Auf den Straßen ist heute Abend viel los. Kutschen jagen übers Pflaster, um wohlhabende Pariser pünktlich im Theater, in Bars oder Kabaretts abzuliefern. Abends herrscht in Paris das bunte Leben. Es ist Juli und das erste Mal seit über zehn Monaten, dass ich ausgehe. Der Lärm und die Masse von Menschen werden mir bereits zu viel.
»Pass auf, eine …« Andries drückt mich nach hinten in einen Hauseingang, als eine Kutsche vorbeidonnert.
»Pardon, pardon «, ruft er und winkt dem Kutscher, als der Fiaker weiterjagt. Ich höre das Knallen der Peitsche den Boulevard de Clichy hinunter und den Ruf: »Hé, la-bas! «
»Jo, wo bist du heute Abend nur mit deinen Gedanken?« Ich werfe meinem Bruder einen Seitenblick zu. Sein ovales Gesicht ist immer noch makellos. Er sieht keinen Tag älter aus, wohingegen ich in weniger als einem Jahr um zehn Jahre gealtert bin.
»Das Baby hat wieder die ganze Nacht gebrüllt. Ich bin sicher, dass diese verunreinigte Kuhmilch ihn vergiftet, aber der Arzt will einfach nicht auf mich hören«, sage ich. »Zahnen. Immer sagt er Zahnen. Ich werde ihm stattdessen Eselsmilch geben.«
Andries hakt sich bei mir unter, und gemeinsam flanieren wir über die Pflastersteine. Wir weichen anderen Paaren aus, wobei mein Bruder denen höflich zunickt, die er kennt. Andere rufen eine Begrüßung quer über die Straße. Ich halte den Blick auf den Boden gesenkt, denn mir ist nicht nach Unterhaltungen mit Bekannten zumute. Ich muss mich sehr beherrschen, um nicht auf der Stelle nach Hause zurückzurennen.
Theo ist in Den Haag, um mit dem Sammler Hendrik Willem Mesdag über ein Bild von Corot zu sprechen, und Andries bestand auf einem gemeinsamen Abend. Ich sagte, ich sei dazu nicht in der Lage. Eine Woche Liegen hatte mich nach einem weiteren Anfall von Blutverlust zwar kuriert, aber es machte mich nervös, so weit von unserer Wohnung entfernt zu sein. Mein Bruder wollte jedoch kein Nein akzeptieren und erklärte mir, wie sehr er unsere Abenteuer vermisse. Er weiß nicht, dass ich mitgehört habe, was er murmelnd mit Clara im Flur besprochen hat. Die geflüsterten Worte »Hysterie« und »paranoid«.
»Ich bin Mutter, und mein Sohn ist unruhig. Ich kann ihn nicht lange allein lassen«, sage ich.
»Clara kümmert sich doch um ihn«, versucht er, mich zu beruhigen. »Es ist für alles gesorgt, und meine Schwester von früher hätte diesen Ort geliebt.« Er bleibt vor einem Gebäude stehen, an dem ein schwarzer Trauerflor mit weißem Band angebracht ist. Ein einzelner Sargträger mit schwarzem Cape und Zylinder öffnet die Tür und bedeutet uns, in die Dunkelheit einzutreten.
»Ist jemand gestorben?«, frage ich verwirrt, weil alle Zeichen auf Tod hindeuten, ich drinnen aber bereits Gelächter hören kann.
Andries schiebt einen schweren Vorhang beiseite. Als meine Augen sich langsam ans Dämmerlicht gewöhnen, klammere ich mich an meinen Bruder, denn der plötzliche Lärm und das seltsame Ambiente drohen mich zu überwältigen. Große Holzsärge sind in diesem höhlenartigen Raum verteilt. Darauf stehen flackernde Kerzen und menschliche Schädel. Obwohl alles nach einer Beerdigung aussieht, sind hier viele Leute versammelt, die alle sehr betrunken und sehr ausgelassen wirken.
