Sie haben die Tür zum Salon offen gelassen, und ich habe mich durch den Flur geschlichen. Theos Anwesenheit wurde nicht offiziell verkündet, deshalb muss ich heimlich lauschen. Er hat offensichtlich etwas mit Andries zu besprechen, das nicht für meine Ohren bestimmt ist.
Also gehe ich auf Zehenspitzen so nah an die Tür heran wie möglich, ohne mich zu verraten. Das Licht von den großen Fenstern im Salon fällt bis auf die Fliesen im Flur. Clara ist nicht in der Nähe. Ich habe sie seit Stunden nicht mehr gesehen.
»Sara behauptet, deine Schwester würde Gefühle für meinen Bruder hegen«, sagt Theo. »Ich hatte heute drei weitere Besucher, die mir alle zu verstehen gaben, was für ein Narr ich sei.«
Was zum Teufel redet er da?
»Wir wissen doch beide von Mademoiselle Voorts Besessenheit. Warum lässt du das so an dich heran?«, will Andries wissen. »Jo toleriert Vincent, weil er dein Bruder ist und sie dich mag. Wenn er es nicht wäre, hätte sie schon vor Wochen jeglichen Kontakt mit ihm verweigert. Du weißt doch sicher …«
»Vincent deutet an, sie wären intim gewesen. An jenem Tag, als sie zusammen durch Montmartre spaziert sind, in einem Gebüsch, und dann noch einmal hier. Auf diesem Teppich.«
In einem Gebüsch?
»Und das glaubst du ihm?«, fragt Andries. »Hat er tatsächlich gesagt, die beiden hätten Geschlechtsverkehr gehabt?«
Theos Antwort ist tonlos. Offensichtlich glaubt er Vincent.
»Der einzige andere Mann in Jos Leben war Stumpff«, erklärt Andries. Darauf folgt eine gemurmelte Erwiderung, die ich nicht ganz verstehe. »Und mit ihm hatte sie keinen Verkehr.«
Meine Finger ballen sich zur Faust. Ich bin wütend. Hier werden ohne meine Erlaubnis meine privatesten Geheimnisse diskutiert.
»Ich habe eine große Veränderung in ihrer Zuneigung zu dir beobachtet«, fährt Andries fort. »Du warst diese Woche jeden Tag hier. Da hast du den Unterschied doch sicher ebenfalls bemerkt.«
»Und du glaubst, das ist echt?«
»Du nicht?«, gibt Andries zurück. Er kann die Verärgerung in seiner Stimme nicht verhehlen.
Ob Theo wohl mit den Schultern zuckt oder nickt oder die Überlegung beiseitewischt? Flammender Zorn steigt in mir hoch. Er glaubt nicht, dass mein Interesse an ihm echt ist, er spürt nicht, wie meine Zuneigung wächst, er glaubt Vincent mehr als mir.
»Abgesehen von vulgären Bemerkungen über Johanna hat sich Vincent völlig von mir zurückgezogen. Er versinkt in Melancholie, und ich habe gehört …«
»Was denn?«, hakt Andries nach. »Liegt es an Jo? Hast du einen Beweis für weitere Begegnungen?«
»Nein, Bonger, nichts dieser Art. Deine Schwester hat ihr Versprechen dir gegenüber gehalten und, sehr zum Ärger meines Bruders, jeglichen Kontakt mit ihm verweigert.«
»Willst du dein Interesse an meiner Schwester zurückziehen?«
»Ganz und gar nicht.« Die Worte sprudeln nur so aus Theo heraus. »Es ist nur so … ich habe gehört, dass die Frauen, die er dafür bezahlt, dass sie Zeit mit ihm verbringen, alle Johanna ähneln.«
Mir dreht sich der Magen um.
»Vincent hat Geschmack, und meine Schwester ist eine Schönheit«, hält Andries dagegen.
»Das ist sie, aber man hat mir außerdem erzählt …«
»Wer befeuert eigentlich deine Angst?«, will mein Bruder wissen. Ich höre, wie besorgt er ist, und frage mich, ob Theo das auch erkennt.
»Sara.«
Schon wieder diese Frau.
»Ich werde sie einfach nicht los«, jammert Theo. »Wohin ich auch gehe, sie ist schon da. Hat mir immer irgendetwas zu sagen. Es ist immer dringend, erfordert meine sofortige Aufmerksamkeit. Pikante Details, die ich unbedingt erfahren muss. Vincents Verhalten, Johannas Ruf, was sie vielleicht mit Vincent tut, was Sara sich antun könne, wenn ich nicht zuhöre.«
»Du bist einfach zu höflich«, schimpft Andries. Theos Lachen klingt gequält.
Sara Voort ist so gerissen wie ein Fuchs. Sie täuscht sich gewaltig, wenn sie glaubt, dass Theo etwas für sie empfinden könnte, aber sie lässt nicht locker. Ihre Lügen treffen Theo ins Herz und knüpfen sich an Dinge, die er guten Gewissens nicht ignorieren kann.
