HERBST 1889
Paris

Bildnis einer Frau
mit rotem Haarband

Es war Rodin, der Theo den Rat gab, ich solle während der Schwangerschaft regelmäßig langsame Spaziergänge unternehmen. Rose, die Mutter seines einzigen Sohnes, hatte eine unkomplizierte Schwangerschaft und Entbindung gehabt, was Rodin ihrer täglichen Bewegung zuschrieb. Als Theo mir diesen Ratschlag überbrachte, konnte ich nicht anders, als nach Camille zu fragen.

»Ihr Weg führt auf die Nervenheilanstalt zu«, antwortete er, was mich hilflos schluchzen ließ, bis Theo versprach, eine Möglichkeit zu finden, ihr zu helfen.

Theo kommt immer noch jeden Tag in der Mittagspause von Boussod, Valadon & Cie nach Hause, doch statt zu essen, spazieren wir durch Montmartre. Ich bin nicht sicher, wer genau dafür verantwortlich ist, dass ich mich momentan ernähre wie ein Pferd: hauptsächlich von Grünfutter und Wasser, aber wenn man mir jetzt eine Karotte vor die Nase halten würde, würde ich vermutlich einen fiacre hinter mir herziehen. Das viele Obst und Gemüse hält mich gesund und munter, aber nun, da meine Morgenübelkeit vorbei ist, habe ich Heißhunger auf deftige Gerichte und ungewöhnliche Speisen. Der arme Theo hört sich meine Beschwerden an, seit wir in die Rue Lepic eingebogen sind, und jetzt auf dem Boulevard de Clichy kann ich mein eigenes Gewieher schon nicht mehr hören. Mein Mann hat sich dieselben Ernährungsbeschränkungen auferlegt, beklagt sich aber mit keinem einzigen Wort.

»Noch zwei Tage, bis deine Zeit des Ruhens beginnt«, wechselt Theo das Thema.

»Ich werde unsere Mittagsspaziergänge vermissen.«

»Und diese Aussicht«, ergänzt er und breitet theatralisch die Arme aus. Zuerst will ich ihn schelten, doch dann bleibe ich ebenfalls stehen. »Speichere die Gerüche und Geräusche tief in deinem Gedächtnis, Johanna.«

Ich lache. »Wie du das sagst, klingt es, als würde ich eingesperrt werden.«

»Es wird Monate dauern, bevor du wieder an die frische Luft darfst

Ich beobachte eine Weile das bunte Treiben auf dieser belebten Straße. Peitschenknallen und Kutscherrufe. Männer und Frauen machen einen Bogen um Fiaker, Omnibusse und Pferdeäpfel, andere unterhalten sich in Türeingängen oder kommen lachend aus Kabaretts gestolpert. Ihre Freude, das Pariser Vergnügen, ist ansteckend.

»All das werde ich vermissen«, sage ich und lächele die Passanten an.

»Du wirst Zeit zum Malen haben.«

Das Klippklapp von Hufen erfüllt die Luft.

Ich schüttele den Kopf. »Deine Frau zu sein und dieses Kind zu bekommen, hat alles verändert.«

»Zum Besseren?«, will Theo wissen, und ich zucke mit den Schultern. Ich glaube, ja, aber das wird sich mit der Zeit zeigen. Ich gewöhne mich schließlich gerade erst daran, seine Ehefrau zu sein, und die Vorstellung, dass nun so ein kleines Wesen mit all seinen Bedürfnissen auf mich angewiesen ist, ist noch völlig unwirklich. Ich weiß, dass ich kein Interesse mehr daran habe, eine Gesellschaft für aufstrebende Künstlerinnen zu gründen, und auch nicht daran, Malen zu lernen, und doch bin ich ganz unerwartet glücklicher als je zuvor. Dieses neue Leben mit Theo erfüllt mich mit Zufriedenheit und Freude.

»Es wird alles gut.« Theos Tonfall ist ruhig und voller Überzeugung. Ich nicke, denn ich glaube ihm von ganzem Herzen.

»Ich bin trotzdem hin- und hergerissen«, sage ich. »Einerseits werde ich jetzt körperlich und geistig eingesperrt, bis unser Baby kommt, was sehr einsam ist.« Lächelnd halte ich die linke Handfläche hoch. »Und andererseits ist es eine Gelegenheit, mich zu verstecken und dieses viel zu enge Korsett nicht mehr tragen zu müssen.« Ich bewege meine Hände auf und ab wie Schalen, als würde ich die beiden Seiten meiner Situation abwägen. Die rechte Hand gewinnt. »Ohne Korsett zu leben wird purer Luxus sein. Ich kann diesen Bauch nicht länger verstecken.«

»Und denk doch nur an die ganzen sauren und salzigen Sachen, die du essen wirst, wenn das Kind erst auf der Welt ist.« Theo stupst mich mit der Schulter an und hakt sich bei mir unter. Wir setzen unseren Spaziergang fort.

»Wann muss ich mich endlich nicht mehr für jeden Bissen rechtfertigen, den ich zu mir nehme? So ein Druck auf werdende Mütter«, beschwere ich mich. »Dass ich die komplette Verantwortung dafür tragen soll, dass unser Kind kein säuerliches Gemüt entwickelt.« Ich lege die Hand auf den Bauch.

