Hanson versuchte eine Auskunft von YouTube über zwei von Alex Plaskitts hartnäckigeren Hatern zu bekommen, als Jason im CID auftauchte. Er deutete ein resigniertes Schulterzucken an, das unmissverständlich fragte, warum sie ihre Wochenenden hier verbrachten. Sie reagierte mit einem lakonischen Kopfschütteln, musste jedoch lächeln.
Jason zwinkerte ihr zu, als er sich an seinen Schreibtisch setzte, formte mit den Händen ein T und hielt dann fünf Finger hoch. Tee in fünf Minuten und eine Gelegenheit, ihm von der Mordermittlung zu erzählen, das hörte sich gut an. Sie redete gern mit ihm über die Polizeiarbeit. Er liebte seinen Job ebenso sehr wie sie ihren.
Kurz darauf summte ihr Handy. Der DCI schrieb, dass Alex Plaskitts Schwester am Nachmittag Zeit für ein Gespräch hatte, und schlug vor, dass sie mit Ben hinfahren sollte.
Bei der Vorstellung wurde ihr mulmig. Die Adresse war in der Nähe von Winchester, gut fünfundvierzig Minuten entfernt. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich im Augenblick einer Dreiviertelstunde allein in einem Wagen mit Ben Lightman gewachsen fühlte.
Sie blickte zu Ben, der mit irgendwas sehr beschäftigt schien. Sie würde noch eine Weile warten, dachte sie. Sie konnten losfahren, wenn sie mit Jason ein Tässchen getrunken und eine Runde geplaudert hatte.
Sie legte ihr Handy zurück auf den Schreibtisch und sah, dass eine E-Mail eines technischen Mitarbeiters von YouTube eingegangen war; er würde ihr in Kürze die E-Mail-Adresse einer anderen Abteilung innerhalb des Unternehmens zusenden, wo man ihr eventuell weiterhelfen könne, obwohl anonyme Accounts sehr schwer zurückzuverfolgen seien.
Hanson schrieb kurz zurück, dass ihr das durchaus bewusst sei, und bedankte sich für die Hilfe. Kurz vor Weihnachten hatte sie einen Vortrag darüber gehört, wie digitale Fußabdrücke die Identifizierung von Verbrechern in Zukunft immer leichter machen würden. Sie fragte sich, wann diese Entwicklung sich auch tatsächlich positiv auf ihre alltägliche Arbeit auswirken würde.
Lightman beendete den Anruf beim Sergeant vom Dienst und gab seine Erkenntnisse in die Datenbank ein. Danach rief er den DCI zurück, um zu bestätigen, dass eine Beteiligung des aggressiven Betrunkenen in dem Club definitiv ausgeschlossen werden konnte.
»Er wurde vor eins in Gewahrsam genommen und bis sieben Uhr heute Morgen festgehalten«, berichtete Lightman.
»Danke«, sagte Sheens. »Sind Sie und Juliette auf dem Weg zu Phoebe Plaskitt?«
Er blickte zu Hanson, die einen Daumen hochhielt.
»Wir wollen gerade aufbrechen, glaube ich.«
»Mich würde besonders interessieren, was die Schwester von Alex’ Mann hält«, sagte der DCI. »Gab es Probleme zwischen den beiden? Wie beurteilt sie ihre Beziehung?«
»Klar«, bestätigte Lightman.
Er legte auf und dachte, dass er vor der Fahrt einen Kaffee brauchen könnte. Er wollte gerade vorschlagen, einen zu machen, als Hanson aufstand, ihn vage anlächelte und Richtung Küche ging. Er blickte zu Jason Walkers leerem Schreibtisch und nickte still. Er würde noch ein paar Minuten warten.
Jason wartete bereits mit zwei dampfenden Bechern Tee. Er lehnte am Tresen, einen Arm vor den Bauch gelegt, das Handy in der Hand.
Dass er die Beutel schon rausgenommen hatte, war eine kleine Enttäuschung. Hanson hatte es bisher nicht übers Herz gebracht, ihm zu sagen, dass sie den Tee lieber doppelt so lange ziehen ließ wie er.
»Wie geht’s?«, fragte sie und berührte kurz seine Schulter.
»Ganz gut.« Er drückte lächelnd ihre Hand und steckte sein Handy wieder ein. Die beiden achteten darauf, ihre Zuneigungsbekundungen im Büro sorgfältig zu dosieren und sich auf kurze unverfängliche Berührungen zu beschränken. »Ich hab auf Ebay weiter nach gestohlenem Soundequipment gesucht«, fuhr er fort. »Du wärst erstaunt, wie viele identische Modelle eines Verstärkers zum Verkauf angeboten werden.«
»Ich dachte, du hättest schon alle entdeckt?«, sagte Hanson und nahm sich den weniger anämisch aussehenden Becher Tee.