»Sie hat gesagt, dass Vincent jede seiner Frauen Johanna nennt.«
»Woher will sie solch intime Details überhaupt wissen?«, fragt mein Bruder. »Außer, sie war anwesend …«
Ich höre meinen Bruder lachen. Das ist wirklich unfassbar. Weshalb verstecke ich mich hier draußen? Ich sollte dort drin sein und …
»Und selbst wenn es stimmen würde, na und?«
»Na und?«, wiederholt Theo und denkt wohl einen Moment lang über diese Frage nach.
»Ich habe Vincent diese Woche jeden Tag mit Agostina gesehen. Sie erholt sich anscheinend gut«, meint Andries.
»Das habe ich auch gehört.« Dann höre ich Theo laut seufzen. »Aber weshalb sollte Vincent behaupten …«
»Sara ist eine verschmähte Frau, Vincent ein zurückgewiesener Mann«, sagt mein Bruder. »Das ist eine gefährliche Kombination. Ich kann mir gut vorstellen, was Sara Vincent alles zuflüstert.«
Was ich nicht verstehe, ist, weshalb Theo ihr überhaupt zuhört. Weshalb er ihr nicht Paroli bietet. Was hat sie gegen ihn in der Hand? Mich überrollte eine Welle von Gefühlen, die mir nicht vertraut sind. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, um was es sich handelt: Ich bin eifersüchtig.
»Könnte diese Verschlechterung seines Zustands an Madame Segatoris Abtreibung liegen? Vincent mag sie und hat oft erwähnt, dass er gerne Vater wäre.«
Schweigen. Ich wünschte, ich könnte Theos Gesicht sehen. Ich beuge mich ein bisschen weiter zum Spalt zwischen Tür und Rahmen vor, doch der Winkel ist falsch. Ich kann nichts Neues sehen, werfe aber dafür einen Schatten über die Fliesen. Schnell zucke ich zurück.
»Wie kann ich eine gute Ehe führen, wenn es meinen Bruder, meinen besten Freund auf der Welt, nach meiner Frau gelüstet?«, unterbricht Theo meine Gedanken. Ich halte den Atem an.
»Würde er immer noch in Paris leben, wenn du verheiratet bist? Sag jetzt bitte nicht, dass du dir vorstellst, Vincent würde mit euch beiden zusammenwohnen?«
»Natürlich nicht.« Am Ende des Satzes ertönt ein leises Lachen.
»Vincent hat davon gesprochen, eine Künstlerkolonie auf dem Land zu gründen«, fährt Andries fort. »Ich habe die finanziellen Mittel, das zu unterstützen.« Wie bitte? Was bedeutet das? Ich wünschte, ich könnte Theos Reaktion sehen. »Er hat mal Arles erwähnt. Das wäre doch ein idealer Ort. Weit genug entfernt, um sicherzugehen, dass Jo seine unerwünschten Aufmerksamkeiten nicht fürchten muss. Und Vincent würde gar nicht merken, dass er verbannt wird. Es würde ihm auch etwas Abstand zu Agostina erlauben. Sie hat ihn ziemlich in ihren Bann gezogen – und mehrere andere auch. Außerdem wäre es gut, wenn Sara ihm nichts mehr einflüstern kann. Hast du gewusst, dass …«
»Ich habe aufgehört, zu zählen, wie oft er mir erklärt hat, dass er sich in der Natur am wohlsten fühlt. Dort ist er am glücklichsten«, wird er von Theo unterbrochen. »Erst gestern sprach er davon, wie sehr er sich nach der unverdorbenen ländlichen Idylle sehnt … Das Wäldchen in Asnières war einer seiner Lieblingsplätze. Er konnte das Spiel von Licht und Schatten auf dem Laub unglaublich gut einfangen, aber in letzter Zeit will er dort gar nicht mehr spazieren gehen. Wenn das mit ihm so weitergeht, weiß ich nicht, was noch aus ihm werden soll.«
»Dann wäre dieses Arrangement doch die beste Lösung«, sagt Andries. »Er hat genug von Paris, und in Arles kann er Sonne und Ruhe finden. Wenn er aufs Land zieht, wird das für alle am besten sein.«
»Aber ich werde meinen Bruder vermissen.« Theo klingt tieftraurig. In einem sind wir beide gleich: Die Liebe zu unseren Brüdern ist uns das Wichtigste.
Auf einmal mischen sich Schuldgefühle unter meine Wut. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in den Salon stürmen oder mich auf die Fliesen im Flur übergeben muss. Wenn Andries sich verlieben würde und seine Frau es am besten fände, mich wegzuschicken, würde es mir das Herz brechen. Geschwister lieben und hassen sich gleichermaßen – hin und her und hin und her –, doch eine neue Beziehung diese Verbindung zerstören zu lassen … Was würde es über mich aussagen, wenn ich das erlauben würde.
