14 . Oktober 1888
Arles
Liebe Johanna,
Nachdem mein Bruder mir versichert hat, dass Du diesen Brief empfangen wirst, möchte ich mich auf diesem Weg endlich bei Dir entschuldigen: Es tut mir wirklich sehr leid. In seinen Briefen erwähnt Theo Dich oft, und eigentlich will ich Dir schon seit einem Monat schreiben. Wie glücklich Theo sein wird – eine neue Sonne wird in ihm aufgehen, wenn er herausfindet, dass wir beide wieder Freunde sind.
Hier in Arles ist das Wetter heute Morgen wieder milder. Der Himmel zeigte sich seit meiner Ankunft in einem harten Blau mit viel greller Sonne. Heute blies der Wind kalt und trocken, sodass ich überall Gänsehaut bekam. Es gibt sehr viel Schönheit, sehr vieles, was meine Kunst inspiriert: eine halb verfallene Abtei oben auf einem Hügel, Kiefern, die den Himmel berühren, graue Olivenbäume, denen ich vorher noch nie Beachtung geschenkt hatte. Ich freue mich auf meine täglichen Spaziergänge und darauf, jedes Mal etwas Neues zu entdecken.
Wusstest Du, dass Gauguin hier bei mir wohnt? Theo hat dir das bestimmt erzählt. Ich erinnere mich, dass Dir Gauguins Arbeiten gefallen haben. Der arme Mann behauptet allerdings, krank zu sein, und hat sich ins Bett zurückgezogen. Die Erschöpfung überkommt ihn täglich aufs Neue, und ihm fehlt selbst für die einfachsten Tätigkeiten die nötige Energie. Er ist pleite und hofft verzweifelt, dass Theo eines seiner vielen Werke verkauft. Durch die Krankheit und Müdigkeit steht er noch mehr unter Druck, Geld für seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er hat deshalb beschlossen, den Preis für seine Bilder noch weiter zu senken, was Dich interessieren könnte, wenn Dir sein Stil zusagt.
Was meine Kunst betrifft, so habe ich erfreut festgestellt, dass ich so ziemlich alle Materialien, die ich brauche, hier fast zum selben Preis wie in Paris bekomme. In letzter Zeit habe ich einen Perspektivrahmen benutzt. Du wirst das natürlich als ein Hilfsmittel der alten deutschen und italienischen Maler kennen, aber moderne Künstler werden ihn anders einsetzen. Es wird nicht lange dauern, bis mehr und mehr Künstler ihn nutzen. Oder vielleicht muss ich ihn auch deshalb anders verwenden, weil ich mit Öl male. Diese neuen Studien mit dem Rahmen begeistern mich. Ich würde es Dir gerne ausführlicher erklären, wenn es dich interessiert.
Hier in Arles sehe ich so viel Neues. Ich lerne eine Menge über mich selbst und über andere. Und im Gegenzug begegnet man mir mit unerwarteter Freundlichkeit. Ich fühle mich gesünder und stärker als jemals in Paris. Die Abstinenz bekommt mir. In diesem neuen Zustand sorge ich mich um die aktuelle Pariser Generation von Künstlern und ihre ungesunden Körper.
Vielleicht, wenn ich noch andere aus Paris in dieses Gelbe Haus einladen könnte, wäre es mir möglich, eine neue Generation glücklicherer und gesünderer Künstler zu inspirieren. An manchen Tagen träume ich sogar davon, eine Zweitwohnung einzurichten, in die Erschöpfte und Geknechtete flüchten könnten, um Heilung zu finden. Ein Ort der Ruhe auf dem Land für meine vernachlässigten Freunde.
An anderen Tagen bin ich schrecklich wütend auf mich selbst, wenn ich es für akzeptabel halte, selbst weniger krank oder weniger berauscht zu sein als andere Künstler. Hier kann mein Körper atmen und leben, aber er leidet auch unter der Reue, die mich oft heimsucht. Meine Geringschätzung Dir gegenüber war unverzeihlich, und doch suche ich Dein Mitgefühl.
Ich werde nicht mehr schreiben, denn ich bin mir weiterhin unsicher, ob Du meine Korrespondenz wünschst. Vielleicht könntest Du mir durch Theo eine Antwort zukommen lassen.
Tout à toi
Vincent