Zwölf Sonnenblumen
in einer Vase
»Frische Luft, ruhiges Städtchen, gesundes Kind«, murmele ich, vor allem um mich selbst zu überzeugen, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Mit Vincent auf der rechten Hüfte drücke ich die Klinke herunter und schiebe die Tür mit der linken auf. Clara folgt mir mit einem kleinen Koffer in jeder Hand.
Die Tür schwingt auf und donnert gegen die Wand, was Vincent zusammenzucken lässt.
»Willkommen in der Villa Helma«, verkünde ich. »Unserem neuen Zuhause.«
Ich stelle Vincent auf seine kleinen Füße. Mama nannte ihn einen späten Läufer und meinte, das sei ein Zeichen für Unterentwicklung. Natürlich gab sie den van Goghs die Schuld. Aber mein Sohn ist perfekt. Mir wäre egal, wenn er nur van Gogh ohne einen Hauch von Bonger wäre. Er ist immer noch unsicher in seinen neuen Lederschühchen. Seine Füße fühlen sich damit etwas zu schwer für seine kräftigen Oberschenkel an.
Ich spreche mit meinem Sohn jetzt holländisch. Manchmal frage ich mich, ob er die Schleifen und Schnörkel der französischen Sprache vermisst. Ob er verwirrt ist, weshalb ich ihm diese Sprache weggenommen habe. Ich schüttele den Kopf. Mein Kleiner hat in seinen fünfzehn Lebensmonaten schon so viel verloren.
»Der heutige Tag stellt einen Neuanfang dar, Vincent.« Ich verstrubbele ihm die blonden Locken. Vincent macht einen wackeligen Schritt nach vorn. Der Eingangsbereich ist weitläufig – meine Stimme hallt in der Leere wider.
»Willkommen zu Hause«, sagt Clara, schiebt sich an mir vorbei und geht auf die Treppe zu. Sie ist die letzten zwei Wochen schon hier gewesen, während ich mich noch bei Andries und Annie erholt habe. »Warten Sie nur, bis Sie sehen, was ich mit dem Zimmer von unserem kleinen Meneer Vincent gemacht habe.«
Es dauert einen Moment, bis mir bewusst wird, dass ich die neue Besitzerin einer Pension in Bussum bin. Hier werde ich wohnen. Die Villa Helma ist bezaubernd. Ein großes Haus in der Koningslaan, einer ruhigen Straße, mit sonnigem Garten: das Heim einer Familie. Nur dass meine Familie aus mir, Vincent und Clara besteht. Es sind keine weiteren Kinder geplant, und kein Ehemann wird von einem harten Arbeitstag nach Hause zurückkehren. Stattdessen werden mein Sohn und ich in diesem geräumigen Haus mit seinen sieben Schlafzimmern wohnen, und wir werden den Platz mit Leben und Fremden und Künstlern füllen und mit allem anderen, was Mama entsetzlich findet.
»Klopf, klopf.«
Vincent plumpst auf sein Hinterteil und gibt ein Quäken von sich, aber ich glaube nicht, dass er sich wehgetan hat. Nein, mein persönlicher Aufpasser teilt mir lediglich mit, dass ein Fremder in der Nähe ist. Vielleicht will der einzelne Laut sagen, dass er ihn nicht als besorgniserregend betrachtet.
»Ich mache das schon«, ruft Clara von der Treppe aus, doch ich schüttele den Kopf.
Ich wende mich der immer noch offen stehenden Haustür zu. Der Besucher steht bereits auf der Schwelle, die Faust erhoben, um noch mal ans Holz zu klopfen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, frage ich. Ich nehme Vincent hoch und gehe mit ausgestreckter Hand auf den Fremden zu. Nach einem kurzen Zögern schlägt er ein.
»Ich bin Jan. Jan Veth«, sagt er. »Ihre Magd hat erwähnt, dass Sie heute ankommen …«
»Jo«, sage ich. »Johanna van Gogh.«
»Ich weiß«, erwidert er. »Ich wohne nebenan. Ich bin Maler, Dichter, Kritiker, Dozent – das können Sie sich aussuchen.«
Und sofort bin ich auf der Hut. Mein Ausatmen klingt fast wie ein Schnauben. Ich bin nicht in Stimmung für einen weiteren arroganten Mann, der mir sagt, was ich mit Vincents Kunst tun oder lassen soll.
»Mein Heim ist eine Art Salon. Ich würde sogar fast sagen, es ist das Zentrum der Zivilisation hier in Bussum«, erklärt er.
