Etwas außer Atem und blass stehe ich neben meinem Bruder im Flur seines Appartements. Veilchenduft erfüllt die Luft, und irgendwo im Hintergrund singt Anaïs »Weihnachtsglocken«. Ich rannte sofort aus meinem Schlafzimmer, als Andries nach mir rief. Es klang dringend. Theo ist hier. Er ist völlig vom Regen durchnässt, das Wasser tropft an ihm herab auf den Fliesenboden. Ganz still und stumm steht er mit flehendem Blick da. Er wirkt kleiner und irgendwie verloren. In seiner zitternden Hand hält er ein Blatt Papier. Ich ahne Schlimmes.
»Ist etwas mit Clara?«, frage ich.
Keine Antwort.
»Was ist denn passiert?«, drängt Andries. Er geht auf Theo zu und nimmt ihm das Papier aus der Hand. Ich sehe, wie er liest, dann reicht er mir den Brief weiter. Niemand sagt etwas. Theo sieht mich unverwandt an.
Ich betrachte den Zettel. Es handelt sich um ein Telegramm mit dem heutigen Datum, dem 24 . Dezember.
Von: Paul Gauguin
An: Monsieur Theo van Gogh
Sofort kommen. Vincent heute ins Krankenhaus eingeliefert. Notfall.
»Ist er krank?«, will ich wissen.
»Ein Unfall?«, fragt Andries.
»Ich weiß auch nicht mehr als ihr.« Theo befeuchtet sich mit der Zunge die Lippen und reibt seinen Hals. »Ich werde noch heute Nachmittag den Zug nach Arles nehmen.«
»Kann ich dir ein Glas Wasser bringen?«, frage ich, doch er schüttelt den Kopf.
»Keine Zeit. Muss sofort los. Meine Leute in der Galerie kümmern sich um die letzten Reisedetails, und ich muss noch meinen Koffer packen. Unser erstes gemeinsames Weihnachtsessen muss leider ausfallen.«
»Mach dir deswegen keine Gedanken«, beruhige ich ihn. »Sinterklaas war doch schon vor Wochen da. Los, fahr zu deinem Bruder und melde dich, sobald du mehr weißt.«
»Gauguin würde nur ein Telegramm schicken, wenn es wirklich ernst ist«, sagt Andries. Ich gebe ihm einen Klaps auf den Arm. »Was denn?«, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen.
Ich funkele ihn an. »Das war ohnehin klar, liebster Bruder.« Dann wende ich meine Aufmerksamkeit wieder Theo zu. »Möchtest du unsere Verlobung verschieben?«
»Lass uns erst mal erfahren, was eigentlich passiert ist«, antwortet Theo. Er nimmt das Telegramm aus meiner Hand, küsst mich auf die Wange und setzt dann seinen Hut auf, um zu gehen.
»Möchtest du, dass ich dich begleite?« Theo dreht sich zu mir um.
Er schüttelt den Kopf, ohne mir dabei in die Augen zu sehen. »Ich glaube, es ist am besten, wenn du hierbleibst.«
»Was immer ist, ich werde dich unterstützen.«
»Ich weiß nicht, was mich dort erwartet«, seufzt Theo. »Und ich weiß auch nicht, wann ich zurück sein werde. Das kommt auf … die Umstände an.«
»Er wird gestern unsere Verlobungsanzeige und deine Nachricht erhalten haben.« Meine Worte sind kaum lauter als ein Flüstern, und trotzdem kann ich das Zittern in meiner Stimme nicht verbergen. Theo hört es. Er nickt.
1 . Weihnachtsfeiertag 1888
Paris
Liebster Theo,
ein kurzer Brief, um Dir schöne Weihnachten zu wünschen, mich bei Dir zu melden und Dich wissen zu lassen, dass meine Gedanken Dich auf Deiner Reise zu Theo die ganze Zeit begleitet haben. Ich kann an nichts anderes denken als daran, was Dich bei Deiner Ankunft wohl erwartet hat. Ich habe Angst, dass es etwas Schreckliches ist: dass Dein Bruder vielleicht nicht mehr unter uns weilt.
Bitte vergiss nicht, dass wir einander helfen werden, was auch immer sich uns in den Weg stellt. Gemeinsam sind wir stark. Sag mir, was Du brauchst, und erlaube mir, Dich auf jede mir mögliche Weise zu unterstützen.
Bitte richte Vincent meine besten Grüße aus. Ich hoffe einfach, Du weißt, dass ich ihm nie Krankheit oder etwas Böses wünschen würde.
Alles Gute Dir, bitte schreib mir bald.
Deine Jo
28 . Dezember 1888
Arles
Liebste Johanna,
ich muss Dir hoffentlich nicht sagen, wie viel ich die letzten Tage an Dich gedacht habe. Die Gedanken an Dich waren wie ein Licht in dieser Dunkelheit, die mich hier in Arles erwartet hat. Seit meiner Ankunft verbringe ich die Tage in pausenloser Angst, dass mein Bruder den Kampf um sein Leben verlieren wird.
