»Milch tropft aus mir heraus«, sage ich. »Trinkt er nicht genug?«
»Das Baby holt sich, was es braucht, Madame Jo«, beruhigt mich Clara. »Wir können Ihr Nachthemd noch mal wechseln.«
Baby Vincent ist drei Wochen alt. Er schläft in seiner Wiege, aber meine Brüste sind hart und prall. Meine Fähigkeit, Milch zu produzieren, ist ausreichend bewiesen: Sie tropft aus meinen Brustwarzen, die ich versuche, nach innen zu drücken, damit das Kribbeln aufhört.
»Mein Körper scheint zu glauben, es ist Fütterungszeit«, sage ich.
Clara blickt auf die Uhr am Kamin. »Noch eine halbe Stunde. Monsieur Theo wird uns umbringen, wenn wir uns nicht an seinen Plan halten.«
Ich sitze auf dem Stillsessel im Kleinen Zimmer, die Finger immer noch auf der Brust. Aus dem Fenster kann ich auf den Zaun hinunterschauen, der die Siedlung Pigalle von der Straße trennt. Buben jagen sich das Sträßchen rauf und runter, zwei Mädchen sitzen zusammen auf einer Treppenstufe am Nachbarhaus und flechten sich gegenseitig die Haare. Ihre Kleidung ist zerrissen, zu klein und zu dünn für einen Pariser Winter: keine Jacke oder Umhang in Sicht. Da ist noch ein anderes Mädchen, nicht viel älter als die beiden auf der Treppe. Vielleicht ihre Schwester. Sie ist es, die ich beobachte, wie sie auf und ab spaziert. Sie versucht mit aller Kraft, älter zu wirken, frecher, mutiger. Sie trägt die Haare offen und zu große Schuhe. Sie fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut, und ihr zuzuschauen macht mich nervös. Sie hat Angst, aber sie versucht, vor ihren Geschwistern furchtlos und selbstbewusst zu wirken. Dann verschwindet sie in einem Eingang. Ich sehe, wie ein Mann ihr folgt.
Ich stehe auf und öffne das Fenster. Ich will mehr sehen, will etwas zu den Kindern hinunterrufen. Die Zimmertür öffnet sich vorsichtig und mit einem Knarren.
»Verzeihung, Madame«, sagt Madame Joseph. »Eine Mademoiselle Voort will Sie unbedingt sprechen. Sie meinte, es sei ›in Ihrem besten Interesse, sie nicht abzuweisen‹.«
Ich werfe Clara einen Blick zu, die zwar die Augenbrauen hochzieht, dann aber nickt. Sie hat recht. Ich muss diese Frau hereinlassen.
»Und hält sich für eine Lady …«, murmelt Clara. »Der Kleine ist gerade mal drei Wochen alt. Sie sollte wissen, dass man keine Besuche macht, solange Sie im Wochenbett liegen.«
Doch dann ist sie da, hier im Kinderzimmer, mit raschelnden Röcken. Saras Blick huscht durchs Zimmer, bis er an der Wiege hängen bleibt. Sie stürzt darauf zu. Beim Gehen bindet sie ihr Mantelet auf und zieht die Handschuhe aus. Ihre Turnüre wippt bei jedem Schritt. Sie rümpft die Nase, schnuppert. Aus ihrem Gesichtsausdruck schließe ich, dass es sich um einen unangenehmen Geruch handelt: wahrscheinlich eine Mischung aus meinem Schweiß und den Exkrementen meines Sohnes.
Sara hingegen ist sehr elegant, makellos und bestens vorbereitet. Ich bin nichts dergleichen. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich mir das letzte Mal die Haare gebürstet habe. Ich bin ausgezehrt. Eine wunde junge Mutter in einem Nachtgewand mit Milchflecken. Ich rieche nach Baby-Erbrochenem und Feuchtigkeit. Wenn das hier ein Wettbewerb ist, hat sie bereits gewonnen. Ich warte darauf, dass sie mich aufklärt, weshalb sie hierhergekommen ist, aber Sara beugt sich über die Wiege. Baby Vincents Augen sind offen, die winzigen Fäuste links und rechts neben seinem Kopf.
»Was für ein kräftiger kleiner Junge«, sagt sie. »Und wie nett, dass ihr ihn nach Vincent benannt habt und nicht nach seinem Vater.« Sie dreht sich um und studiert mein Gesicht. Als würde sie nach etwas suchen. Beim Lächeln zeigt sie die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen, ehe sie sich wieder der Wiege zuwendet.
»Was für dicke Backen er hat und so blaue Augen.« Schweigen. Dann funkelt sie mich wieder an. Für jemanden von solcher Schönheit sieht sie heute hässlich aus und klingt auch so. »Hast du was von Vincent gehört?«
Ich habe keine Kontrolle über die Reaktionen meines Körpers. Ihr Tonfall lässt mir die Hitze ins Gesicht schießen. Diese Frau hasst mich. Sie hasst mein Baby. Sie hasst, dass ich das Leben habe, das sie sich wünscht. Sie wirkt so drängend, fast schon hysterisch.
»Ja, er schreibt … wenn er kann.« Ich wähle meine Worte mit Bedacht.
»Er hat mir erzählt, dass du nur schreibst, wenn du dich mit etwas brüsten kannst.« Sara spielt mit einer Haarsträhne. Sie schauspielert wieder.
»Ich bin sicher, mein Mann wäre traurig, das zu hören«, sage ich und sehe, wie sie bei den Worten »mein Mann« das Gesicht verzieht. Ein kleiner Sieg .
»Ich wette, er ist ein Unruhestifter, wie sein Papa«, sagt sie nun.
»Wer?«
»Vincent«, antwortet sie und zeigt auf die Wiege. Sie scheint etwas andeuten zu wollen. Sie will etwas loswerden, aber ich habe keine Geduld für ihre Spielchen. Clara hebt das Baby aus seinem Bett. Ich bleibe reglos in meinem Stillsessel am Kamin sitzen, bis sie mir den Kleinen auf den Schoß legt.
»Ich bin sicher, es gibt einen Grund für Ihren Besuch«, sage ich.
Wieder Schweigen. Sara mustert mich von Kopf bis Fuß. Ihr Blick bleibt ein wenig zu lang an den Milchflecken hängen.
»Bin ich der einzige Mensch, dem auffällt, dass dein Kind seinem Onkel Vincent wie aus dem Gesicht geschnitten ist?«
»Mein Sohn ist ein van Gogh, Mademoiselle Voort, und aus diesem Grund erwarte ich sogar, dass er seinen Verwandten ähnelt.« Ich hebe meinen Sohn an die Brust. Meine Brustwarzen stechen, und aus der rechten schießt Milch.
Sara stützt die Hände in die Hüften und lacht laut. Sie klingt völlig überdreht. »Die Wahrheit wird ans Licht kommen. Auf die eine oder andere Weise«, sagt sie. »Wir wissen beide, dass die van-Gogh-Brüder gerne teilen.« Dann dreht sie sich um und stolziert aus dem Zimmer, wobei sie die Hüften wie zu Musik schwingt. Das Knallen der Tür erschreckt meinen Sohn. Er fängt an zu weinen.
»Die ist durch und durch schlecht«, murmelt Clara.
»Hat sie gerade wirklich behauptet, Vincent sei der Vater des Kindes?«
»Diese Frau trägt den Teufel in sich. Sie will unbedingt Unfrieden stiften.«
Mein Körper fängt an zu zittern. »Aber ich habe nicht …«, stammele ich.
»Ich weiß«, beruhigt mich Clara.
»Aber was, wenn sie es Theo erzählt …«