Wir sitzen am Esstisch. Vincents Briefe und Skizzen liegen auf der Holzplatte ausgebreitet. Essen, Trinken und kleine Kinder haben keinen Zutritt zu diesem Raum. Es sind drei Monate seit unserem Einzug in die Pension vergangen, und ich bin von der künstlerischen Gemeinde am Ort aufgenommen worden, aber die Tatsache, dass ich keine Fortschritte mit Vincents Kunst gemacht habe, entmutigt mich. Jan bot mir bei unserem ersten Zusammentreffen seine Unterstützung an, aber meine Tage waren seither geprägt von Haushaltsaufgaben und neuen Routinen. Vielleicht habe ich auch bis jetzt gebraucht, um mir einzugestehen, dass ich diese Pflicht allein auf keinen Fall erfüllen kann. Das könnte niemand.
»Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen«, sagt Jan. »Nutze alle Kontakte, die du hast, Jo. Es geht vor allem darum, eine Anhängerschaft für Vincent zu gewinnen.«
Jan Veth ist ein außergewöhnlicher Mann. Ein begabter Maler und Poet, mit kreativem Gespür, aber auch ein Kritiker und Lehrender. Er besitzt Weisheit, Güte und Integrität im Überfluss und ist schnell zu einem guten Freund geworden. Ich habe keinen Zweifel, dass sein Angebot zu helfen in der Überzeugung begründet liegt, dass Vincents Kunst ein breites Publikum verdient hat.
»Du weißt doch, dass ich acht von Vincents besten Werken bei Julien Leclercq in Paris gelassen habe? Er war fest entschlossen, eine Retrospektive zu veranstalten, zu der er französische Kunstsammler und Händler zusammentrommeln wollte«, berichte ich. »Aber gestern schrieb er, dass er noch nicht genügend Interesse wecken konnte, ich aber nicht die Hoffnung aufgeben solle. Als wäre ein Scheitern möglich. Er meinte sogar, es könne Jahre dauern.«
»Jahre?« Jan schiebt seine Brille mit den kleinen runden Gläsern den Nasenrücken hinauf.
»Ich hatte gehofft, dass es mehr anfängliches Interesse gäbe.«
Jan nickt. Das hatte auch er gehofft.
»Die Aufgabe fühlt sich ein bisschen zu groß für mich an. Wo ich doch auch einen Sohn habe und eine Pension führen muss«, sage ich. »Da habe ich meine Pflicht vernachlässigt …«
»Ich habe hier in Bussum und in den Niederlanden viele Kontakte«, erwidert Jan. »Lass uns eine Ausstellung zusammenstellen, und dann noch eine und noch eine. Wir können jedes Mal ein bisschen größer werden.« Er hält inne und denkt über das nach, was er gerade gesagt hat. »Vielleicht wäre es geschickt, seine weniger bekannten Bilder neben den Meisterstücken zu zeigen.«
»Um den Wert dieser weniger bekannten Bilder zu steigern?«, frage ich. Ich weiß, wie das funktioniert. Ich muss lächeln. Es macht mich so glücklich, wie sehr Jan Vincents Kunst inzwischen bewundert, und dass auch er die Genialität darin sieht. Theo hätte ihn gemocht. Mein Mann hat mir so viel beigebracht, aber der Gedanke an ihn ist wie ein körperlicher Schmerz. Eine Sehnsucht, sein Lachen zu hören, seine Lippen auf meinen zu spüren.
»Glaubst du, es wird Jahre dauern?« Ich wende mich der Gegenwart zu, um nicht in die Vergangenheit abzustürzen.
»Keine Ahnung«, sagt er.
»Aber es wird geschehen«, sage ich mit Nachdruck. Es war richtig, ihn um Hilfe zu bitten. Allein schon über all das zu reden bewirkt, dass ich mich nicht mehr so überwältigt fühle von der Aufgabe, die vor mir liegt.
Jan applaudiert, um seine Zustimmung auszudrücken. Seine Begeisterung ist ansteckend. »Wir könnten die Werke auch ausleihen. Das würde dazu führen, dass die Leute Vincents Kunst kennenlernen. Verleihe sie an alle, die danach fragen.« Er zeigt auf mein Blatt Papier: Ich soll mir alles aufschreiben. Dann habe ich ein Dokument, das ich studieren kann, wenn die Größe der Aufgabe mich wieder zu erdrücken droht.
»Und wir werden dafür sorgen, dass Kritiker Artikel über jede Ausstellung schreiben«, sage ich.
»Wir werden dafür sorgen, dass die Leute über Vincent van Gogh sprechen, und, glaub mir, in den Niederlanden werden sich die Leute sehr für seine Arbeiten interessieren«, fügt Jan hinzu. »Wir werden das so machen, dass es kaum eine Zeitung gibt, die nichts über ihn zu berichten hat.«
»Und was schreiben sie dann über mich?«, frage ich. »Dass ich den Kopf voller Schulmädchenflausen habe. Dass ich bestenfalls wichtigtuerisch und sentimental bin?«
»Wäre das denn so schlimm?«, gibt er zurück.
Ich werfe die Arme in die Luft und blicke zur Decke hinauf, als schickte ich ein Gebet gen Himmel. »Sollen sie mich doch unterschätzen.«
Er lacht, doch dann deutet er wieder auf mein Papier, und ich notiere rasch einige weitere Punkte.
