Juni 1889
Vincent ist immer noch in Saint-Rémy. Sein heutiger Brief enthielt Einzelheiten über die Heilanstalt und hatte wohl den Zweck, Theo zu beruhigen. Vincent schreibt täglich seitenlange Auflistungen von Kosten und Dingen, die er benötigt, immer in fester Erwartung, dass sein Bruder zahlen wird, und Theo seinerseits begrüßt jede Gelegenheit, mit Vincent in Verbindung zu bleiben.
Abgesehen vom Chaos seines Bruders, haben mein Mann und ich bereits Routinen entwickelt, die uns beiden entgegenkommen.
Wir stehen um acht Uhr auf, und Theo stellt dann gleich das Gas an und setzt Wasser auf. Bis unser Tee fertig ist, sind wir beide angekleidet. Theo verlässt die Wohnung jeden Morgen gegen neun, und Madame Joseph kommt um zehn. Wir beschäftigen sie fünf Stunden täglich, und sie ist mir eine große Hilfe. Ich lerne sehr viel. Sie macht unser Bett, fegt und bereitet das Mittagessen zu, ehe sie wieder geht. An manchen Tagen kommt sie nachmittags noch einmal zurück, um beim Kochen zu helfen – das scheint in letzter Zeit häufiger der Fall zu sein und hat vielleicht damit zu tun, dass Theo sich genießbares Essen wünscht! Den Abwasch unserer Teller und Töpfe lassen wir bereits jetzt bis zum nächsten Tag stehen.
Denn, ja, Madame Joseph hilft, aber es gibt immer noch so viel zu tun. Unsere Wohnung ist gemütlich, aber gleichzeitig so vollgestellt mit Zierrat und viel zu vielen Kleinigkeiten, die poliert und abgestaubt werden müssen. Ich verstehe, weshalb Bekannte spotteten, als ich sagte, dass keine Angestellten bei uns wohnen würden, doch diese Entscheidung fühlt sich immer noch richtig an. Außerdem berät und hilft mir Clara gern. Ich kann immer noch nicht fassen, dass sie zurück in Paris ist. Sie liebt die Unterkunft, die Theo für sie organisiert hat, und sie sieht besser aus denn je. Sie besucht uns täglich – vielleicht hat sie das Gefühl, sie müsse Hilfe bei der Hausarbeit anbieten für all das, was Theo für sie getan hat.
Aber ich genieße es, allein einkaufen zu gehen, stumm in all dem Gedränge und Trubel der Menschen, Kutschen und Omnibusse. Ich liebe es, dass die Straßen hier leicht abwärts führen und ich bereits den besten und einfachsten Weg zurück kenne. Dass die Leute mir zunehmend zunicken und » Bonjour« sagen, wenn ich draußen unterwegs bin. Ist es seltsam, zuzugeben, dass ich es liebe, dass Brot und Milch vor unserer Tür abgestellt werden, und ich diejenige bin, die beides jeden Morgen hereinholt?
Aber vor allem … ist es egoistisch, dass ich einfach gerne die Zeit anhalten und noch ein Weilchen länger lernen würde, »wie man eine gute Ehefrau ist«? Ich habe mich noch nicht einmal daran gewöhnt, Madame van Gogh zu sein.
Ich ertrage den Gedanken nicht, dass jedes Gespräch sich darum drehen wird, was in mir heranwächst.
Wie um alles in der Welt soll ich je lernen, Mutter zu sein?
8 . Juni 1889
Paris
Liebster Schwager,
ich will Dir schon die ganze Zeit schreiben, denn mir ist bewusst, dass Dir seit unserer Hochzeit immer Theo meine Grüße ausgerichtet hat. Nun, da ich sozusagen Deine kleine Schwester bin, erscheint es mir wichtig, dass Du mich ein bisschen besser kennenlernst. Ich hoffe sogar, dass Du mich irgendwann so gernhast wie Deinen Bruder.
Sowohl Theo als auch ich waren sehr traurig, dass Du an unserem Hochzeitstag nicht bei uns sein konntest, aber wir leben jetzt schon seit sieben Wochen in unserem Appartement zusammen, und hier gibt es so vieles, was an Dich erinnert. Wenn Theo eine schöne Vase oder einen Krug hervorholt, kann ich fest davon ausgehen, dass Du derjenige warst, der ihm zu der Anschaffung geraten hat. Kein Tag vergeht, an dem Du nicht Teil unserer Gedanken oder Unterhaltungen bist.
Dass meine Mutter eingewilligt hat, die Hochzeit nicht in einer Kirche stattfinden zu lassen, und dass ich nicht ausgesprochen habe, was für eine Farce das gewesen wäre, hat dafür gesorgt, dass alles ohne Schwierigkeiten über die Bühne ging. Der Tag selbst war sonnig und schön, obwohl Theo und ich uns beide wünschten, er wäre rasch vorbei. Wir verbrachten auch nur eine Nacht in Brüssel, sozusagen als Hochzeitsreise. Ich freute mich so sehr auf unsere Rückkehr nach Paris und auf unsere neue Wohnung. Als besondere Überraschung hatte Dries alles noch heimeliger gemacht – mit Blumen in den Zimmern, gemachtem Bett etc.
Zu lesen, dass Dries hier ist, ruft in Dir vielleicht eine gewisse Traurigkeit hervor, deshalb folgt jetzt ein kleiner Rundgang, damit Du Dich auch schon als unser Gast fühlen kannst.
