Was jetzt?
Das denke ich, als ich das Schlafzimmer betrete. Seit zwei Monaten geht es mit ihm bergab, wochenlang hat er Diagramme und Namen von Verdächtigen auf Leinwand gekritzelt, die er an die Wände unseres Salons genagelt hatte. Nun sitzt Theo an der Kante unseres Bettes, mein Skizzenbuch aufgeschlagen auf dem Schoß und Briefe ringsherum verstreut. Ich habe nichts zu verbergen, aber das Eindringen in meine Privatsphäre bildet eine neue Verschlechterung.
»Durand-Ruel sagte eine Woche«, krächzt er. »Er hat gelogen.«
»Vielleicht hat er einfach viel zu tun mit …«
»Ein Monat lang schweigen bedeutet, er weigert sich, meinen Bruder auszustellen«, sagt er. Ich erwidere nichts. Ich weiß, wie sehr ihn das schmerzt, und mein Mann steht sowieso schon kurz vor dem Zusammenbruch und an der Schwelle zum Wahnsinn. »Unsere Liebe war nie gleich stark, oder?«
Wie bitte? Der Themenwechsel überrumpelt mich völlig. Ich schweige erst einmal und suche in seinem Gesicht nach Hinweisen.
»Ich habe meine Kündigung eingereicht. Ich arbeite nicht mehr bei Boussod, Valadon & Cie.«
»Du bist erschöpft. Warte, ich hole dir deine Medizin.« Ich schicke mich an, das Zimmer zu verlassen.
»Diese Tropfen machen mich erst recht verrückt!« Ich warte. Theo holt tief Luft. »Ich habe dir vertraut. Habe dir alles von mir geschenkt, und so zahlst du es mir zurück?« Er zeigt auf mein Skizzenbuch. Sein ruhiger Tonfall macht mir Angst.
»Wovon redest du?«
»Was wirst du heute wohl schreiben, liebste Ehefrau?«, gibt er zurück. »4 . Oktober 1890 , Ehemann findet heraus, dass ich eine dreckige Hure bin?« Er knurrt förmlich. Ein kehliges Geräusch tief aus seinem Innern. »Sag’s mir. Du und Vincent zusammen. Die ganze Zeit. Steht das hier irgendwo? Besuchst du ihn immer noch, wenn ich bei der Arbeit bin?«
Immer noch ? Ich halte inne.
»Also?«, knurrt er.
»Was? Wie bitte? Weshalb denkst du so etwas?« Fassungslos stehe ich in der Tür und drehe meinen Ehering am Finger. Ich habe überhaupt keine Ahnung, was ich als Nächstes tun soll.
»Lacht ihr über den dummen, gutgläubigen Theo? Darüber, wie du mich mit deinen Lügen getäuscht hast.« Er hat die Augen weit aufgerissen. »Wie nachlässig ich doch war, dir mein Herz, meine Seele anzuvertrauen.«
Ich stehe stocksteif und halte den Atem an. Woher kommen diese Anschuldigungen?
»Wissen alle Künstler in Paris Bescheid? Lachen hinter meinem Rücken alle über mich? Alle wissen, dass mein Bruder noch lebt.«
»Vincent ist tot«, sage ich und sehe, wie er zusammenzuckt. Er schüttelt heftig den Kopf. Rasch mache ich einen Schritt auf ihn zu, will meinen Mann trösten. »Zwischen mir und Vincent ist nie etwas passiert«, sage ich. »Wie kommst du denn darauf?«
»Enthielten seine Bilder Botschaften für dich?«, will er wissen. Ich seufze.
»Ich habe euch zusammen gesehen«, sagt er.
»Wo?«, frage ich. »Wann?«
»Heute Morgen. In der Küche.«
Wie soll ich darauf nur reagieren? Vincent ist tot und begraben. Theo halluziniert. Was für neues Unheil zieht da auf?
»Habt ihr abgewartet, bis ihr richtig zusammen sein könnt? Für immer?«
»Theo, lass mich deine Medizin holen.« Ich versuche, ruhig zu klingen, denn ich spreche mit einem kranken Mann. Aber welche Art Hilfe braucht er?
