August 1888
Es ist erst ein paar Stunden her, dass ich erschöpft von der Reise angekommen bin. Ich hatte noch nicht mal mein Mantelet ausgezogen, da verkündete Mama bereits, ich würde mich wie eine Pariser Hure kleiden und mein Erscheinungsbild sei nicht passend für ein erstes Treffen mit meinem Verlobten. Einem fetten, alten Mann, den ich verabscheue.
Sie verspürte dann auch unmittelbar das dringende Bedürfnis, mir zu erklären, dass ich nie mehr nach Paris zurückkehren werde, und dass man meine Verlobung mit diesem Schwein in einer Woche bekannt gebe.
Ich werde ihn niemals heiraten. Ich habe Dries geschrieben und ihn gebeten, sofort hierherzukommen. Auf meinen Bruder hören sie immer, und ich kann nicht reden, ohne dabei vor Wut zu weinen.
Warum nur habe ich Theos Antrag nicht auf der Stelle angenommen? Weshalb erscheinen mir all meine Gründe von damals inzwischen als unreif und unwichtig? Den Mann meiner Wahl zu heiraten und die Ehe zu führen, die ich will, das bedeutet mehr, als ich in Worte fassen kann.
Als ich noch jünger war, hätte ich geschworen, dass Mama die einzige Konstante in meinem Leben sei, doch in letzter Zeit wünsche ich mir nur, möglichst weit weg von ihr zu sein. Ich sehe sie mit anderen Augen, oder vielleicht sehe ich sie zum ersten Mal richtig … Ich habe sie nicht einfach nur weniger gern – ich verabscheue sie sogar.
Man trichtert uns ein, dass unsere Eltern alles für uns sind, und vergisst dabei ganz, dass wir nur durch Zufall in diese spezielle Verbindung geboren werden.
2 . August 1888
Weteringschans 121
Amsterdam
Lieber Theo,
Dries hat versprochen, dich zu besuchen und dir zu berichten, dass Mama meine sofortige Rückkehr nach Amsterdam angeordnet hat. Ich hatte selbst nicht die Gelegenheit, weil ich mich beeilen musste, den letzten Zug zu erreichen, und dabei nicht einmal innehielt, um mich zu fragen, weshalb ich und nicht mein Bruder so dringend einbestellt worden war.
Ich wünschte, ich würde immer noch nicht verstehen, um was es geht. Morgen jedoch wird Dr. Janssen zu meinen Eltern kommen, verbunden mit einer gewissen Erwartung. Eine, die ich nicht zu Papier bringen kann, und trotzdem hoffe ich, dass du verstehst.
Paris zu verlassen hat mich in der Seele geschmerzt. Ich habe meine Leinwände und Farben zurückgelassen, und dich – den Mann, den ich liebe. Mein Aufenthalt bei Dries hat mich verändert. Ich bin um eine Million Jahre gealtert und habe in den wenigen Wochen, in denen ich die Gebrüder van Gogh gekannt habe, ebenso viel Weisheit erfahren. Ich weiß nun ganz sicher, dass ich zu viel an dich denke. Es vergeht kaum eine Stunde, in der du dich nicht in meine Gedanken schleichst. Da meine Eltern darauf bestehen, dass ich mich mit jemandem verlobe, der nicht du bist, ist das höchst unpassend. Doch mein Geist ist unwillig, und ich fühle mich plötzlich wieder völlig verloren.
Letzte Nacht auf der Reise musste ich daran denken, dass wir in unterschiedlichen Ländern weilen können und doch denselben Himmel teilen. Dieser Himmel hat meine Aufmerksamkeit gebannt und tut es noch immer. Das Gefühl, dass es so viel mehr gibt als das Drama und die Unruhe im Haushalt der Bongers heute. Ich habe elf Sterne gezählt und ihre unterschiedliche Farbe wahrgenommen. Zitronengelb, Rosa, Silber und Schneeweiß im dunklen violetten Blau eines Nachthimmels. Blickst du je in den Himmel hinauf und fragst dich, ob wir dieselben Sterne sehen? Zeit und Reisen erlauben solche Überlegungen.
Die Farben verschwanden, und der herrliche göttliche Morgenstern stieg in einen leuchtend blauen Himmel auf.
Nichts ist von Dauer. Das habe ich nun begriffen.
Deine Jo