»Sobald wir das Interesse hier geweckt haben, präsentieren wir van Goghs Arbeiten einem internationalen Publikum«, erklärt Jan. »Du wirst dich in allen künstlerischen Kreisen Westeuropas etablieren.«
Ich höre auf zu schreiben. Ich kann mir noch nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie das aussehen soll. Ein Blick auf Jan zeigt mir, dass er mich beobachtet. Ist ihm klar, dass er zu viel von mir erwartet? Dass ich mich wohl kaum …
»Was ist denn?«, fragt er.
»Ich habe an das Rijksmuseum in Amsterdam geschrieben. Theo wollte so gerne, dass sie Vincents Werk dort zeigen.« Mein gesamter Körper windet sich.
»Zu früh, Jo.«
Ich nicke. »Sie lehnten eine Ausleihe jeglicher Gemälde von Vincent ab. Ich bin sicher, sie haben sich köstlich amüsiert.«
»Hast du mit einer anderen Antwort gerechnet?« Ich zucke mit den Schultern. Als ich Paris verließ, war ich fest entschlossen, aber ich hatte noch nicht begriffen, was für eine Mammutaufgabe da vor mir lag. Inzwischen hat mich die Realität eingeholt und drückt mich zu Boden. Als hätte ich damit rechnen können, dass irgendetwas in Verbindung mit den Gebrüdern van Gogh einfach sein könnte.
»Es wird funktionieren.« Jan lächelt. Er zeigt nicht den Hauch eines Zweifels. »Hast du immer noch alle von Theos Kontakten?«
Ich nicke. Ich habe sie bereits aufgeschrieben. Unter einigen Skizzen und Briefen finde ich das kleine Notizbuch und reiche es Jan.
»Dann wirst du dich bei allen Freunden von Theo melden, bei Vincents Freunden und bei den vielen Bewunderern der beiden auf der Welt.«
Auch das schreibe ich auf. Jan blättert durch das Notizbuch. Immer wieder hält er inne, lächelt, liest die vielen Namen.
»Sei mutig, bleib hartnäckig. Wenn du eine Galerie selbst mieten und bezahlen musst, tu’s. Glaubst du an seine Kunst?«
Ich nicke wieder. Das tue ich wirklich.
»Ich kann zu wichtigen Händlern in den Niederlanden und in Frankreich Kontakt aufnehmen«, sagt Jan. »Kennst du Paul Cassirer?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich nicht, aber vielleicht erinnert er sich an Theo.«
»Biete ihm zehn Prozent, aber sei bereit, auf fünfzehn Prozent Provision für jedes Werk, das er verkauft, hochzugehen. Lass ihn sein Netzwerk nutzen, um van Goghs Arbeiten auf der ganzen Welt zu platzieren.«
»Aber ich habe keine Galerie …«
Jan hebt die Hand, um meinen Einwand im Keim zu ersticken. »Musst du auch nicht. Nutze stattdessen Kontakte und Kunsthändler, lass sie die Preise für dich aushandeln.«
Schweigen. Etwas beschäftigt mich immer noch.
»Er muss in einem Museum hängen, in einer öffentlichen Kunstausstellung«, sage ich. »Das wollte Theo für seinen Bruder.«
Jan zieht ein Taschentuch aus der Brusttasche und nimmt seine Brille ab. Ich sehe zu, wie er vorsichtig die Gläser poliert, während er über meine Worte nachdenkt. »Es gibt keine Abkürzungen. Das könnte Jahre dauern«, sagt er schließlich. »Es ist eine große Aufgabe.«
Wir sitzen einen Moment schweigend da.
»Ich werde dafür sorgen, dass es passiert«, erkläre ich dann. »Das Ziel ist es, dass Vincents Arbeiten gesehen und geschätzt werden.«
Lächelnd setzt Jan seine Brille wieder auf. Er befürwortet, was ich tue, er unterstützt mich. Ich bin ihm so dankbar.
»Außerdem habe ich noch seine Briefe. Sie sind bemerkenswert. Ich habe mir überlegt …« Ich stocke, doch Jan bedeutet mir fortzufahren.
»Wir könnten den Werken kurze Zitate beifügen«, schlage ich vor. »Das macht ihn einzigartig. Die Gegenüberstellung seiner Worte und seiner Kunst. So können die Leute Vincent auf beide Arten begreifen.«
»Darf ich sie lesen?«, fragt er. Ich nicke. »Du wirst dir Feinde machen. Die Kritiker werden deine neuen Methoden angreifen. Sie werden sich auf dein Alter stürzen und auf die Tatsache, dass du eine Frau bist. Sie werden sagen, du versuchst, Kunst neu zu definieren.«
»Dann lass sie doch. Sie werden mich nicht ernst nehmen. Und ich werde ihnen zeigen, dass sie sich gewaltig täuschen.«
Jan klatscht wieder. »Dann hast du also einen Plan?« Er deutet auf mein vollgekritzeltes Blatt.
»Die Zeit ist auf meiner Seite. Ich werde der Welt nach und nach Gemälde und Zeichnungen präsentieren«, erkläre ich. »Statt den Markt damit zu fluten.«
»Eine Frage habe ich noch«, sagt er. »Warum, Jo? Hat dich schon jemals jemand gefragt, warum du dein Leben der Familie van Gogh widmest?«
Ich lächele. »Theo hat immer gesagt, sein Bruder sei ein Genie, dass er einer der großen holländischen Maler werden könnte. Ich kann diese Sammlung nicht einfach für mich behalten. Es ist meine Pflicht. Es ist das, was ich tun muss, im Andenken an meinen Mann und an Vincent.«