»Ich werde nie mehr der sein, der ich war, bevor ich dich traf«, sagt er, die Augen auf seine Schuhe gerichtet.
»Und das ist schlecht?« Nun klinge ich offensichtlich zu abwehrend, denn sein Blick durchbohrt mich wieder.
»Du machst mich für deine Hinterhältigkeit verantwortlich?« Er schlägt so heftig mit der Faust auf das Skizzenbuch, dass das Bett wackelt und er selbst ins Schwanken gerät.
»Nein«, sage ich mit erhobenen Händen. Seit zwei Monaten lebe ich in diesem ständigen Zustand der Panik. Der Mann, den ich kannte und liebte, ist mit seinem Bruder gestorben. Diese Kopie ist völlig unberechenbar und falsch.
»Du bist immer das Opfer, nicht wahr, Johanna?« Er lacht gackernd, ohne jede Freude. Der Schweiß rinnt ihm von der Stirn über die Wangen bis in den Bart. Er ist krank, sehr krank. »Du Ärmste, völlig unschuldig, und überhaupt nicht verantwortlich für den Untergang der Gebrüder van Gogh.«
»Lass mich den Arzt holen. Er wird …«
»Wann hast du aufgehört, um mich zu kämpfen?«, ruft er, und ich senke den Kopf. »Wann hast du aufgehört, für deinen Sohn zu kämpfen?«
»Ich habe nie aufgehört zu kämpfen«, flüstere ich. »Du bist alles für mich.« Schweigen. »Wir können Hilfe holen. Es geht dir nicht gut. Theo. Bitte«, flehe ich und mache einen Schritt Richtung Bett, doch er hebt die Hand. Er will, dass ich mich von ihm fernhalte. Ein Hustenanfall unterbindet weitere Worte. Ich warte und trete dabei unruhig von einem Fuß auf den anderen.
»Hast du ihm geschrieben, ihm von unserer Ehe erzählt, von meinen Schwächen, was du an mir nicht magst?«
Ich schüttele den Kopf. »Natürlich nicht«, erwidere ich immer noch flüsternd. Ich bin bereits besiegt.
»Mein Bruder betrachtet all meine Frauen als sein Eigentum, als etwas, auf das er ein Anrecht hat.« Jedes Wort ist scharf und von Bitterkeit durchdrungen.
»Ich will dich. Nur dich. Von dem Moment an, als ich dich das erste Mal gesehen habe.« Ich versuche, den Mann aufzuwecken, den ich einst kannte. Meine Lippen zittern, meine Worte vibrieren.
Lachend tut er meine Gefühle ab, aber ich kann ihn nicht aufgeben.
»Du hast mich verändert. Du hast das Beste aus mir herausgeholt. Du hast mir gezeigt, wie man liebt. Bitte, Theo, bitte lass mich den Arzt rufen.«
Er funkelt mich böse an, und ich sehe, wie sich seine Miene verändert, seine Augen groß werden.
»Planst du die Flucht mit meinem Bruder? Steht das alles hier drin?« Er schwenkt mein Skizzenbuch durch die Luft. »Hat das schon vor unserer Verlobung angefangen? Hat Vincent die Wahrheit gesagt? Damals, du und er, auf Bongers Teppich …«
»Nein«, widerspreche ich heftig. »Du bist alles, was ich je wollte.«
»Bin ich jedes Mal aus deinen Gedanken verschwunden, wenn du mit ihm zusammen warst? Als er heute Morgen in dir war? Wie oft hast du ihn in Auvers besucht?« Er lallt so, dass man ihn kaum noch versteht.
»Nur das eine Mal, mit dir und unserem Jungen«, flüstere ich.
