Clara weigerte sich strikt, sie in die Wohnung zu lassen, stattdessen holte sie mich aus dem Kinderzimmer. Langsam ging ich zur Wohnungstür und legte mir dabei stumm zurecht, was ich sagen würde. Irgendwie hatte ich schon damit gerechnet, demnächst Sara Voort gegenübertreten zu müssen. Nun bin ich vorbereitet.
Doch alles, was ich sehe, ist eine weitere erschöpfte, kaputte Frau. Sara steht in der geöffneten Tür. Mit bewusst aufrechter Haltung trete ich ihr entgegen. Sie jedoch hat den Blick gesenkt, und ihre Schultern hängen nach vorn. Der Verband an ihren Handgelenken zeugt von ihrem jüngsten Versuch, sich aus dem Leben zu stehlen.
Alles, was ich mir zurechtgelegt habe, scheint auf einmal nichtig und unnötig grausam.
»Und?«, sage ich stattdessen nur. »Weshalb bist du hier?«
»Ich wollte nach Theo fragen«, antwortet sie, ohne mich anzusehen.
»Theo befindet sich in einer Gummizelle, zu seiner eigenen Sicherheit …« Ich muss schlucken, um meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. »In Isolation.«
Sie blickt auf. Ihre braunen Augen sind verquollen und von roten Äderchen durchzogen, ihr herzförmiges Gesicht fleckig. Sie ist erschöpft. Wir sind beide am Ende.
»Pa schickt mich fort. Nach London«, nuschelt sie. Ihre Unterlippe zittert. »Ich wollte mich entschuldigen, bevor ich gehe.«
Ich reagiere nicht.
»Ich habe ihn als meinen Mann betrachtet«, murmelt sie. »Er war meine erste Liebe. Ich habe mich ihm hingegeben. Er sagte, wir würden heiraten … ich dachte, du hast ihn mir gestohlen.«
»Und?«, frage ich, die Hände in die Hüften gestützt. Ich bin auf alles vorbereitet.
»Du kanntest ihn nur so kurz.« Sie schluchzt. »Es tut mir unendlich leid, dass ich mich eingemischt habe …«
»Bitte hör auf.« Auf einmal verlässt mich aller Kampfgeist. Ich trete zurück und würde gerne die Tür schließen. Ich kann ihren Kummer nicht auch noch ertragen, mein eigener wiegt schon schwer genug.
Doch Sara legt die Hand auf den Türrahmen, um mich am Weggehen zu hindern. »Vincent hat mir von ihrem grausamen Spiel erzählt«, sagt sie. »Wie er eingewilligt hat, mich zu übernehmen, nur um meine Gedanken von Theo abzulenken.«
»Das war unverzeihlich«, sage ich kopfschüttelnd. »Aber ich war nie deine Feindin. Ich bin nicht verantwortlich dafür, wie dich die van-Gogh-Brüder behandelt haben.«
»Ich habe mich so nach Zeit mit ihm gesehnt. Aber immer, wenn er mit mir zusammen war, waren seine Gedanken woanders.«
»Wenn er mit dir zusammen war?« Die Panik ist sofort wieder da.
»Ich habe mich ihm Tag für Tag aufgedrängt. Probleme erfunden, die er lösen sollte, von Lügen berichtet, die Vincent mir erzählt hatte. Jede Ausrede, mit ihm zu sprechen, ihn zu sehen, war mir recht, aber …«
Ich bedeute ihr fortzufahren.
»Theo hat mich jedes Mal abgewiesen. Er hat immer nur dich geliebt.«
Ich versuche gar nicht erst, meine Tränen zu verbergen. Als Sara die Hand ausstreckt, weiche ich zurück.
»Du hast versucht, meine Ehe zu zerstören«, sage ich mit möglichst neutralem Tonfall, der weder meine Wut noch meine Erleichterung verraten soll. Aber ich bin dankbar für die Wahrheit. »Du hast so getan, als gäbe es mich gar nicht.«
»Es tut mir leid. Ich schäme mich«, sagt sie. »Nicht zu genügen …« Sie schluchzt zwischen den Wörtern. »Ich wollte so gerne du sein, aber dann hoffte Vincent auf eine Beziehung mit dir, und ich dachte, er könnte dich von Theo ablenken.«
Nun begreife ich. »Du hast versucht, die beiden van-Gogh-Brüder bei ihrem eigenen Spiel zu schlagen?«
»Sie haben mich zerstört, mich hässlich gemacht.«
»Hörst du überhaupt, was für Unsinn du da redest?«, frage ich, ein wenig zu laut. Sara verzieht das Gesicht.
»Aber …«
»Kein Aber «, ahme ich ihren Tonfall nach. »Du bist einem Mann hinterhergelaufen, der dich jedes Mal zurückgewiesen hat. Du wusstest das, aber du hast trotzdem nicht lockergelassen. Das ist deine Wahrheit, aber sie haben dich nicht zu etwas Hässlichem gemacht.« Sara hört mir zu, erwidert nichts, sondern beobachtet mich nur. Ich atme tief ein und aus. »Die Brüder van Gogh haben dich nicht zerstört. Du hast bewusst die Rolle der hysterischen Frau gewählt, und ich musste deine intriganten Versuche ausbaden.«
»Ich weiß.« Nun studiert sie ihre Stiefelspitzen.
»Aber du bist immer noch hier, immer noch am Leben«, sage ich. »Versuche zumindest, ehrlich zu bleiben. Mach dir bewusst, dass du selbst für dein Verhalten, deine Entscheidungen und dein Glück verantwortlich bist.«
»Es tut mir leid«, wiederholt sie wieder so leise, dass ich es kaum verstehe. Ich höre ihre Trauer, die meiner gleicht. Der Schmerz, die Schuldgefühle, die Scham, der Verlust – wir klammern uns beide an unsere geistige Gesundheit. Wir haben beide genug gelitten.
»Du musst anders mit den unsinnigen Anforderungen der Gesellschaft an uns Frauen umgehen. Sei frecher, mutiger, lerne, dich aufzulehnen.«
Sara sieht mich mit Tausend Fragen an. Trotz meiner Tränen muss ich lächeln. »Betrachte London als Neuanfang. Ich kenne dort Leute, verständnisvolle Leute. Sie werden dir helfen.«
»Warum bist du so nett zu mir?« Sie ist verwirrt. Damit hat sie nicht gerechnet, und sie glaubt auch nicht, dass sie diese Reaktion verdient hat.
Ich reiche ihr die Hand. »Wir sind es beide leid.« Sara verschränkt ihre Finger mit meinen. »Aber glaubst du nicht auch, dass wir stärker und weiser geworden sind dank der van-Gogh-Brüder? Sie haben uns beide verändert.«
»Zum Besseren?«, fragt Sara, und ich nicke.
Ich bin wie sie: eine Frau, die an ihren Entscheidungen und ihrem Verhalten zerbrochen ist. Wir wagen es beide, ehrlich zu dem zu stehen, was wir sind.
»Weißt du, was ich jetzt gerade wirklich brauche?«, frage ich.
Sara schüttelt den Kopf.
»Jemanden, der mir zuhört, wenn ich über Theo rede. Jemanden, der mir Geschichten über den Mann erzählen kann, den ich liebe.«
»Das kann ich tun.« Sie lächelt. »Ich habe ihn auch geliebt.«
Ich nicke. Das hat sie. Also trete ich beiseite und lasse Sara in mein Zuhause.