ist mir nicht wohl dabei. Sara liebt einen Mann, der diese Liebe nie erwidern wird. Sie sehnt sich danach, Zeit mit ihm zu verbringen, und will, dass er sie begehrt. Sie ist ein Spielzeug, den Launen der van-Gogh-Brüder ausgeliefert. Ihre Liebe zu Theo bleibt einseitig. Ihr Weg steuert auf den Wahnsinn zu, den Camille fürchtet und vor dem ich einst Angst hatte – den zu viele Frauen ertragen müssen.

Juli 1888

Je mehr ich über das weibliche Wesen nachdenke, umso klarer wird mir, dass ich willentlich mein persönliches Glück für Eduard ausgeschlagen habe. Ich frage mich inzwischen, ob ich je wirklich in ihn verliebt war. War ich womöglich eher besessen von der Idee von Liebe, als tatsächlich zu lieben?

Auch Sara geht mir durch den Sinn. Für sie tanzen Wahnsinn und die Vorstellung von Liebe Hand in Hand. Ob sie wohl bereits so mutlos ist, wie ich es war – wenn sie fürchtet, vor Sehnsucht zu sterben, ohne Theo nicht leben zu können?

Warum erdulden das so viele Frauen? Zwingen uns jene Männer dazu, die alles in unserem Leben kontrollieren?