»Lügnerin!«, brüllt er. Es hallt im Zimmer wider. Dann schlägt er mit dem Skizzenbuch aufs Bett. »Du bist eine Hure. Ich habe euch heute Morgen zusammen gesehen!«
»Theo, bitte …«
»Ich kenne dich überhaupt nicht, oder?« Er springt vom Bett auf und kommt auf mich zu. Fuchtelt mit dem Buch vor meinem Gesicht herum, so dicht, dass die Kante meine Nase trifft. Ich versuche, es zu packen, aber er ist zu schnell. Er versteckt es hinter seinem Rücken und grinst mich höhnisch an.
Die Hitze steigt in mir empor. »Was willst du von mir hören?«
»Dass es dir leidtut. Das wäre mal ein Anfang.« Seine Spucke landet auf meiner Wange.
»Aber ich habe nichts …«
»Ich werde das hier lesen und herausfinden, wer du wirklich bist.« Schwankend umklammert er das Skizzenbuch. Ich bewege mich nicht, als er mich damit erneut an der Nase trifft, zittere ich am ganzen Leib. »Diese Person, die Freude daran hat, die Gebrüder van Gogh zu zerstören.«
»Theo«, flehe ich. »Bitte.« Ich kann die Tränen nicht mehr aufhalten, also lasse ich ihnen freien Lauf. »Lies es. Ich habe nichts zu verbergen.«
»Du bist die einzige Frau, die ich je geliebt habe«, flüstert er. Mit diesen Worten dreht er sich um und taumelt zurück zum Bett. »Aber ich war dir nie genug.«
»Du bist mehr als genug. Du bist alles, was ich brauche.«
Er lässt sich auf die Bettkante mir gegenüber fallen. In diesem Moment sieht er Vincent ähnlicher als sich selbst. »Was verbirgst du sonst noch, Madame van Gogh?« Seine Augen glühen. »Ist das Baby überhaupt mein Sohn?«
Schweigen: unheimlich, voller Schwärze. Plötzlich ist der Gesichtsausdruck meines sanften Ehemannes verletzlich und unschuldig. In diesem Moment ist er wieder ein kleiner Junge, der verzweifelt versucht, alles wiedergutzumachen. Was für ein furchtbarer Verlust. Alles hat sich verändert, alles, was wir teilen, ist zerbrochen. Er hat seinen Frieden verloren, ich die Liebe meines Lebens. Aber während ich das denke, habe ich unbewusst innegehalten, habe beobachtet, anstatt zu sprechen. Mein Schweigen fasst er als Eingeständnis auf.
»Natürlich ist er dein Sohn.« Ich klinge zu hektisch, und meine Antwort kommt zu spät. »Ich war nie mit Vincent intim.« Ich klinge, als würde ich Ausflüchte suchen. Ich möchte gerne mehr sagen, klar und überzeugend wirken, aber es ist zu spät.
»Du hast ihn nach seinem Vater benannt!«, bellt er. Dann knurrt er mich wieder an.
»Du hast ihn nach deinem Bruder benannt«, korrigiere ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Ich wollte ihn Theodorus nennen, nach dir , nach seinem Vater.«
Schweigen.
Jetzt breche ich in Tränen aus. »Du bist meine einzige Liebe. Der Vater meines Kindes. Meine Zukunft!«, schluchze ich.
»Zukunft?« Sein Lachen klingt hart und heiser. »Wir haben keine Zukunft.« Ich sehe seinen Schmerz, seine Angst, seine Abscheu. Und ich sehe seinen Hass. »Du hast mir alles genommen«, sagt er.
Er springt vom Bett auf und wirft mir das Skizzenbuch an den Kopf. Ein gezielter Wurf. Der Schmerz kommt sofort. Er lenkt mich ab, und in diesem Augenblick stürzt sich Theo auf mich. Seine Kraft ist überraschend, sie kommt aus seinem Innersten. Er stößt mich. Mein Kopf schlägt auf dem Parkett auf, und Schmerz explodiert in meinem Schädel. Ich bin wie benebelt, kann mich nicht mehr wehren. An meinen Röcken schleift er mich in die Mitte des Zimmers. Dort kniet er sich mit einem Bein auf meine Brust, den Stiefel auf meinem Arm, und umfasst mit beiden Händen meinen Hals. Er drückt zu, immer fester.
