Er ist da, als ich zum Haus meiner Eltern zurückkehre. Sitzt dort auf der Treppenstufe mit einer hölzernen Kiste zu seinen Füßen und dem Hut auf den Knien.
»Theo!«, kreische ich und renne auf ihn zu. »Du bist hier.«
Theo bleibt sitzen. Sein Lächeln ist breit, doch er schüttelt den Kopf und zeigt auf das Fenster über ihm. Es ist eine Art Warnung. Ich blicke an meinem Elternhaus empor – schmal, fünf Stockwerke hoch, viele Fenster. Mama wird uns beobachten und von mir erwarten, dass ich mich mit Bonger’schem Anstand benehme.
Ich strecke ihm die Hand hin, und Theo führt sie an die Lippen, als er sich erhebt. Fast traue ich mich nicht zu blinzeln – aus Angst, er könnte verschwinden. Die Sonne brennt auf ihn herab, und ich bin mir sicher, ihm ist heiß unter seinen vielen Lagen an Überkleidung.
»Ich habe deinen Brief bekommen«, sagt er. »Und ich dachte, ich antworte persönlich. Stelle diese hier eigenhändig zu.« Er deutet auf die Kiste.
»Für mich?« Theo nickt und nimmt wieder Platz. Ich zittere unter meiner Turnüre. Ich kann nicht fassen, dass er wirklich hier ist. Neugierig beuge ich mich über die Kiste: verschiedene Farbtuben, einige Meter Leinwand, Pinsel, eine Palette und, natürlich, ein Spachtel. Ich muss mich auf der Stufe abstützen: Hitze, der Schock, das Gefühl plötzlich aufwallender Liebe.
»Eine Künstlerin braucht schließlich ihr Werkzeug«, sagt er.
Ich kann mich kaum beherrschen, nicht die Arme um ihn zu schlingen. »Danke«, murmele ich, völlig überwältigt. Ich werde entweder gleich losschluchzen oder hysterisch lachen.
»Deine Mutter war absolut bezaubernd.« Er lächelt. Oh Gott. Ich bin nach meiner Begegnung mit Dr. Janssens Schwester nicht gleich nach Hause geeilt, sondern hatte das Gefühl, ein wenig Zeit allein zu brauchen, um nachzudenken.
»So sehr, dass du lieber hier draußen in der Hitze sitzt?«
»Habe ein bisschen frische Luft gebraucht und wollte die Aussicht genießen.« Er deutet auf das neue Rijksmuseum. »Vielleicht zeigen sie dort eines Tages mal einen van Gogh.«
Es ist keine Woche her, seit ich Theo das letzte Mal gesehen habe, aber seine Erscheinung beeindruckt mich immer noch: diese Alabasterhaut, die Sommersprossen auf dem langen Nasenrücken, seine perfekten Lippen. Ich starre ihn an. Als er hüstelnd meine Aufmerksamkeit auf sich lenkt, werde ich rot.
»Hast du schon von Dr. Janssens Tod gehört?« Ich schiebe meine holländische Turnüre beiseite, um ebenfalls auf der Treppe Platz nehmen zu können, mit angemessenem Abstand natürlich.
»Bis ins kleinste Detail, dank Mama Bonger.« Er beugt sich herüber und stupst mich neckend mit dem Ellbogen an.
»Ich hatte vor, dir später noch zu schreiben.« Ich flüstere, denn ich bin sicher, meine Mutter versucht von einem der offenen Fenster, uns zu belauschen.
»Sie ist sehr wütend, dass ihre Pläne durchkreuzt wurden. Weiß gar nicht, was sie als Nächstes tun soll, wo du doch so ein hässliches Kind bist.«
Ich schüttele den Kopf. »Hat sie geweint?«, frage ich und Theo nickt.
»Unkontrollierbar geschluchzt.« Seine Mundwinkel zucken beim Versuch, nicht zu lächeln. »Ihre Tochter ist ein absolut hoffnungsloser Fall , und sie ist überzeugt davon, dass kein Mann je in der Lage wäre, mit deiner schwierigen Art zurechtzukommen.«
»Es tut mir leid.« Ich wünschte, die Treppe würde sich zwischen uns auftun und mich verschlucken.