»Wenn Johanna herausfindet, dass wir Vincent wegen ihr wegschicken …«, gibt Theo zu bedenken.
»Je mehr Distanz wir zwischen Vincent, Sara und meiner Schwester schaffen, umso besser. Er zerstört …«
Genug!
»Ist das dein Plan?« Ich marschiere ins Zimmer und zeige mit dem Finger auf Theo. Meine Stimme ist laut. »Jeden Mann zu entfernen, der mich zufällig ansieht? Hast du so wenig Vertrauen in meine Zuneigung, dass du dich sorgst, ich könnte mich in jemanden verlieben, der nicht du ist?«
»Johanna«, versucht Theo, mich zu beschwichtigen. Seine Miene ist von Kummer gezeichnet.
»Ich habe alles gehört«, erkläre ich mit in die Hüften gestützten Händen. »Folgt auf dieses Arrangement dann ein Heiratsantrag?«
»Du hast eine private Unterhaltung belauscht.« Andries lächelt tadelnd, als wolle er mich loswerden.
Nun richte ich den Finger auf meinen Bruder. »Und du bist ein aufgeblasener Idiot.«
»Mama würde deinen Mangel an Etikette sehr missbilligen«, erwidert Andres, woraufhin ich ihn anknurre wie ein Hund.
»Wann immer Sara Voort mit neuem Tratsch zu dir kommt, soll ich bestraft werden. Ist das unsere Zukunft? Was hast du zu Vincent gesagt? Dass Tratsch stirbt, wenn er auf die Ohren eines weisen Mannes trifft.«
»Sie bearbeitet mich jeden Tag«, sagt Theo.
Kopfschüttelnd rolle ich mit den Augen. Vermutlich wirke ich ziemlich hysterisch. »Du Ärmster. Bist du so ein schwacher Mann, dass du diese verzweifelte Frau nicht ignorieren kannst?« Theo schweigt. »Und du glaubst ernsthaft, ich wäre mit Vincent in einem Gebüsch intim gewesen?« Beim Wort »Gebüsch« höre ich, wie Andries das Lachen unterdrückt.
»Nein, natürlich nicht«, versichert mir Theo. Ich funkele ihn böse an.
»Vincent aus seinem geliebten Paris verstoßen, meinetwegen.« Mein Blick wandert zwischen den beiden hin und her. Theo vermeidet es nun, mich anzusehen. »Das ist euer großer Plan? Dich von deinem Bruder, deinem besten Freund, für den Rest deines Lebens fernzuhalten? Wie genau stellst du dir denn unsere Zukunft vor? Soll ich jedes Mal dankbar sein, wenn ich deinen Schmerz sehe? Soll ich die Schuld mit mir herumschleppen, dass ich beiden van Goghs das Herz gebrochen habe?«
»So wird es nicht sein …«, setzt Theo an.
»Ihr seid Monster. Tyrannische, arrogante … ich werde es ihm sagen.« Ich schreie schon wieder, und mein Gesicht ist eine einzige wutverzerrte Grimasse. »Und dann wird er euch beiden die Wahrheit sagen – dass zwischen uns nie irgendetwas passiert ist. Nicht mal in einem Gebüsch . Und dann hört ihr mit diesem Unsinn auf.«
»Du glaubst, Vincent zu kennen, aber du irrst dich. Du täuschst dich gewaltig, Johanna, Vincent verabscheut Paris«, sagt Theo mit geröteten Wangen, aber er kann mir dabei nicht in die Augen sehen. Ich bin mir nicht sicher, ob es an meinem Ausbruch oder an der Tatsache liegt, dass mein heimliches Mithören ihm peinlich ist. Doch das ist eigentlich irrelevant. Was mich mehr verletzt, ist, dass Theo die Tiefe meiner Gefühle für ihn nicht erkannt und angenommen hat. Er hält immer noch an der Idee fest, ich könnte etwas für Vincent empfinden. Er vertraut mir nicht.
»Ich liebe dich«, sage ich. Und sehe, wie überrascht er ist – und dann überglücklich. Doch ich darf nicht zulassen, dass mein Geständnis von diesem Moment ablenkt. »Wo ist denn dein Mitgefühl geblieben?« Meine Stimme klingt mit einem Mal hoch und piepsig.
»Offensichtlich tanzt das gerade mit deinem Verstand den Boulevard de Clichy hinunter«, meldet sich mein Bruder lachend zu Wort.
Ich mache auf dem Absatz kehrt und stürme aus dem Salon.
»Wo willst du hin?«, ruft mir mein Bruder hinterher.
»Vincent finden.«
»Herzlichen Glückwunsch zum Verliebtsein«, ruft er noch.
Ich drehe mich nicht um.