»Was ist das für ein Ort?«, frage ich und fürchte mich. »Sind wir bei meiner eigenen Beerdigung?«
»Nein. Im Kabarett des Todes«, antwortet Andries. »Hat gerade erst eröffnet.«
»Aber der Mann dort trinkt aus einem menschlichen Schädel.« Ich zeige auf einen Gast. Der hat mich wohl gehört, denn er hebt den Schädel, als würde er mir zuprosten. »Santé. «
»Was um alles in der Welt …« Mein Blick fliegt durch den Raum. Der Tod umgibt uns, als wäre während meiner Bettruhe eine riesengroße Katastrophe eingetreten, doch Frauen mit Perlenketten und Männer mit Melone amüsieren sich prächtig. Offenbar wird hier das Leben gefeiert, und alle lachen dem Tod ins Gesicht.
»Kunst und Bier«, sagt Andries. Er breitet die Arme aus, wie um mich bei sich zu Hause willkommen zu heißen. »Nichts ist so, wie es zunächst scheint. Rodin liebt es hier.«
»Und Camille?«, frage ich hoffnungsvoll, doch Andries schüttelt den Kopf.
»Sie hat mit der Bildhauerei aufgehört.«
Camille ist von der Gesellschaft ausradiert worden. Sie existiert nicht länger. Kreative Frauen in Paris verschwinden, wenn ihre Männer keine Verwendung mehr für sie haben. Ihre Geschichten bleiben unerzählt.
»Oh, sieh dir nur diese Details an!« Mein Bruder zeigt auf verschiedene Ecken des düsteren Raumes. Die Wände sind mit Schädeln und Knochen dekoriert, komplette Skelette sitzen auf Stühlen neben den Gästen. Ein großer Kronleuchter aus Menschenschädeln hängt von der Decke. Die Luft ist erfüllt von abgestandenem Rauch, und das Lachen wirkt deplatziert. Der Tod wird umworben, dem Tod wird gehuldigt. In einer Ecke durchtrennt eine Guillotine menschliches Fleisch.
»Die Guillotine da.« Ich erschaudere und kann mein Entsetzen nicht verbergen. »Ist das deine Vorstellung von einem entspannten Abend?«
»Sie machen Vorführungen an echten Leichen«, sagt Andries, als würde das als Erklärung ausreichen. »Lass uns einen giftigen Trank aus einem künstlichen Schädel zu uns nehmen.«
»Dries«, sage ich.
»Jo, das ist alles nur zum Schein«, versichert er mir. »Die Illusions-Vorführung nachher ist umwerfend. Eine Frau wird sich direkt vor deinen Augen in ein Skelett verwandeln.«
»Ich sollte zu Hause bei meinem Sohn sein«, krächze ich. Wir stehen in der Schlange der Gäste, die warten, einen Platz zugewiesen zu bekommen.
»Nonsens«, widerspricht Andries. Er lacht. »Und jetzt genug gejammert. Willst du meine Neuigkeiten hören?«
Ich nicke.
»Ich habe mir die Wohnung im Erdgeschoss eures Hauses angeschaut.«
»Wie bitte? Hast du nicht gesagt, unsere Wohngegend sei …« Er wischt meinen Einwand beiseite.
»Theo und ich denken darüber nach, unser eigenes Geschäft zu gründen.«
Wie bitte? »Er will seine Stelle aufgeben? Aber er zahlt auch für Vincent …«
»Wenn ihr euch gut versteht, Annie und du, denk doch nur, wie wunderbar das sein wird.«
Das würde es, aber ich verstehe nicht, weshalb Theo so etwas nicht mit mir bespricht. Und doch, mit Andries in Paris zu leben fühlt sich fast an wie ein Traum, es gibt kaum eine Erinnerung aus meiner Kindheit, in der er nicht vorkommt. Meinen Bruder wieder in meiner Nähe zu haben, Klein Vincent könnte ihn täglich sehen … ich muss unwillkürlich lächeln.