Ich ringe nach Atem, ich hechele, mein Kopf droht zu bersten. Zu viel Schmerz, überall Pein. Ich versuche, den Kopf zu schütteln, doch sein Griff ist zu fest. Schweiß tropft von seinem Kinn auf mein Gesicht. Mit aller Macht drückt er zu.
Ich habe keine Kraft mehr.
Da wird die Schlafzimmertür aufgerissen.
»Monsieur Theo«, kreischt Clara, und Baby Vincent schreit mit. Das Geräusch lenkt ihn ab, holt ihn zurück. Er löst seine Finger, sodass ich mich befreien kann. Clara kommt mit Baby Vincent auf dem Arm herein und versucht zu begreifen, was passiert ist.
Theo blickt hoch. Sieht sie und springt auf.
Er schwankt auf die beiden zu. Versucht, das Baby zu packen. Er zieht an Vincents Armen, an seinem kleinen Hals, aber Clara dreht sich sofort weg. Sie schützt das schreiende Kind mit ihrem Körper vor seinem Vater. Da stürzt er sich auf Clara – ein Fausthieb, ein Schlag, ein Tritt, er zieht an ihren Haaren, versucht, sie umzudrehen, versucht, an meinen kleinen Jungen zu kommen.
»Hilfe«, brüllt Clara. »Hilf mir!«
»Theo!«, will ich rufen. Dann versuche ich zu schreien. Meine Stimme ist kratzig, meine Kehle wund.
Ich krieche auf die beiden zu und reiße dabei eine Lampe, einen Stuhl, Bücher zu Boden. Es klappert und knallt – ich versuche, so viel Lärm wie möglich zu machen.
Und es funktioniert. Madame Joseph kommt ins Zimmer geeilt. Sie zerrt Theo von Clara weg und dreht ihm die Arme auf den Rücken, doch er tritt immer noch mit den Füßen. Sein ganzer Körper zuckt und windet sich unter Madame Josephs ungeahnter Kraft.
»Ich bringe euch alle um«, schreit er. »Ihr seid der Teufel!« Doch dann richtet sich sein Blick gen Decke. Er wirft den Kopf hin und her, als wäre eine Biene darin gefangen.
Etwas stimmt nicht. Etwas verändert sich. Etwas in seinem Kopf lenkt ihn ab.
»Mach, dass es aufhört. Mach, dass das aufhört!« Seine Stimme ist leiser, und die Worte klingen gequält.
»Shhhh, Monsieur Theo«, sagt Madame Joseph, aber er scheint sie nicht zu hören.
Nun hustet er, wird vom Husten geschüttelt. Seine Augen sind geschlossen. Alles geschieht wahnsinnig schnell.
»Lass ihn los!«, rufe ich, und die Worte schmerzen beim Verlassen meines Mundes.
Madame Joseph sieht mich an. Sie weiß nicht, ob sie meine Anweisung befolgen soll, aber ich nicke. Selbst diese kleine Bewegung sendet Schmerzwellen durch meinen gesamten Körper. Das lenkt mich eine Sekunde lang ab, und als ich den Blick wieder auf Madame Joseph richte, sehe ich, wie sie ihren Griff lockert.
Mein Mann fasst sich an die Brust. Seine Augen sind immer noch geschlossen, sein Mund halb offen.
»Theo!«, schreie ich.
Er sinkt zu Boden.
Oktober 1890
Theo lebt.
Sie haben ihn zuerst ins Hospital La Maison Dubois gebracht, aber nun weilt er in einer Klinik in Passy.
Er leidet unter einer Krankheit des Gehirns. Sie sagen, der Tod seines Bruders hätte ihm den Verstand geraubt.
Die Ärzte vermuten, dass er sich nicht mehr erholen wird.
Ich habe vergessen, wie sich Normalität anfühlt.
Ich habe zu lange in diesem Sturm existiert. Unser Glück war von viel zu kurzer Dauer.