Ich nicke, weiß aber nicht genau, welche Reaktion er erwartet. Ich bin Theo van Goghs Witwe. Nichts von dem, was er sagt, beeindruckt mich. Er wirkt allerdings irgendwie nervös, fast schon linkisch. Vielleicht bringt ihn mein Schweigen aus der Fassung. Er dreht sich um und zeigt auf die Straße hinaus. Ich schlurfe ein paar Schritte nach vorn und versuche, an Vincent vorbeizublicken, doch ich kann nichts entdecken. Was habe ich erwartet? Eine Staffelei vor seinem Haus?
»Ich wollte mich entschuldigen«, sagt er. Seine Wangen sind hochrot, und ein Schweißtropfen rinnt ihm die Nase entlang.
»Wofür?«
»Ich habe van Goghs Kunst abgetan. Vor ein paar Jahren habe ich ihn mal getroffen und die Gewalt in seiner Pinselführung …«
»Ja, und?«, hake ich nach, denn nun bin ich schon neugierig, weshalb er das Gefühl hat, um Verzeihung bitten zu müssen.
»Das hat mich abgestoßen.«
Ich seufze tief – geht das schon wieder los! Noch ein Mann, der meine Pläne infrage stellen will. »Ich bin mir nicht sicher, was Sie hier wollen, Meneer Veth.«
»Jan, bitte.«
Ich will, dass er geht.
»Sie sagte, dass Sie heute ankommen.« Mit dem Kopf deutet er Richtung Treppe.
»Clara«, sage ich. »Meine Schwester.« Nicht Dienstmädchen . Sein Blick wandert zwischen Clara und mir hin und her, und man kann ihm ansehen, wie verwirrt er ist, aber ich füge keine weitere Erklärung hinzu.
»Da wollte ich einfach Hallo sagen.« Er sieht mich beim Sprechen nicht länger an. Stattdessen huschen seine Augen durch den leeren Flur. Offensichtlich sucht er nach etwas oder jemandem.
»Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?«, frage ich.
»Nein … ich meine, nicht wirklich.« Nun blickt er zu Boden. Peinlich berührt, ertappt worden zu sein. Aber wobei, ist mir nicht ganz klar.
»Meine Reaktion auf seine Kunst war bedauernswert konventionell. Ich bin hier, um mich zu entschuldigen. Ich habe mich getäuscht, aber auch weil … Es ist so … Ich hatte gehofft, mehr von seinen Bildern zu sehen.«
»Vincents?« Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus.
»Meine Frau hat gesagt, ich soll warten, aber …«
Ich lache, und Jan Veth sieht mich aufmerksam an. Er weiß nicht, ob ich mich womöglich über ihn lustig mache. Ihn auslache. Ich trete einen Schritt vor und umarme ihn mit meinem freien rechten Arm. Bestimmt wünscht sich der arme Mann, vom Erdboden verschluckt zu werden. Der kleine Vincent windet sich in meinem Griff. Er will zurück nach unten und seine Umgebung erkunden. Also stelle ich meinen Sohn auf die kurzen Beine, und er wackelt los, einen unsicheren Schritt nach dem anderen. Als ich ihm meine Hand reichen will, lehnt er sie ab. Er ist unabhängig und hat einen starken Willen. Also wende ich meine Aufmerksamkeit unserem Gast zu.
»Mein Bruder, Dries, hat den Transport meiner Sachen hierher vor zwei Wochen organisiert. Clara hat dafür gesorgt, dass Vincents Gemälde aufgehängt werden«, erkläre ich, obwohl er das vermutlich bereits weiß. Ich bin zurück in den Niederlanden. Da spricht sich alles schneller herum. »Kommen Sie«, sage ich. »Dann mache ich Sie offiziell mit Vincent van Gogh bekannt.«
Ich dirigiere Klein Vincent in Richtung Wohnzimmer und bedeute unserem Gast, mir zu folgen.
»Ein paar Bilder habe ich bei Julien Tanguy in Paris gelassen«, erkläre ich, als wir das Wohnzimmer betreten. »Père Tanguy. Er besitzt ein kleines Geschäft für Malereibedarf in Paris. Kennen Sie ihn? Ich habe erst vor Kurzem seine Bekanntschaft gemacht, nachdem Theo …« Ich beende den Satz nicht. Noch bin ich nicht bereit, mit einem Fremden über Theo zu sprechen.