Da höre ich eine Stimme.

»Bonjour , Monsieur van Gogh.« Sie steht links von uns in der geöffneten Tür zum Café du Tambourin, Zigarette in der einen Hand, Bierglas in der anderen. Wie lange beobachtet sie uns schon? Als wir sie sehen, bleiben wir stehen.

»Mademoiselle Voort«, grüßt Theo und tippt sich an den Hut. Sara lächelt. Ihre vollen Lippen glänzen, und ihre mandelförmigen Augen blitzen. Ihre Schönheit ist atemberaubend. Ihr Blick ruht auf meinem Mann.

»Bonjour , Sara«, sage ich.

Für einen kurzen Moment sieht sie mich an, und dabei verschwindet alle Wärme, die sie Theo gegenüber gezeigt hat. »Mademoiselle Bonger«, erwidert sie.

Ich lächele und korrigiere sie nicht. Stattdessen beobachte ich, wie ihr Blick zu meiner Hand wandert, die immer noch auf meinem Bauch ruht. Ich nehme sie nicht weg. Ich lächele. Ich weigere mich, Mitleid mit jemandem zu empfinden, der ständig versucht, meine Beziehung zu zerstören. Sie schluckt, blinzelt ein paarmal und holt tief Luft. Stille. Sie weiß es .

»Sie sehen sehr … gut aus«, sagt sie schließlich. Ihre unnatürlich dunklen Augenbrauen ziehen sich in gespielter Sorge zusammen.

»War noch nie glücklicher.« Ich höre meine Stimme und die übertriebene Begeisterung darin. »Das Eheleben bekommt uns.« Ich sehe, wie sie sich windet, doch ich empfinde keine Reue.

Theo legt mir den Arm um die Schultern. »Guten Tag noch«, sagt er und schiebt uns an der Tür zum Le Tambourin vorbei. Er will sie ebenso schnell hinter sich lassen wie ich.

»Wir sehen uns bald, Theo«, ruf sie noch, doch keiner von uns beiden dreht sich um.

»Bist du mit ihr verabredet?«, frage ich. Theo lacht.

»Sie sieht mich überall«, antwortet er, und ich bohre nicht nach.

Oktober 1889

Meine Zeit des Hausarrests hat begonnen, und unsere Unterhaltung beim Mittagessen heute drehte sich um unseren gemeinsamen Wunsch, Vincent würde eine Frau finden, die ihn genug liebte, um sich um ihn zu kümmern. Theo überlegte sogar, dass vielleicht am besten jemand passen könnte, der selbst ähnliche Tiefen der Hoffnungslosigkeit wie Vincent durchlebt hat – diese Idee, dass oft die Traurigsten die besten Gefährten sind.

Ich weiß nicht, ob ich dem zustimmen kann. Ich hätte Sorge, dass sie bloß gegenseitig ihren Kummer vergrößern würden.

Dann sprachen wir mal wieder darüber, dass Wahnsinn und das Erschaffen »wahrer Kunst« irgendwie zusammenzugehören scheinen. Theo meinte, Vincent betrachte sich als Monticelli – aus diesem Grund besitzt Theo einige von dessen Werken. Der Maler starb für seine Kunst, und Vincent bewundert das oder identifiziert sich vielleicht sogar mit dem wahnhaften Verhalten des Künstlers. Es erinnert mich wieder daran, dass Genialität immer auch Zerbrechlichkeit bedeutet und der kleinste Knacks dafür sorgen kann, dass alles einstürzt.

In letzter Zeit habe ich viel über meine eigene Zerbrechlichkeit nachgedacht – und auch über die von Theo, Vincent, Camille, Agostina, Rodin und Sara. Sind wir nicht alle gleich? Klammern wir uns nicht alle an unseren kostbaren gesunden Verstand, während wir uns durchs Leben tasten?

Auch über mein Bedürfnis, diese Idee der »wahren Kunst« zu verstehen, muss ich noch mehr nachdenken. Seit unserer Heirat habe ich nicht mehr gemalt, und auch meine Skizzen sind selten geworden – aber bis jetzt habe ich mich noch kein einziges Mal gefragt, weshalb eigentlich. Vielleicht bin ich das geworden, was Camille und Agostina hassen, doch erst jetzt frage ich mich, ob diese Veränderung in mir tatsächlich negativ bewertet werden muss. Ich habe mein Streben nach künstlerischem Tun aufgegeben und stattdessen entschieden, Ehefrau und dann Mutter zu sein. Die Verwandlung von unabhängig zu verheiratet zu schwanger ging zu schnell, und so klammere ich mich nur noch mühsam an mein Selbstverständnis.

Könnte es sein, dass eine starke Frau zu sein bedeutet, die Wahl zu haben? Ja, ich wähle diese Rollen bewusst aus (wenn auch in sehr rascher Abfolge) und nehme sie dankbar an, statt ungewollt etwas zu erfüllen, was von mir erwartet wird. Camille und Sara haben diesen Luxus nicht: Keine Wahl zu haben zerstört ihren Geist.

Weshalb macht mich das dann zu einer Schande für ihre Weiblichkeit?

Weshalb versuchen Frauen, diejenigen zu verurteilen und zu verachten, die lediglich versuchen, sich treu zu bleiben?