»Und sie wollte wissen, ob ich dich je Pariser Wasser habe trinken sehen.«
Er wartet auf eine Erklärung, doch ich kann bloß mit den Schultern zucken. Ich habe schon Schlimmeres gehört. Gestern Abend gab meine Mutter dem Teufel, Pas schlechtem Blut und einer fremdländischen Krankheit die Schuld an meinem abscheulichen Charakter, und zwar alles in einem einzigen geheulten Satz. Mein Ziel ist momentan, ihr so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen.
»Niemand verlangt, dass ich perfekt bin, oder?«, will ich wissen.
»Mir ist lieber, du bist echt.«
Theo sieht mich mit einem Blick an, den ich nicht richtig einordnen kann. Auf einmal wird mir bang, und ich stehe ein bisschen zu schnell auf.
»Bist du mit schlechten Nachrichten wegen Clara gekommen?« Ich schwanke ein wenig.
Theo schüttelt den Kopf und streckt die Hand aus, um mir Halt zu geben. »Nein, überhaupt nicht. Sie ist bereits fieberfrei, und der Arzt ist sehr zufrieden mit ihrer schnellen Genesung.«
Erleichterung. Heute ist wirklich ein seltsamer Tag.
»Ich bin so schnell wie möglich hergekommen, um die Frau, die ich liebe, davon abzuhalten, den falschen Mann zu heiraten«, sagt Theo.
»Oh, deine Rettung kommt ein bisschen zu spät …«
Theo lacht. Damit hatte ich nicht gerechnet. Doch sein Lachen ist ansteckend, und ich muss unweigerlich kichern. Er nimmt meine Hand.
Ich schüttele den Kopf. »Mama wird uns sehen.« Ich spähe zu jedem Fenster hinauf auf der Suche nach ihrem missbilligenden Gesicht.
»Ich habe mit Dries gesprochen«, sagt er. »Wir holen dich nach Paris zurück.«
August 1888
Statt zu schlafen, habe ich Anna Karenina fertig gelesen, und es hat einen wahren Gefühlssturm in mir geweckt. Ich empfinde solches Mitleid mit der armen Anna, dass ich sie nicht kritisieren will. Stattdessen denke ich, dass es mich weitergebracht hat, solch ein kostbares Buch zu verschlingen. Was für eine tiefe Wahrheit es doch enthält!
Ich bin sicher, dass die Lektüre mich darauf vorbereitet hat, meine Empfindungen in Zukunft genauer zu untersuchen. Und mich selbst für jede Entscheidung, die ich fälle, zur Rechenschaft zu ziehen. Ich werde sogar innehalten und nachspüren, wie sich jede Regung anfühlt. Vielleicht hilft mir dieses Verständnis meiner selbst dabei, herauszufinden, was meine Traurigkeit auslöst, meine Hitzköpfigkeit und auch mein Glücklichsein. Vielleicht kann ich mit diesem Bewusstsein sogar die flüchtigen Momente der Zufriedenheit festhalten, die immer so schnell vergehen.
Wie gerade jetzt, wo ich zu aufgewühlt bin, um zu schlafen. Meine Wangen schmerzen vom Lächeln. Was diese Freude hervorgerufen hat? Ein ausgesprochenes Versprechen von Freiheit und Glück.
Zu schlafen ist völlig ausgeschlossen. Immer wieder muss ich daran denken, dass Theo angereist ist, nur um zu verhindern, dass ich ein Schwein heirate. Würden Camille oder Agostina meine Dankbarkeit verstehen? Theos Auftauchen hier hat Mama dazu veranlasst, zu verkünden – ehe dieses Thema überhaupt auf den Tisch kam –, dass es sich nach Dr. Janssens plötzlichem Tod nicht schicken würde, eine neue Verlobung vor dem Winter bekannt zu geben.
Mama kümmert sich zu viel darum, was andere von ihr denken, aber ich bin so froh, dass mein Bruder meine Rückkehr nach Paris für nächste Woche herausgehandelt hat, und dass zumindest vorerst keine weiteren Verehrer in Erwägung gezogen werden.
Irgendwie kann ich selbst nicht glauben, dass diese Worte der Wahrheit entsprechen. Man hat mir Zeit geschenkt, um Theo richtig kennenzulernen, bevor wir uns für den Rest unseres Lebens miteinander verbinden. Seine tiefe Leidenschaft macht die Vorstellung lächerlich, dass ich je in diesen Eduard Stumpff verliebt war.