Es gibt so viel zu berichten, so viel, das ich mit Dir teilen will und muss, doch ich kann das Schreckliche, das ich hier miterlebt habe, nicht zu Papier bringen. Ich bin verzweifelt.
Denn mir ist klar geworden, wie sehr mein Bruder ein Teil von mir ist. Wenn er nicht länger in meinem Leben wäre, würde dadurch eine Leere entstehen, die niemand sonst füllen könnte. Ich meine das nicht als Beleidigung gegen Dich, meine liebste Johanna, aber genau wie Du Dir vermutlich kein Leben ohne Andries vorstellen kannst, sehe ich keine Zukunft ohne meinen Bruder an der Seite.
Jetzt, wo Vincent mit hohem Fieber und Zeichen von geistiger Umnachtung im Krankenhaus liegt, denke ich darüber nach, was ich von Dir brauche. Mein Wunsch, wenn ich es wagen darf, ihn zu äußern, wäre, dass auch er Teil unserer Zukunft sein wird. Dass Ihr wieder Freunde werdet, Du und er. Mein Bruder hat Momente der Klarheit: Er leidet, er kämpft. Seine Qualen liegen so tief in ihm, und ich bringe es nicht über mich, zu beschreiben, wie er sich verstümmelt hat. Wenn er nur jemanden zum Reden gehabt hätte, jemanden, dem er seine dunklen Gedanken und seine Verzweiflung hätte anvertrauen können.
Deine Art, mich anzusehen, und unser Versprechen, gegenseitig das Beste aus uns herauszuholen, unsere tiefsten Bedürfnisse zu erfüllen, machen mich zuversichtlich auf meinem Weg. Zuversichtlich und hoffnungsvoll. Hätten wir diese Zuversicht mit Vincent nicht geteilt, hätten wir ihn nicht in unser Glück hineingezogen, hätte er sich dann dasselbe angetan?
Ich habe ihn im Stich gelassen.
In den kommenden paar Tagen wird die Entscheidung über eine Verlegung gefällt, vielleicht in eine besondere Einrichtung. Deine Liebe ist mein helles Licht in diesem Sturm.
Dein Dich liebender Theo
29 . Dezember 1888
Paris
Mein liebster Theo,
gerade eben habe ich Deinen Brief erhalten. Seit Deiner Abreise bete ich, dass Vincent noch lebt – Gott sei Dank ist das der Fall.
Ich habe versucht, zwischen den Zeilen zu lesen, doch ich kann mir keine Vorstellung davon machen, wie Vincent sich verletzt haben könnte. Ich bin froh, dass Du Momente der Klarheit erwähnst – sowohl Dries als auch ich hoffen sehr, dass Vincent sich wieder vollständig erholt. Natürlich werde ich Dir auf seinem Weg der Genesung helfen. Ich will Euch beide unterstützen.
Ich wünsche mir so sehr, jetzt bei Dir zu sein – Dir Trost zu spenden, aber auch mit Vincent zu sprechen. Ich hätte freundlicher zu ihm sein sollen, Theo.
Wie können wir je wirklich wissen, wie der andere leidet? Wie viele stumme, gequälte Seelen verbergen sich in den dunkleren Ecken unserer Gesellschaft?
Bitte schreib mir weiterhin und teile das Erlebte mit mir, damit ich Dich aus der Ferne unterstützen kann. Heute habe ich beschlossen, haushalten zu lernen, für die Zeit, wenn wir irgendwann zusammenwohnen. Doch selbst das zu schreiben kommt mir zu trivial vor, wenn ich so wenig über Vincents Zustand weiß.
Ich wünsche mir sehr, bald wieder von Dir zu hören. Alles Gute für Deinen Bruder.
Deine Dich liebende Jo
31 . Dezember 1888
Arles
Liebste Johanna,
eine schnelle Nachricht, um Dir für Deinen Brief zu danken, für Dein aufrichtiges Hilfsangebot und um Dich wissen zu lassen, dass Du in meinen Gedanken weilst.
Der Zustand hier bleibt besorgniserregend.
Sie reden immer noch davon, wie und wann Vincent in eine Einrichtung verlegt werden kann, und jeden Morgen fürchte ich die Nachricht, er könne in der Nacht verstorben sein. Bin hin- und hergerissen zwischen stechendem Verlust und Erleichterung, dass mein Bruder vielleicht nicht mehr leiden muss. Gleichzeitig weiß ich, dass es mir das Herz brechen würde, meinen Bruder zu verlieren. Auch wenn ich zugeben muss, dass das Leben, das ich für uns vorschlage, nicht ohne Sorge sein wird, so werde ich doch in diesen Stürmen immer nach dem Licht suchen.
Mir läuft die Zeit davon, da ich gleich eine weitere Unterredung mit seinem Arzt habe, doch ich freue mich auf das neue Jahr – das Jahr, in dem Du meine Frau wirst.
Dein Dich liebender Theo