Landschaft mit Kutsche und Zug

»Jo!«

Natürlich erkenne ich die Stimme sofort. Ich drehe mich um und lasse den Blick über die wogende Menge an Reisenden schweifen. Nur dieses eine Wort, und ich verwandle mich vor dem Gare du Nord in ein hässliches, heulendes Häufchen Elend. Weiß der Himmel, was die anderen Passagiere denken: ein Kleinkind im Arm, kein Ehemann, ein Koffer zu meinen Füßen, tränennasse Wangen. Baby Vincent kräht, als Fremde uns anrempeln.

Dann sehe ich ihn. Meinen Bruder: groß, mit der Melone in der Hand winkend, rufend, kämpft er sich gegen den Strom der ankommenden Reisenden. Ich schiebe Vincent auf die andere Hüfte und versuche, Andries durch Tränen hindurch anzulächeln, meinem Sohn zu versichern, dass alles gut wird. Er schiebt sich an anderen Reisenden und ihren schwankenden Gepäckträgern vorbei.

»Was machst du hier?«, stammele ich.

»Habe gehört, dass du den Nachtzug nach Utrecht nehmen willst«, sagt er.

»Aber wer …«

»Clara.« Er beugt sich herunter und küsst den kleinen Vincent auf den Kopf. Mein Sohn streckt die Hand aus, um Andries am Mantelkragen zu packen. Irgendwie wirkt mein Bruder heute nicht ganz so aus dem Ei gepellt wie sonst: Er hat Flecken am Hals, und die Spitzen seines Schnauzers haben sich nicht zähmen lassen. »Ich dachte, ich leiste dir Gesellschaft.« Mit einem Kuss löst er Vincents Finger. Er hat kein Gepäck bei sich, was darauf hindeutet, dass er überstürzt aufgebrochen ist.

»Sie haben gesagt, Theos Zustand ist viel ernster, als es der von Vincent war.«

Andries nickt, und sein Blick huscht von einem Passanten zum nächsten. Er kann mir nicht in die Augen sehen. Das lässt mich gleich wieder Rotz und Wasser heulen. Bevor ich mir jedoch mit dem Blusenärmel über die Augen wischen kann, reicht Andries mir sein seidenes Taschentuch. Ich trockne mir das Gesicht und schnäuze mich so laut, dass es wie eine Trompete klingt. Der kleine Vincent lacht glucksend. Als ich meinem Bruder das Taschentuch wieder hinstrecke, schüttelt er den Kopf. Stattdessen zieht er mich an sich. Er küsst mich auf die Stirn und legt mir den Arm um die Schultern.

»Wir werden das zusammen durchstehen«, sagt er.

»Es besteht nicht der kleinste Funken Hoffnung.«

Letzte Woche habe ich versucht, Theo zu besuchen, als er noch in Paris war, doch man erlaubte es mir nicht. Da stand ich mit dem Baby im Arm und flehte sie an, mich wenigstens für fünf Minuten zu meinem Mann zu lassen, aber sie schickten mich weg. Sie sagten, ich müsse Theo Zeit lassen, sich an seine neue Umgebung zu gewöhnen. Aus der Ferne, durch die Streben des Eisentors, konnte ich ihn mit einer Krankenschwester im Garten sehen. Er wirkte zwar gebeugt, konnte aber gehen. Das beruhigte mich einerseits, andererseits machte es mich traurig. Törichterweise schöpfte ich Hoffnung, mein Mann würde sich wieder ganz erholen. Fünf Tage später erklärte man mir, dass er bereits nach Utrecht verlegt wurde, in eine Einrichtung für geistig Kranke.

»Sag mir alles, was du weißt«, fordert Andries mich auf.

