HERBST 1892
Bussum

Orphan Man mit Zylinder,
trinkt eine Tasse Kaffee

Ich hatte nicht mit Richard Holst gerechnet. Er geht an mir vorbei in die Villa Helma hinein, wedelt dabei mit einem Papier durch die Luft und nimmt seinen Zylinder ab.

»Ich konnte keinen Moment länger warten«, verkündet er.

Er ist ganz aufgeregt, aber ich zucke nur mit den Schultern wie ein trotziges Kind. Ich kann mir schon denken, weshalb er hier ist, und ich bin bereit für ein weiteres Streitgespräch wegen Vincents Briefen. Holst tupft sich mit einem Taschentuch den Schweiß von seiner übergroßen Stirn. Ich sehe, wie ein Tropfen im Zickzackkurs in seinen buschigen Augenbrauen verschwindet.

»Wegen meines Entwurfs«, sagt er und schüttelt heftig den Kopf, um den Tropfen loszuwerden. Der fällt auf die Bodenfliesen. »Die Lithografie.« Wieder schwenkt er sein Papier.

»Ihr Entwurf?« Ich kann keinen Hehl aus meiner Begeisterung machen. Das Bild ist für den Umschlag des Katalogs bestimmt. Jan und Holst helfen mir, die Vincent-van-Gogh-Ausstellung im Kunstzaal Panorama diesen Dezember vorzubereiten. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass es …«

Ich nehme das Blatt Papier. Und bin überrascht. Der Entwurf ist gleichzeitig wunderschön und ergreifend. Eine verblühte Sonnenblume vor einem schwarzen Hintergrund. Das Wort »Vincent« schwebt über den frei liegenden Wurzeln, und über der Blüte wartet ein Heiligenschein.

»Das berührt mein Herz«, sage ich und wische mir eine Träne aus dem Augenwinkel. »Theo hätte Ihre Arbeit sehr geschätzt.«

Ich sehe Holst an, der durch den Flur Richtung Küche blickt.

»Möchten Sie etwas trinken?«, frage ich, was er bejaht.

»Ich habe mit Jan gesprochen«, meint er und geht auf meinen Salon zu.

Einmal tief durchatmen. Damit hatte ich gerechnet. »Darüber, die Briefe mit einzubeziehen.«

Ich sehe, wie er nickt. Er betrachtet die Sonnenblumen über dem Kamin.

Seit er selbst den Briefwechsel gelesen hat, ist Jan von meinem Vorschlag begeistert – dass wir Zitate aus Vincents Briefen mit ausstellen, damit Betrachter die Werke besser verstehen können. Jan hat sogar schon überlegt, welche Ausschnitte zu welchem Bild im Kunstzaal Panorama passen könnten. Was ich da vorschlage, ist etwas Neues, etwas, das die Kunstwelt zuvor noch nie gesehen hat. Und das Interesse an den Möglichkeiten ist bereits riesig. Holst jedoch ist nach wie vor wenig überzeugt und hält damit auch nicht hinterm Berg.

»Sie wollen doch nicht unprofessionell wirken.« Er zeigt auf das Gemälde. »Die Kunst kann für sich selbst sprechen.«

»Die Worte meines Schwagers verstärken dieses Verständnis noch«, beharre ich, doch Holst schüttelt den Kopf. »Ich weiß durchaus, wovon ich rede.«

Als er mich ansieht, weiche ich seinem Blick nicht aus. Jan hat mir erzählt, dass Holst mich für eine Frau hält, die »fanatisch ohne jedes Wissen schwärmt«. Er muss begreifen, dass seine Worte bei mir angekommen sind, mich seine Meinung aber nicht länger interessiert. Vincents Kunst und seine Briefe müssen zusammen ausgestellt werden. Sogar Jan hat mir bestätigt, dass die Zitate seine Bilder erhellen und dass dafür jetzt genau der richtige Zeitpunkt ist. Ich habe Künstlern, Kunsthändlern und Kritikern zugehört. Es gibt da eine Verschiebung in der Kunst und in der Literatur: Nun werden auch soziale und spirituelle Fragen in die Interpretation mit einbezogen. Vincent war seiner Zeit immer voraus, vielleicht war er sogar zeitlos. Seine Gemälde und Worte vereinen sich stets. Sein Leben und seine Kunst als Einheit zu betrachten fühlt sich richtig an. Mein Schwager war einzigartig. Ich kann nur hoffen, dass auch Theo diese Entscheidung gutheißen würde.

»Es werden siebenundachtzig Gemälde und zwanzig Zeichnungen gezeigt – die bisher umfangreichste Ausstellung«, erkläre ich. »Die Preise für seine Werke steigen bereits.«

Holst dreht sich lächelnd zu mir um. Geld zählt. Dieser Mann misst Erfolg in barer Münze.

»Und wenn Sie sich Vincents Bilder ansehen, werden sie von seiner Mühe erfahren, seinem Kummer, wie er sich einen Teil seines Ohres abgeschnitten hat …«, sage ich.

Ich höre sein missbilligendes Schnauben.

»Haben Sie sonst noch etwas zu sagen?«, frage ich. Holst läuft rot an. »Ich beweise Ihnen gern das Gegenteil.«

Da schüttelt er lachend den Kopf und hebt beschwichtigend die Hände. Ich muss unwillkürlich grinsen.

»Ich bin sicher, das werden Sie«, erwidert er. »Aber wie sieht es denn zuerst mit einem Kaffee und koekje aus?«