»Wirst du Annie heiraten?«, frage ich, und mein Bruder nickt.
»Sobald ich kann. Ich habe sie heute Abend auch hierher eingeladen …« Ich glaube, er sorgt sich, wie ich reagieren könnte. Ich gebe ihm einen spielerischen Klaps, um ihm zu signalisieren: Alles in Ordnung . Zeit allein mit meinem Bruder ist inzwischen sehr rar. Wir haben neue Wege beschritten und ein neues Leben begonnen. Ich will daran auch nicht unbedingt etwas ändern, aber heute Abend hatte ich wohl ein bisschen gehofft, wir könnten die Zeit anhalten. Zwei Jahre zurückdrehen. Einfach nur wieder Bongers Schwester sein.
Ein Mönch nähert sich uns, in jeder Hand einen Schädel. »Müde Reisende, willkommen. Lasst mich einen passenden Sarg für euch auswählen.«
»Ist das ein echter Mönch?«, flüstere ich, und mein Bruder lacht.
»Er spielt nur eine Rolle. Nichts davon ist echt, Jo. Das weißt du doch.« Natürlich tue ich das. Dieser Ort imitiert die Pariser Kunstwelt – nichts ist so, wie es zuerst den Anschein hat, und wenn man sich zu lange damit beschäftigt, verliert man den Verstand.
Mein Bruder legt mir den Arm um die Schultern, während wir dem Mönch zu einem hölzernen Sarg umgeben von Stühlen folgen. Nachdem wir uns gesetzt haben und ich mich geweigert habe, meinen Umhang abzulegen, stellt der Mönch unsere Schädel auf den Sarg. Eine Glocke läutet, ein Trauermarsch wird gespielt. Einige der Besucher stehen auf. Der Mönch führt sie in eine zweite Kammer. Unheilvolle Vorahnung.
»Was zur Hölle?«, frage ich.
»Genau«, erwidert mein Bruder lachend. Meine Sorge und Verwirrung amüsieren ihn, doch dann springt er auf und wedelt mit den Armen durch die Luft. »Da ist sie.«
Ich hätte die Annie aus unserer Kindheit nicht wiedererkannt. Sie ist schlank, blond und wirkt wie eine Engländerin. Wie die Mädchen, die ich früher auf Illustrationen in Büchern bewundert habe. Ihr Gesichtsausdruck ähnelt vermutlich meinem, als ich ein paar Minuten zuvor diese Räumlichkeiten betreten habe. Auch sie hat definitiv Angst, wo sie hier gelandet ist, während sie sich an den Särgen vorbei einen Weg durch den Raum bahnt. Sie ist eindeutig Holländerin in einer Pariser Welt. Vor allem aber hat mein Bruder sie ins kalte Wasser der Unterwelt geworfen und scheint nun zu beobachten, ob sie schwimmen kann.
»Jo, du erinnerst dich an Annie? Inzwischen ist sie außerordentlich schlau und perfekt«, verkündet Andries, und ich strecke ihr die Hand hin.
10 . Juli 1890
Auvers-sur-Oise
Mein Bruder (und meine Schwägerin?),
Bonger hat mir geschrieben, dass er das Appartement unter euch besichtigt hat und – als wäre das noch nicht genug der Neuigkeiten – dass Ihr überlegt, zusammen ein Geschäft zu gründen. Dass Du ein unabhängiger Kunsthändler sein wirst, begeistert mich, aber weshalb haben wir Brüder darüber nicht gesprochen? Machst Du Dir Gedanken, ob diese Unternehmung von Erfolg gekrönt sein wird, wo Du doch sowohl eine Familie als auch diesen gescheiterten Maler hier zu finanzieren hast?
Darf ich daraus schließen, dass Du mir das Brot aus dem Mund nimmst und stattdessen Bonger fütterst? Habe ich etwas falsch gemacht?