»Ich habe erst von der Verlegung erfahren, als mir der Arzt, also der aus der psychiatrischen Klinik in Utrecht, schrieb, dass Theo aufgeregt und verwirrt dort angekommen sei. Angeblich hatte er nicht die leiseste Ahnung, was für ein Tag es war oder wo er sich befand«, berichte ich. »Sie haben ihn in einem Isolationszimmer untergebracht.«

»Und da hast du beschlossen, mit einem Baby dorthin zu fahren?« Er zerzaust meinem Jungen sein blondes Haar. »Was glaubst du denn dort vorzufinden?« Die Bahnhofsuhr schlägt zwei. Andries bückt sich nach meinem Koffer.

»Sie sagen, es ist eine allgemeine Lähmung als Folge seiner Syphilis-Infektion.« Eine Welle der Scham überrollt mich.

»Ihr seid alle monatelang krank gewesen.« Ich nicke, denn das stimmt.

»Aber unser Arzt hat behauptet, dass weder der Junge noch ich infiziert sind.«

»Möchtest du, dass ich ihn trage?«, bietet er mir an, aber ich schüttele den Kopf. Ich brauche den kleinen Vincent nahe bei mir. Ich muss auf ihn aufpassen.

Andries dreht sich um und geht Richtung Bahnsteig. Sein Tempo ist etwas zu schnell, sodass ich mich beeilen muss, um Schritt zu halten, obwohl ich kaum noch Kraft habe. In den vergangenen zwei Jahren habe ich ein ganzes Leben gelebt. Und im letzten Monat kommt es mir so vor, als würde auch ich langsam den Verstand verlieren.

»Diese Müdigkeit und Rastlosigkeit haben uns alle erschöpft.« Ich seufze. »Wenn Theo einfach nur schlafen könnte«, sage ich, vor allem zu mir selbst, doch Andries dreht sich um und lächelt.

»Und du glaubst, dich zu sehen, wird ihm helfen?«

»Davon bin ich fest überzeugt.«

Mein Bruder bedeutet uns, ihm durch die Menge zu folgen. Meine Worte hallen als Echo hinter mir nach: Es besteht nicht ein Funke Hoffnung .

November 1890

Der Besuch war eine Katastrophe.

Man brachte uns in ein Zimmer mit einem Tisch und drei Stühlen. Theo wurde hereingeführt und blieb mit seiner Krankenschwester bei der geschlossenen Tür stehen. Er weigerte sich, näher zu kommen.

»Schau mal, dein Sohn ist hier«, sagte ich.

Langsam kam er auf uns zu, den Blick bei jedem Schritt auf Baby Vincent gerichtet, doch seine Miene blieb ausdruckslos. Dann, als er uns erreicht hatte, schaute er den Jungen wütend an und brüllte: »Ich kenne dich nicht!«

»Theo«, sagte ich, und er blickte mich an, als würde er mich zum ersten Mal sehen. Dann warf er einen Stuhl in Richtung Tür. Dries stellte sich schützend vor mich. Da gab mein Ehemann einen Laut von sich, wie ich ihn noch nie gehört hatte. Ein hohes Kreischen so voller Entsetzen. Mein Sohn stimmte mit angsterfülltem Gebrüll ein, und ich stand nur weinend da, nicht in der Lage, denen zu helfen, die ich liebe.

Die Schwester eilte zu Theo und brachte ihn eilig aus dem Zimmer.

Sie haben darum gebeten, dass wir ihn in Utrecht nicht mehr besuchen – erst wenn sich wieder Ruhe und Vernunft eingestellt haben, falls überhaupt.

Ich habe trotzdem Angst, dass der Tag kommen wird, an dem ich sein Gesicht vergesse. An dem ich nicht mehr in der Lage sein werde, die Augen zu schließen und seine Stimme zu hören. An dem ich unseren Sohn anschaue und mir wünsche, dass er mal seinem Vater ähnlich wird.

Was soll ich unserem Jungen über seinen Vater erzählen? Wie soll ich je genug Worte finden, um einen Mann zu beschreiben, den er nie kennenlernen wird?