Blick auf Paris

Die Aufzüge sind noch nicht fertiggestellt, aber Gustave Eiffel und einige unerschrockene Begleiter erklimmen soeben die 1710 Stufen bis zur Turmspitze. Monsieur Eiffel begann seinen Aufstieg unter lautem Beifall, mit einer riesigen Trikolore unterm Arm, die ganz oben vom Mast wehen soll. Wenn sie die französische Nationalflagge ausrollen, werden einundzwanzig Schuss Salut geschossen und Geschichte geschrieben. Nun warten wir aber erst einmal alle unten am Boden mit wehenden Mänteln und legen den Kopf in den Nacken, um die schwarzen Gestalten zu verfolgen. Das Champ de Mars ist ein Windkanal, aber niemand beschwert sich.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass Theo diese Einladung ausgeschlagen hat«, sagt Andries, der mit weit aufgerissenen Augen die vielen anderen Gäste und Hunderte von Arbeitern betrachtet, die am Fuß des Turmes warten.

Mein zukünftiger Ehemann hat tatsächlich zwei Eintrittskarten zur offiziellen Einweihungsfeier des Eiffelturms bekommen. Die Karten wurden vor allem an berühmte Persönlichkeiten verteilt, und Edgar Degas, der dieses monströse Bauwerk nicht unterstützen wollte, hatte seine an Theo verschenkt. Andries ist völlig aus dem Häuschen. Er hüpft fast auf der Stelle vor Aufregung. Ich glaube, er hat in den vergangenen zehn Minuten mehr Fotografien gemacht als in der ganzen Zeit seit Baubeginn vor zwei Jahren, zwei Monaten und drei Tagen.

»Sieh nur, dort!« Andries bewegt seine Kamera nach rechts. Sekunden später kurbelt er schon weiter. »Hast du gesehen? Premierminister Pierre Tirard.« Ich schüttele den Kopf. »Dreihundertdreißig Meter hoch. Ein Eisengerüst, das auf vier gemauerten Pfeilern ruht. Aufzüge, die in einer Kurve an den Pfeilern hinauffahren werden.« Er zeigt mit der Kamera in Richtung des Turms, während er voller Bewunderung und Ehrfurcht Fakten und Zahlen auflistet. »Jede Plattform mit einer Aussichtsterrasse, auf drei Ebenen. Ein skelettartiges Stützgerüst mit Kupferüberzug. Magnifique .« Beim Wort »magnifique « bringt er Zeigefinger und Daumen seiner rechten Hand zusammen und führt sie an die Lippen. Nachdem er sie leicht geküsst hat, wirft er die Hand in die Luft. Mein Bruder ist heute ganz aus dem Häuschen vor Freude.

»Und wenn man sich vorstellt, dass er für die breite Öffentlichkeit erst im Mai eröffnet wird«, sage ich. »Du aber vor allen anderen hinaufsteigen wirst.«

»Ich kann Theo gar nicht genug danken.« Andries zieht mich an sich und schubst dabei meine Haube zu Boden.

»Ich hingegen kann nicht behaupten, dass mich die 1710 Stufen mit Begeisterung erfüllen.« Während ich mich nach meinem Hut bücke, lege ich den Kopf in den Nacken, um zur Turmspitze hinaufblicken zu können. »In diesem Rock.«

Andries lacht. »Unser letztes Abenteuer, bevor du heiratest, und außerdem wird Geschichte geschrieben.« Er richtet seine Kamera auf die Menge.

»Seht nur, da oben!«, ruft jemand. Auf der Spitze wird die Flagge gehisst, und die Böllerschüsse beginnen.

Ganz steif und stolz stehen wir alle da und imitieren so unbewusst das an einen Phallus erinnernde Bauwerk.

»Keine Frau hätte so etwas je entworfen«, sage ich, doch meine Worte gehen im Jubel unter.

Heute ist Paris majestätisch, mit diesem imposanten, aber ehrlichen Turm. Und in diesem Moment erkenne ich, wie beide zusammengehören. Das hässlichste Bauwerk von Paris ist gleichzeitig Kunst und männlich. Es hat etwas zu sagen. Es zelebriert die Hundertjahrfeier der Französischen Revolution, es schreit das industrielle Können Frankreichs in die Welt hinaus, es zeugt von männlicher Expertise. Frankreichs Frauen sind irrelevant, und Eiffels Turm entschuldigt sich dafür nicht.

Auf der zweiten Plattform wird ein Feuerwerk gezündet, und die geladenen Gäste applaudieren und jubeln. Andries hüpft auf der Stelle. Er ist ein kleiner Junge im Körper eines Mannes, erfüllt von Freude und Staunen.

April 1889

Wir bekamen heute ein Teeservice vom Ehepaar Hove geschenkt. Ich fragte mich sofort, wo in unserer neuen Wohnung es wohl seinen Platz finden würde.

In letzter Zeit erkenne ich mich selbst kaum wieder.

Ich bin so begeistert von unseren Gesprächen über Möbel und die Einrichtung unserer Zimmer: Ob es im Esszimmer nun einen Schrank oder ein modernes Buffet geben soll. Ob im kleinen Zimmer am besten erst mal nur Schränke aufgestellt werden sollen oder wir es für Gäste herrichten. Und so weiter und so weiter. Wir haben über Stoff für Vorhänge gesprochen, über Tapeten, Farben, Parkettfußböden – und ich genieße jede Unterhaltung zum Bau unseres Nests. Ich bin immer noch nicht dort gewesen, werde es erst nach unserer Hochzeit sehen, aber dass Theo über dieses Geschenk für mich so begeistert ist – wie kann es sein, dass ich ein solches Glück habe?

Und seit wann habe ich eine Meinung zu häuslichen Dingen? Haben die vielen Unterrichtsstunden bei Madame Sethe die letzten Wochen über mein gesamtes Wesen verändert? Freue ich mich womöglich darauf, Ehefrau zu werden?

Es gibt immer noch so viel, das wir in Bezug auf Vincents Gesundheit besprechen müssen, aber ich lenke mich zunehmend mit hausfraulichen Themen ab: Ganz unerwartet verleihen mir diese Einschränkungen Kraft. Vielleicht suche ich Zerstreuung von den schlimmen Dingen, die uns belasten, um bewusst im Hier und Jetzt zu leben, um glücklich zu bleiben mit dem, was ist. Doch mein Beinahe-Schwager ist immer in unseren Gedanken. Dass er immer noch zu krank ist, um unserer Hochzeit beizuwohnen, bleibt unausgesprochen.

Morgen reise ich nach Amsterdam, wo ich dann nicht länger Johanna Bonger sein werde – diese Person wird ausgelöscht und ersetzt. Mademoiselle Bonger wird es nicht mehr geben.

Zehn Monate nachdem ich Theo und Vincent kennengelernt habe, werde ich bereits Madame van Gogh sein.

Eine letzte Überraschung von meinem Verlobten – Clara geht es gut. Sie kehrt nach Paris zurück.

Eheschließung

Mademoiselle Johanna Gezina Bonger, aus Amsterdam,
und Monsieur Theodorus van Gogh, aus Paris,
wurden am 17 . April 1889 getraut.
Einige Familienmitglieder beider Parteien waren anwesend,
ebenso einige Bekannte. Man wünschte dem frisch vermählten Paar viel Glück und alles Gute.