Mich verfolgt das Gefühl, dass ich für Dich zur Last geworden bin, doch Du weißt sicherlich, dass ich täglich sklavisch an meiner Kunst arbeite?
Vincent
11 . Juli 1890
Paris
Mein lieber Vincent,
bitte verzeih, dass ich diese ersten Überlegungen von Bonger und mir nicht mit Dir geteilt habe! Wobei es ja nichts Ungewöhnliches ist, dass er mit unnötiger Hast voranprescht und allen davon erzählt! So schnell diese Verhandlungen begannen, so schnell sind sie nämlich auch wieder beendet.
Wenn ich ganz ehrlich sein darf, ich vermute, dass Annie ihn bereits unter ihrer Fuchtel hat. Bonger behauptete, mein Enthusiasmus sei nicht so groß wie seiner, was das Geschäft anbetrifft. Ich habe ihm erklärt, dass ich in letzter Zeit unglaublich erschöpft bin und mich wirklich für nichts anderes interessiere als für Essen und Schlafen. Er deutete sogar an, dass wir sie vielleicht nur deshalb in der Wohnung unter uns haben wollten, damit Annie als eine Art Magd für Johanna dienen könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bonger von sich aus zu diesem Schluss gekommen sein könnte, daher vermute ich wie gesagt, dass Annie hinter dieser Veränderung steckt. Du kannst Dir vermutlich vorstellen, wie meine Frau reagiert hat! Allerdings beschäftigt unser Kind sie immer noch die meiste Zeit, denn der Junge will sich einfach nicht beruhigen. Jo erholt sich gerade erst von einer weiteren Woche Bettruhe, und so ist dieser van-Gogh-Haushalt ein ziemlich müder.
Was für Dich jedoch zählt, ist, dass Bonger einen Rückzieher gemacht hat, was die untere Wohnung betrifft und ebenso alle Pläne bezüglich einer gemeinsamen Geschäftsidee. Er spricht sogar davon, nach Amsterdam zu ziehen, wenn er heiratet. Ich will Dir keine zusätzlichen Sorgen bereiten, aber ich möchte Boussod, Valadon & Cie trotzdem gerne verlassen. Mir fällt immer mehr auf, wie lang meine Arbeitstage sind – bin ich nicht deshalb auch ständig so erschöpft? –, und dass die Bezahlung nicht ganz angemessen ist, doch vielleicht werde ich diese Bedenken erst einmal mit den Leuten dort besprechen.
Wäre dieser eigene Kunsthandel etwas, das ich ernsthaft in Erwägung ziehe, oder wenn es um dringende finanzielle Anliegen ginge, hätte ich Dich persönlich besucht. Ich hoffe, mein lieber Bruder, dass Du weiterhin guter Gesundheit bist, und dass Du Hilfe bei Dr. Gachet suchst, falls es etwas gibt, das Dich beschäftigt. Er kann Dir vielleicht auch etwas anbieten, falls die Melancholie zurückkehrt.
Schreib mir, so bald Du kannst. Ich lege diesem Brief fünfzig Francs bei.
Herzliche Grüße von Jo, von Deinem Neffen und von Deinem Dich liebenden Bruder
Theo und Jo
12 . Juli 1890
Auvers-sur-Oise
Mein lieber Bruder (liebe Schwägerin?),
besten Dank für Deinen Brief und den beiliegenden Fünfzigfrancschein.
An manchen Tagen will ich Dir wegen so vieler Dinge schreiben, aber heute sehe ich dafür keinen Anlass. Stattdessen werde ich mich nur meiner Malerei widmen. Die Leinwand fordert meine volle Aufmerksamkeit, und ich bin fest entschlossen, es genauso zu schaffen wie diese anderen Maler, die Du täglich ausstellst und verkaufst.
