Ich habe mich nie für jemanden gehalten, der sich auf den ersten Blick verlieben könnte. Immer habe ich mich über die Albernheit frischgebackener Mütter lustig gemacht, die gurrend ihre hässlichen Babys betrachteten, als wären sie kleine Kunstwerke.
Und dann kam mein Sohn auf die Welt.
Ich lag mit aufgestellten Beinen auf dem Rücken. Clara stand am Fußende, Chloroform und Zange griffbereit. Madame Joseph kniete neben ihr. Keine von beiden hatte mit der Eile gerechnet. Er wollte entkommen, leben, seine Eltern kennenlernen. Mein Junge hatte genug davon zu warten, bis ich endlich bereit war. Er wollte jetzt sofort seinen ersten Atemzug tun.
Ich sah ihre Angst. Sie war ihnen ins Gesicht geschrieben, als mein Junge mit dem dritten Pressen aufs Entbindungsbett geschossen kam. Mein gesamter Körper stieß ihn heraus, und der Arzt kam viel zu spät. Ich verlor alle Kontrolle. Die gewaltige Kraft seiner Geburt ließ mich zerrissen und entsetzt zurück.
Und nun, in der Stille, sitzt Theo ein wenig unbeholfen kerzengerade auf einem Stuhl neben unserem Bett. Er ist steif, weil alles so ungewohnt ist: als hätte er irgendwie vergessen, wie es ist, er selbst zu sein. Unser Sohn liegt eingewickelt in den Armen meines Mannes. Ich kann nicht aufhören, die beiden anzusehen. Nur wenige Stunden alt, und ich erkenne so wenig an ihm. Unser Sohn ist winzig. Ein Bündel an Möglichkeiten. Theos Hände wirken zu groß, seine Finger zu lang. Unser Junge ist ein Wunder. Blonde Haarsträhnen. Die Finger zu einer kleinen Faust geballt. Eine flach gepresste Nase. Er hat ein Muttermal, einen winzigen roten Fleck in der Falte seines rechten Handgelenks. Er ist perfekt. Wie kann etwas so Kleines jeden Aspekt eines Lebens verändern?
Mein Ehemann beugt sich tiefer über unser Baby, und ich beobachte, wie er seinen Sohn betrachtet. Das ist Glück.
»Was denkst du?«, frage ich schließlich nach Minuten der Stille.
»Ich präge ihn mir ein«, antwortet er. »Um sicherzugehen, dass ich ihn jedem Menschen beschreiben kann, der danach fragt, und vor allem denen, die es nicht tun.«
»Ich glaube, ich habe noch nie ein schöneres Kind gesehen.«
»Viel hübscher als dieser Roulin-Bengel«, sagt er.
Ich schaue Theo an. Seine Augen glänzen, und ich sehe, wie sich eine einzelne Träne aus dem Winkel löst.
»Mein Junge«, sagt er. Ich höre den Laut, als die Träne auf dem Gesicht des Kindes landet. Unser kleines Wesen krümmt sich, und sein Mund bewegt sich. Als Theo lacht, erschreckt das Geräusch unseren Sohn. Er öffnet die Faust, streckt die Finger und reißt die blauen Augen weit auf.
»Ich setze große Hoffnung in dich«, sagt Theo sanft. Er streichelt ihm über die Wange. »Ich werde dir alles beibringen, was ich weiß.« Das Kind entspannt sich wieder. Die Finger rollen sich ein, die Augen schließen sich. »Aber erst einmal, sein Name. Ich weiß, wir hatten überlegt …« Er sieht mich an. Rechnet mit einer Diskussion. Seine Augen und Lippen lächeln gemeinsam, als er mir bedeutet zu sprechen.
»Wir könnten ihn immer noch Theodorus nennen, nach deinem Vater und euch beiden zu Ehren«, sage ich und lächele über die winzige Faust meines Sohnes. »Ich würde für dich töten, mein Junge.«
»Und du hattest Angst, du könntest keine mütterlichen Gefühle entwickeln!«, meint Theo. »Aber nicht Theodorus.«
Ich nicke zustimmend. Ich verstehe.
»Ich will ihn Vincent Willem nennen«, sagt Theo. »Wir werden noch mit anderen Kindern gesegnet sein. Viele, viele weitere Kinder. Eines von ihnen wird meinen Namen tragen.«
Ich lache und hebe warnend den Finger. »Zu früh«, sage ich. »Viel zu früh, mein Lieber.«
»Ich hoffe auf sechs oder sieben«, scherzt er, doch dann zuckt sein Gesicht. Ein ernster Gedanke ist ihm durch den Kopf geschossen. »Denk nur, welche Ehre wir Vincent erweisen. Sein Name wird weiterleben.«
»Glaubst du, Dries wird beleidigt sein?«
Er zuckt mit den Schultern. »Er wird zweifelsohne Annie heiraten, und dann bekommen sie eigene Kinder.«
»Vincent könnte auch immer noch heiraten und selbst ein Kind kriegen.« Meinem Ton fehlt die Überzeugungskraft. Ich sehe Theo an. Wir wissen beide, wie unwahrscheinlich das ist. Vielleicht akzeptieren wir zum ersten Mal, dass die Hoffnung auf Vincents Genesung mit jedem neuen Anfall weiter schwindet.
»Dann sind wir uns also einig?«, fragt Theo.
GEBURT
31 . Januar 1890
Vincent Willem,
Sohn von
Monsieur und Madame
Theo van Gogh.
Februar 1890
Dries’ Gesicht, als er seinen Neffen das erste Mal sah! Die Bewunderung eines Onkels. Er war völlig aus dem Häuschen und weinte sogar. Mein Herz war leicht: Er liebte Baby Vincent auf der Stelle.
Dann befahl er mir, die Augen zu schließen. Ich tat wie geheißen. Ich hörte, wie seine Schritte den Raum verließen und wie er wiederkam. Nervöses Lachen und dann: »Augen auf.«
Da stand mein Bruder vor mir und hielt Berthe Morisots Die Wiege in der Hand.
»Für mich?«, fragte ich, und Dries nickte.
Er habe es, wenige Wochen nachdem es mich in der Galerie Durand-Ruel so in seinen Bann gezogen hatte, gekauft, erzählte er mir. Da war ich gerade erst ein paar Tage in Paris gewesen. Ich schluchzte so laut, dass Madame Joseph ins Zimmer gelaufen kam. Was für eine Freude – mein Bruder hat ein so großes Herz.
Seine Worte: »Ich war mir sicher, dass dieser Tag kommen würde .«