Jason hatte einige Wochen gegen ein gut organisiertes Netz von Einbrechern ermittelt. Es hatte gedauert. Die Gruppe war äußerst vorsichtig vorgegangen und hatte die gestohlene Ware nur sehr bedachtsam verkauft, jeweils als Einzelstücke über zahlreiche verschiedene Ebay-Konten.
»Das dachte ich auch«, erwiderte Jason. »Aber die in der Uni gestohlenen Audiokomponenten und all die vor dem Sportzentrum geklauten Fahrräder sind bisher über keins der von uns identifizierten Konten angeboten worden.«
»Oh, so ein Mist.«
»Schon okay.« Jason zuckte knapp mit den Schultern. »Ich schnapp die schon noch. Vielleicht nur nicht heute.« Er richtete sich gerade auf und nahm seinen Teebecher. »Und bei dir? Mordfall?«
»Ja.« Sie trank einen Schluck von der Plörre. »Erstochen.«
»Und wie läuft’s?«
»Zäh bis jetzt.« Sie zuckte die Achseln. »In den frühen Morgenstunden lungert in Wohngegenden halt kaum jemand draußen rum.«
Sie musste unwillkürlich an Damian denken, wie er in seinem Wagen vor ihrem Haus saß und sie durch das Küchenfenster beobachtete, und spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. Sie versuchte einen weiteren Schluck Tee zu trinken, doch der Becher schlug schmerzhaft gegen ihre Zähne.
»Alles in Ordnung?«, fragte Jason und drückte ihren Arm. Sie sah ihn an und erkannte seine Besorgnis. Ihr kam der Gedanke, dass sie ihm wirklich einfach alles erzählen könnte. Ihre Last mit ihm teilen.
Sie konnte nicht mal erklären, warum sie sich überhaupt dagegen wehrte. Sich selbst gegenüber rechtfertigte sie es damit, dass sie keinen Schatten auf ihre Beziehung werfen wollte. Aber sie wusste, dass es komplizierter war. Es hatte auch mit ihrer Scham darüber zu tun, dass sie es sich hatte gefallen lassen. Und je länger sie es hinausgeschoben hatte, ihm davon zu erzählen, desto schwerer war es geworden, bis es sich zu einem Riesending entwickelt hatte, das sie vor ihm versteckte.
Sie schwankte und war kurz davor, alles rauszulassen, doch dies schien weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt dafür. Also stellte sie eilig den Tee ab und lächelte bemüht.
»Er war noch so jung«, sagte sie, »und dass er dann auf diese Weise sterben musste … In seinen YouTube-Videos macht er einen echt netten Eindruck. Morde sind einfach scheiße, weißt du?«
Sie besuchte eine Zeugin. Das war alles, worüber Hanson nachdenken musste. Nicht über die fünfundvierzigminütige Fahrt mit Ben Lightman. Nicht über ihre Verlegenheit oder ihre Verwirrung über ihre verlorene Freundschaft. Und auf gar keinen Fall über den Abend, bevor sie angefangen hatte, sich mit Jason zu treffen, als sie und Ben zusammen in einer Bar gewesen waren und er einen äußerst intensiven Moment lang so gewirkt hatte, als würde er ihr erzählen, was hinter seiner unerschütterlichen Fassade vor sich ging. Aber dann hatte er es sich offenbar anders überlegt und war gegangen.
Die ersten fünf Minuten der Fahrt verstrichen in absolutem Schweigen. Wenn es darum ging, Stille zu wahren, konnte keiner Lightman das Wasser reichen. Hanson hingegen spürte einen wachsenden Druck, irgendetwas zu sagen.
Sie seufzte unwillkürlich und versuchte, es mit einem Gähnen zu überspielen. Kaum eine Minute später sagte sie dann, den Blick starr auf die Straßen gerichtet: »Ich wollte … nach deinem Dad fragen. Schon vor Ewigkeiten. Tut mir leid, dass ich so scheiße bin.«
»Oh.« Sie meinte, aus den Augenwinkeln ein gutmütiges Achselzucken wahrgenommen zu haben. »Du bist nicht scheiße. Er ist ein paarmal im Krankenhaus gewesen und wieder entlassen worden, es war ziemlich … beschissen. Man kann nicht viel machen.«
»Ich könnte eine bessere Freundin sein«, entgegnete Hanson, sah ihn an und wandte den Blick wieder ab. »Ein bisschen unterstützender.«
Darüber schien Lightman eine Weile nachzudenken, bevor er antwortete: »Es ist schwierig. Ich tue mich nicht immer leicht, Hilfsangebote anzunehmen. Ich finde es deprimierend, an meinen Dad zu denken, also vermeide ich es auch, darüber zu sprechen, und ich fühle mich immer … irgendwie sonderbar.«
Das war gar nicht so anders als das, was sie empfand, wenn es darum ging, Jason von Damian zu erzählen, dachte sie, erstaunt, in Bens Verschlossenheit eine Gemeinsamkeit mit ihm zu entdecken, und auch überrascht, dass er freiwillig so viel von sich selbst offenbarte.