Hirschig wohnt nun ebenfalls hier. Er hat mich gebeten, zu fragen, ob Du die Farben auf beiliegender Liste für ihn besorgen könntest, und ich habe meine Bestellung des Allernötigsten ebenfalls hinzugefügt. Vielleicht kannst Du beides gemeinsam versenden, aber wenn Du mir die Kosten mitteilst, wird Hirschig Dir das Geld schicken.
Bald mehr, und viel Geschäftserfolg bei Boussod, Valadon & Cie.
Herzliche Grüße an Jo und an meinen Neffen.
Tout à toi
Vincent
Von: Dr. Paul Gachet
An: Theo van Gogh
Dringend. Kommen Sie sofort nach Avers. Vincent hat eine Schussverletzung.
Juli 1890
Das Telegramm kam spät gestern Nacht. Das Hämmern an der Tür weckte uns.
Theo wollte nicht, dass ich ihn begleite. Er bestand darauf, dass ich in Paris bleibe, denn das Baby ist immer noch so unruhig, meine Blutungen nur einigermaßen unter Kontrolle, und er rechnet damit, dass ihn das Schlimmste erwartet.
Ich weiß nicht, ob Vincent lebt oder tot ist.
Mir ist ganz elend vor Angst. Es gibt einfach keine Ruhepause. Ist das nun der Moment, in dem meinem Schwager gelingt, woran er bisher gescheitert ist?
29 . Juli 1890
Auberge Ravoux
Meine liebe Johanna,
ich begreife einfach nicht, was ich hier erlebe. Mein Bruder bricht vor meinen Augen zusammen, und ich bin außerstande, ihn zu retten. Ich versuche, zu verstehen, was genau passiert ist, aber da ist so viel, das keinen Sinn ergibt.
Gestern aß Vincent zu Mittag, wie er es immer tut, doch danach ging er sofort hinaus zu den Weizenfeldern. Während seines Aufenthalts hier hat er jeden Tag mindestens ein Werk vollendet und machte keinerlei Anstalten, langsamer zu werden. Als er bei Einbruch der Dämmerung immer noch nicht zurückgekehrt war, machte man sich Sorgen, denn mein Bruder ließ nie eine Mahlzeit aus.
Die Besitzer des Gasthauses saßen draußen, als Vincent schließlich auf sie zugestolpert kam. Das war gegen neun Uhr. Er hielt sich den Bauch. Jemand fragte ihn, ob alles in Ordnung sei, und er murmelte einige Worte, ehe er den Gasthof betrat und die Treppe zu seinem Zimmer hinaufstieg. Der Wirt, ein gewisser Vater Ravoux, ein freundlicher Mann, hatte den Eindruck, dass etwas nicht stimmte. Er ging zu Vincents Zimmer und fand ihn dort stöhnend auf dem Bett liegend vor. Als er ihn fragte, ob er krank sei, hob Vincent das Hemd und zeigte eine Wunde.
»Ich habe versucht, mich umzubringen«, sind die Worte, die mein Bruder von sich gab!
Wie es scheint, hat er sich mit einem Revolver angeschossen und dann das Bewusstsein verloren. Er sagte zu Vater Ravoux, er »hätte versucht, sich zu erledigen«, hätte aber den Revolver nicht mehr gefunden. Wo kann der geblieben sein? Der wird doch nicht aus seiner Hand verschwunden sein? Vincent behauptete, er hätte schließlich die Suche aufgegeben und sei zum Gasthof zurückgekehrt.
Ravoux schickte nach dem Arzt. Gachet kam meinem Bruder zu Hilfe und verband die Wunde. Dann schickte er das Telegramm, um mich zu informieren. Doch es war Ravoux, der die ganze Nacht bei Vincent blieb. Er zündete Vincent die Pfeife an, redete mit ihm und lauschte, wie mein Bruder vor Schmerzen stöhnte.