Man betritt die Siedlung durch eine Pforte in einem Zaun, der sie von der Straße trennt. Es gibt links und rechts Häuser, und unseres hat vorne einen kleinen Garten mit Bäumen und einigen Fliederbüschen, die wunderschön blühen. Beim Betreten des Gebäudes sieht man über sich die Pferde des Parthenon, die in den Torbogen geschnitzt sind. Wir wohnen im dritten Stock links. Wenn man die Tür öffnet, betritt man den Flur, der weiß und blau tapeziert ist, genau wie das kleine Nebenzimmer. Gehen wir zuerst in den Salon. Die Wände sind weiß mit einem grauen Blumenmuster. Die neue Chiffonnier-Kommode ist aus Rosenholz – quadratisch mit fünf Schubladen und einer herausklappbaren Platte zum Schreiben. Dort sitze ich gerade und schreibe Dir diesen Brief. Es gibt bereits eine Schublade, die wir »Vincent-Schublade« nennen: In ihr bewahren wir Deine Briefe auf. Deine vertrauten gelben Umschläge, die vertraute Handschrift – wir freuen uns immer auf Post von Dir. Das Klavier steht neben der Kommode: Ein Geschenk Eurer Tante Cornelie, und ich spiele gern, auch wenn ich nie sonderlich gut sein werde. Dieses Zimmer ist damit bereits ziemlich voll. Dazu noch Sessel und zwei kleine Teppiche. Aber wir mögen es. Das Parkett ist wirklich wunderschön. Neben dem Salon befindet sich das Esszimmer, das ebenfalls recht vollgestellt ist. Weder Theo noch ich sind mit der Anordnung bisher zufrieden. Natürlich findet Dries unsere Möbelstücke gewöhnlich und ist überhaupt nicht sehr beeindruckt von unserem neuen Heim, aber für Theo und mich reicht es. Das kleine Zimmer ist momentan voller Kleiderschränke. Wir hoffen, Dich eines Tages hier als Gast begrüßen zu dürfen, deshalb wartet dieser Raum noch auf seine Verwandlung in einen Ort für den großen Vincent van Gogh.
Dein Blühender Birnbaum hängt in unserem Schlafzimmer. Es ist das Erste, was ich beim Aufwachen sehe, und bringt mich jedes Mal zum Lächeln. Überm Klavier hängt Die Ernte, und im kleinen Zimmer La Berceuse. Die Kartoffelesser im Esszimmer über dem Kamin. Wir veranstalten für jeden Besucher unsere eigene Vincent-van-Gogh-Ausstellung. Ich liebe es, zu beobachten, mit welcher Ehrfurcht, welchem Staunen und welchen eindeutigen Reaktionen andere Deine Bilder zum ersten Mal betrachten.
Heute ist Sonntag und Theo den ganzen Tag zu Hause. Ich habe Heine gelesen und glaube, noch nie auf einen solch tiefgründigen Autor getroffen zu sein, doch gleichzeitig raubt er mir den inneren Frieden. Meine Gedanken weigern sich, zur Ruhe zu kommen, nachdem ich Zeit mit ihm verbracht habe. Er hat ganz eindeutig sehr gelitten, und das erinnert mich wieder an die vielen gequälten Seelen auf unserer Welt. Manchmal ist mein einziger Wunsch, sie alle in die Arme schließen zu können.
Falls Du nun jedoch den Eindruck gewinnst, dass ich zu sehr versuche, löblich zu wirken, lass Dir versichern, dass meine Fähigkeiten als Hausfrau noch sehr zu wünschen übrig lassen. Der Reis ist diese Woche bereits zweimal angebrannt, unsere Pflaumen einmal. Der arme Theo isst trotzdem alles und versucht zu verbergen, wie scheußlich es schmeckt! Ich bin sicher, er beschäftigt unsere Magd, Madame Joseph, für zusätzliche Stunden in der Hoffnung, dass ich ihr das Kochen überlasse.
Aber wir kommen sehr gut miteinander aus. Ich liebe ihn mehr, als ich es mir je hätte vorstellen können.
Hoffentlich haben meine Ausführungen Dich nicht gelangweilt, lieber Vincent. Ich bin sicher, meine Fähigkeiten beim Briefeschreiben werden sich mit der Zeit verbessern. Ich sende Dir liebe Grüße.
Deine kleine Schwester
Jo
Juli 1889
Mein Ehemann hat einen Ausschlag. Kleine rotbraune Erhebungen zieren seine Handflächen.
Ich habe keinen Ausschlag. Dafür Fieber, immerwährende Kopfschmerzen, Müdigkeit und Appetitlosigkeit. Ich habe mit Theo bisher nicht über meinen Zustand gesprochen, und er hat nicht verlangt, dass ich medizinische Hilfe in Anspruch nehme.
Als ich Clara vorhin vom Ausschlag erzählte, wusste sie bereits Bescheid. Sie sagte sogar, dass Theo deswegen in Behandlung sei. Angeblich hat der Arzt versprochen, mein Mann könne vollständig geheilt werden, wenn er drei Jahre lang die Behandlung mit Quecksilbersalbe über sich ergehen ließe. Sie sprach davon, dass Theo und ich trotzdem gesunde Kinder haben könnten. Theo hatte sich Clara anvertraut – die beiden sind inzwischen gute Freunde –, aber vor mir versteckt mein Mann seine Scham.
So erklärt sie mir nun, sozusagen aus zweiter Hand, dass man uns drei Jahre Freiheit schenke, drei Jahre, ehe wir ein Kind in die Welt setzen wollen.
Das Problem ist nur, dass ich bereits ein Kind erwarte.
In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken vor lauter Möglichkeiten und Problemen.
Wie kann ich meinem Mann sagen, dass die Krankheit, die er in sich trägt, bereits auf sein Kind übergegangen sein könnte?