»Klingt logisch«, sagte sie und fügte mit einem knappen Grinsen hinzu: »Ich meine, dass du sonderbar bist.«
Sie hörte Bens leises Lachen und lächelte jetzt richtig. Es war Monate her, seit sie ihn zum Lachen gebracht hatte. Bei Ben fühlte sich das immer an wie ein Triumph. Nicht nur, weil er aussah wie der Schulschwarm, den sie in ihrer Jugend immer zu beeindrucken versucht hatte.
»Aber was ist mit dir?«, fragte er. »Wie geht’s?«
»Oh, ganz gut«, sagte sie und spürte die Hitze, die in ihre Wangen stieg. »Ich bin lange überfällig mit einem Besuch bei meiner Mum, und offenbar zurzeit unfähig, die Waschmaschine anzuschmeißen. Aber ansonsten alles bestens.«
Ben nickte, sah sie an und dann wieder auf die Straße. Sie war darauf gefasst, dass er nach Jason fragte, doch stattdessen sagte er: »Was ist mit deinem furchtbaren Ex? Hat er dir das Leben weiter schwer gemacht?«
»Oh …« Einen Moment lang wusste Hanson nicht, was sie sagen sollte. Woher hatte er gewusst, dass das die Frage war, die sie beschäftigte? Sie hatte Damian seit dem letzten Jahr nicht mehr erwähnt und auch niemandem erzählt, wie ihr Leben scheinbar implodiert war. Niemandem.
Während sie sich noch eine Antwort zurechtlegte, summte ihr Handy, und sie griff danach wie nach einem Rettungsseil.
»Bloß Domnall«, sagte sie mit einem künstlichen Lachen, als sie die Nachricht las. »Er fragt, ob wir auf dem Rückweg ein paar Donuts für morgen mitbringen wollen?«
Ben schüttelte den Kopf. »Nur wenn bei unserer Rückkehr Pizza auf uns wartet.«
»Ja, guter Einwand.« Hanson nahm sich Zeit, die Antwort zu tippen, und wandte den Blick danach von Ben ab aus dem Fenster, so als hätten sie nie eine Unterhaltung über Damian begonnen. Als ob alles in bester Ordnung wäre.
Jonah saß auf einem der bequemen beigefarbenen Stühle in der Eingangshalle des Leichenschauhauses und machte sich Gedanken über Issa. Er sah die Trauer, die im Augenblick noch die Form von Leugnung annahm. Auf der Fahrt hierher hatte Issa sechs oder sieben Mal einen Satz mit den Worten begonnen: »Wenn er es nicht ist …« Und Jonah hatte sich schwergetan, mit den richtigen Worten zu antworten.
Ihm wäre sehr viel wohler, wenn er Issa ein paar förmliche Fragen hätte stellen können. Denn es gab einiges, das ihn interessierte, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Es ließ sich nicht ignorieren, dass Issa mindestens zwei extrem wütende Nachrichten an Alex geschrieben hatte.
Wut auf den Partner war natürlich nicht automatisch ein Mordmotiv. Im Allgemeinen wurden Männer seltener von ihrer Partnerin ermordet als Frauen. In gleichgeschlechtlichen Beziehungen sah das jedoch schon anders aus. Gleichwohl deuteten Issas Nachrichten an, dass er nicht wusste, wo Alex sich aufgehalten hatte.
Jonah fragte sich, ob es weitere Nachrichten von Issa gab und was darin stand. Er hatte sich an die Vorschriften gehalten und keinen Versuch unternommen, das Telefon selbst zu entsperren. Das war ein Job für das Technikteam. Deshalb hatte er nur die Nachrichten auf dem Sperrbildschirm gesehen.
Er hatte Detective Chief Superintendent Wilkinson gebeten, dafür zu sorgen, dass das Technikteam dem Handy oberste Priorität einräumte, was der DCS zugesagt hatte. Deshalb hoffte Jonah, dass er bis zum späten Nachmittag Daten über Alex’ Aufenthaltsort und seine Kontakte bekommen würde.
Im selben Moment summte sein Telefon. Er hatte es in der Totenhalle auf Vibrieren gestellt, damit sein Team ihn erreichen konnte. Aber die Nachricht, die er auf dem Display las, war von seiner Ex Michelle.