Als ich hier ankam, rannte ich den ganzen Weg vom Bahnhof zum Gasthaus und erreichte es gleichzeitig mit zwei Gendarmen. Jemand hatte sie von einem versuchten Selbstmord in Kenntnis gesetzt. Ich folgte Vater Ravoux und den Gendarmen zu Vincents Zimmer. Zuerst erkannte mein Bruder mich nicht, sondern konzentrierte sich auf Ravoux’ Erklärungen, welches Vergehen Vincent nach französischem Gesetz begangen hätte. Niemand habe das Recht, sich das Leben zu nehmen, doch mein Bruder beharrte, es sei sein Körper und er könne damit tun, was er wolle.
»Wolltest du denn sterben?«, habe ich ihn gefragt, und da sah Vincent mich das erste Mal an.
»Ja«, antwortete er mit einem Lächeln. » La tristesse durera toujours.«
Die Traurigkeit wird immer bleiben! Liebste Johanna – was sollen wir nur tun?
Ich dachte, er würde noch mehr sagen, doch dann überwältigten ihn Lethargie und Schmerz. Die Gendarmen wurden angewiesen zu gehen, und ich nahm auf dem einzigen Stuhl im Zimmer neben Vincents Bett Platz. Ich küsste ihn, unsere Köpfe nebeneinander auf einem Kissen.
»Ich stehe nicht mehr fest auf zwei Beinen, aber jetzt, wo du hier bist, habe ich Frieden«, sagte er später zu mir. »Du bist der einzige Mensch auf dieser Welt, der mir Liebe geschenkt hat.«
Jetzt ruht er, aber es bricht mir das Herz. Er wirkt kleiner, so in Laken gewickelt und der Welt entrückt. Es herrscht eine Stille hier im Raum, die mir Angst macht. Mein Bruder schläft zu friedlich. Ich fürchte, er könnte nicht mehr aufwachen, und darum kann ich nicht von seiner Seite weichen.
Morgen schreibe ich mehr. Küss meinen kleinen Jungen von mir und fühle Dich tausendmal umarmt.
Dein Dir treu ergebener
Theo
Juli 1890
Heute kein Brief von Theo. Ich habe ihm geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Ich weiß, dass seine Zeit und seine Gedanken seinem Bruder gewidmet sind, und so sollte es auch sein, aber ohne Nachricht werde ich rastlos.
Nachdem wir Vincent vergangenen Monat besucht hatten, waren wir uns beide einig, wie gut er aussah. Ich dachte wirklich, er wäre ein für alle Mal geheilt. Nun vermisse ich stattdessen Theo und denke pausenlos an Vincent. Dass er nie wirklich Glück empfunden hat, dass ich ihn nicht zu uns hierher eingeladen habe, dass er die Hoffnung aufgegeben hat.
Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie durch und durch einsam und verzweifelt er gewesen sein muss, um den einzigen Ausweg aus seinem Schmerz darin zu sehen, sich selbst zu erschießen. Mein einziger Trost ist, dass Theo an seiner Seite weilt.
Darf ich hoffen, dass mein Mann die Dinge schlimmer dargestellt hat, als sie in Wahrheit sind?
Ich warte.
Ich fülle die Tage mit Tätigkeiten im Haushalt und meinem Sohn. Ich beobachte das Staunen, mit dem der Kleine diese Welt entdeckt – er greift nach Dingen, brabbelt vor sich hin. Bald wird unser Junge sechs Monate alt sein, und ich rechne damit, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis er deutlich »Mama« sagen kann. Ich empfinde das beklemmende Bedürfnis, mich an unser Glück zu klammern und dieses Leben, unseren Sohn, mit Theo zu teilen. Wir gehören zusammen. Seit Monaten quälen wir uns mit anhaltenden Krankheiten herum, einer nach dem anderen, und nun kippt unsere Erleichterung in eine Dunkelheit, die schwärzer ist als alles, was wir bisher erlebt haben.
Ich sehne mich danach, dass wir alle wieder hier in diesem Nest sind, dass es Vincent wieder gut geht und wir uns alle erholen.