Jan scheint gar nicht aufgefallen zu sein, dass ich verstummt bin. Er antwortet nicht. Stattdessen tritt er näher an den Kamin heran. Auch ich schweige weiterhin. Ich will den Bann nicht brechen, mit dem Vincents Kunst ihn belegt hat. Zu sehen, wie andere Vincents Talent entdecken, ist eine meiner neuen Lieblingsbeschäftigungen. Vielleicht bewerte ich die Betrachter sogar, die emotionale Tiefe in dieser ersten Reaktion. Jan erzielt ein gutes Ergebnis. Es scheint, als hätte er vielleicht sogar vergessen zu atmen.
Über dem Kamin hängt Vincents Sonnenblumen . Und diesem Meisterwerk gegenüber, über dem großen Bord, befindet sich Die Ernte . Azurblauer Himmel, Landschaft in Grüntönen – man kann die Hitze fast spüren, die auf Arles herunterbrennt. Wenn er sich umdreht und Richtung Tür blickt, sieht er über meinem Kopf Boulevard de Clichy . Könnte ich in dieses Bild hineinsteigen, in diese Erinnerung an unser kostbares Montmartre, würde die Rue Lepic gleich hinter der rechten Ecke des Rahmens liegen. Oder vielleicht sieht er auch links an mir vorbei, wo neben dem weißen Porzellan der Paraffinlampe drei von Vincents japanischen Drucken hängen. Ungewöhnliche besondere Effekte, intensivfarbige Flächen, aber was für eine frohe Atmosphäre unser Bruder da erschuf!
Vincent van Gogh erhellt meine Umgebung immer noch mit seinen Farben. Das ist es, was Theo gewollt hätte, was er verlangt hätte. Vincent ist der Mensch, den mein Ehemann in seinem Leben am meisten geliebt hat. Ihre Briefe, ihre Worte, haben mir das gezeigt. Manchmal male ich mir aus, dass sie diese Briefe in dem Wissen schrieben, dass ich sie eines Tages lesen würde – und welche Erleichterung mir das bringen würde. Dann kann ich mir die Liebe vorstellen, die Baby Vincent erfahren hätte – wären die van-Gogh-Brüder gesund an Leib und Seele gewesen. Und das spendet mir Trost.
»Père Tanguy wollte Vincents Sonnenblumen . Theo hatte sie ihm versprochen. Es gibt mehrere Versionen, aber diese vierte Fassung war die liebste meines Mannes. Er überlegte lange, bis er beschloss, diese kleine hölzerne Ecke zu lassen, und er wählte diesen weißen Rahmen.« Ich zeige auf das Bild. »Ich konnte mich nicht davon trennen. Es ist unsere Verbindung zu Theo.«
»Vincent ist besser als in meiner Erinnerung«, sagt Jan. »Ich meine, ich habe gehört, dass er gut war, aber das hier …« Seine Armbewegung schließt den ganzen Raum ein. »Ich sehe seine große Demut. Dass er nach dem Schmerz im Kern der Dinge sucht.«
»Es gibt noch viele weitere«, sage ich. »Hunderte.«
»Hunderte?« Er quiekt förmlich. Freude und Aufregung sind ihm deutlich anzumerken.
»Es sind noch nicht alle ausgepackt«, erkläre ich und sehe seine Enttäuschung. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
Er zögert. »Wenn es nicht zu viel Mühe macht«, antwortet er und entdeckt, dass Klein Vincent an meinen Röcken zerrt. »Darf ich?«, fragt er. Ich nicke. »Wir haben inzwischen fünf.« Er nimmt meinen Sohn auf den Arm. Der versucht, nach seinem Bart zu fassen und an den rotbraunen Haaren zu ziehen.
»Vincent«, mahne ich streng. Seine Unterlippe zittert. In diesen Momenten, in denen er schmollt und weint, sieht er seinem Onkel am ähnlichsten.
»Sie haben ihn nach dem Maler benannt?«, fragt Jan und drückt den Kleinen an sich.
»Ja. Wir haben nicht damit gerechnet, dass er unser einziges Kind sein würde.«
Ich weine. Kein Schluchzen, sondern eher ein langsames, unaufhaltsames Rinnen von Tränen. Das passiert mir in letzter Zeit häufig. In diesem Stadium ist meine Trauer unkontrollierbar, aber ich akzeptiere das. Ich versuche nicht länger, sie vor anderen zu verstecken.
»Was den Tee angeht«, meint Jan. »Lassen Sie uns doch zu uns rübergehen. Nehmen Sie Vincent mit. Meine Frau würde Sie sehr gerne kennenlernen.«
Ich nicke zustimmend. »Das wäre schön.«