Beim Anblick ihres Namens spürte er einen Stich im Magen, eine unwillkommene Erinnerung an ihre letzte Begegnung und das schlechte Gewissen, das er deswegen seitdem hatte.
Ihre Nachricht war kurz und beiläufig.
Hi. Hättest du heute irgendwann Zeit für einen kurzen Anruf? Ich könnte deinen Rat brauchen.
Er seufzte. Er hatte den starken Verdacht, dass das ein Vorwand war, um Kontakt mit ihm aufzunehmen. Wenn er raten müsste, würde er sagen, dass Michelle wahrscheinlich gerade eine Trennung hinter sich hatte und sich verletzlich fühlte. Sie streckte die Hand nach ihm aus, weil er auch ein Jahr nach ihrer Trennung noch Interesse gezeigt hatte.
Er fragte sich, ob er überhaupt antworten sollte und was er dann verdammt noch mal sagen sollte, doch bevor er zu einem Schluss kam, vibrierte sein Telefon erneut, diesmal mehrfach hintereinander. Ein eingehender Anruf.
Er blickte durch die Tür in den hinteren Teil des Gebäudes. Keine Spur von Issa, der von der Identifizierung der Leiche zurückkam, also ging Jonah zur Eingangstür und nahm den Anruf an.
»Hier ist Charlie«, hörte er den unverkennbaren Sheffield-Akzent des Clubbesitzers. »Wir haben vorhin miteinander gesprochen. Ich habe die Aufnahmen der Überwachungskamera an der Tür durchgesehen, Ihr Opfer ist um ein Uhr dreizehn gegangen.«
Jonah nickte. »Das ist großartig, vielen Dank. War er in Begleitung?«
»Nein«, sagte Charlie, »aber ich habe doch diese dunkelhaarige Frau erwähnt, die so betrunken war. Sie hat den Club kurz vorher verlassen. Sieht aus, als könnte er ihr gefolgt sein.«
Jonah drehte sich um, als er aus Richtung der Leichenhalle Schritte vernahm. »Können Sie mir ein Standbild der Frau schicken? Das Video brauchen wir auch, aber wenn Sie das Standbild sofort schicken können, kann ich feststellen, ob jemand sie erkennt.«
»Klar«, sagte Charlie. »Mach ich sofort. Ihre E-Mail-Adresse …?«
»Steht auf der Karte, die ich Ihnen gegeben habe«, sagte Jonah, gab sie jedoch noch einmal mündlich durch.
Als er das Gespräch beendete, wurde Issa gerade von der Leiterin der Totenhalle, einer Frau, vor der Jonah unglaublichen Respekt hatte, zu der Sitzgruppe geführt. Issas Gesicht sah weiß, verkniffen und insgesamt erbärmlich aus, und Jonah spürte eine Welle des Mitleids.
»Ruhen Sie sich ein paar Minuten aus«, sagte die Leiterin, als Issa sich schwer auf einen Stuhl fallen ließ. Er wirkte, als müsste er sich übergeben, und Jonah fragte sich, ob das durch den unmittelbaren Anblick oder den abrupten und kompletten Verlust der letzten Hoffnung ausgelöst worden war, an die er sich so verzweifelt geklammert hatte. Nun konnte er nicht mehr fragen, ob es vielleicht nicht Alex war; er hatte den Leichnam seines Mannes mit eigenen Augen gesehen.
Jonah fragte sich auch, ob Leugnung Issas Art war, die eigenen Taten auszublenden. Er wäre nicht der erste Mörder, der sich einredete, dass er niemandem etwas getan hatte.
»Ich …« Issa wandte den Kopf und stand wieder auf. »Ich brauche … frische Luft.«
»Natürlich.« Jonah sah Issa durch den Haupteingang hinausgehen und machte sich auf den Weg, ihm einen Pappbecher mit Wasser zu holen. Als er ihn an dem Wasserspender in der Ecke füllte, ging Charlies E-Mail ein. Sie hatte zwei große Videoanhänge, für deren Download sein Handy eine Weile brauchen würde. Aber es gab auch ein Standbild, vermutlich von der betrunkenen dunkelhaarigen Frau.
Es war offensichtlich noch zu früh, um Issa ein Bild von irgendjemandem zu zeigen, den Alex womöglich gekannt hatte, aber Jonah war trotzdem neugierig. Mit der linken Hand drückte er unbeholfen die Tasten, um die Datei zu öffnen, während er in der rechten den Becher mit Wasser hielt.
Als sich das angehängte Bild öffnete, hätte er sein Handy beinahe fallen lassen. Die Frau, die den Club verließ, war ohne jeden Zweifel Louise Reakes.