»Du siehst super aus«, versicherte ihr April. »Hör endlich mit dem blöden Getue auf und trink lieber was.«
Louise trug einen weiteren Strich Lidschatten auf, bevor sie den Pinsel auf den Waschtisch legte und nach ihrem Glas Prosecco griff.
»Irgendetwas stimmt noch nicht«, sagte Louise und schaute wieder in den Spiegel.
»Von wegen«, erklärte April bestimmt. »Alles ist perfekt.«
»Aber ich sehe nicht wie ich aus«, sagte Louise und versuchte herauszufinden, was nicht stimmte.
»Weißt du, was ich glaube?« April kam zu ihr, legte ihr den Arm um die Schulter und begutachtete sie im Spiegel. »Ich glaube, dass du normalerweise schon betrunken bist, wenn wir uns zum Ausgehen zurechtmachen. Was du siehst, ist die nüchterne Louise in einem ihrer schicken Outfits, und das ist einfach ungewohnt für dich, weil du dich noch nie so gesehen hast.«
Mit einem kurzen Lachen fragte sich Louise, ob April vielleicht recht hatte. Sie warf noch einmal einen prüfenden Blick in den Spiegel und dachte an die vielen früheren Gelegenheiten, bei denen sie dank des Alkoholnebels, durch den sie sich begutachtet hatte, immer sehr zufrieden mit ihrem Aussehen gewesen war.
Dann merkte sie, dass sie nicht lächelte. Das war, was nicht stimmte. Die betrunkene Louise lächelte immer. Sie wollte bloß Spaß haben und dachte sich nichts dabei, wenn ihr Lippenstift nicht perfekt war.
Die nüchterne Louise nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Prosecco. »Heute Abend will ich nicht die betrunkene Louise werden, aber die nüchterne möchte ich auch nicht sein.« Sie rülpste leicht, als die Bläschen wieder hochkamen, und lachte. »Darf ich dir die beschwipste Louise vorstellen. Man kann sich nämlich auch mit der beschwipsten Louise blendend amüsieren. Aber sie kennt ihre Grenzen.«
»Ich will wie die beschwipste Louise werden«, sagte April und leerte ihr Glas. Sie schenkte sich bereits ein neues ein, bevor Louise einen weiteren Schluck geschafft hatte. »Nur fürchte ich, dass ich es nicht so eilig damit habe …«
Louise beobachtete ihre Freundin nachdenklich. An diesem Punkt eines Abends war es immer Aprils Aufgabe gewesen, Louise aus der Reserve zu locken. Dann hatte die lebhafte, dominante April darauf bestanden, dass sie etwas tranken, damit sich Louise besser fühlte. Und zum ersten Mal fragte sich Louise, ob das wirklich der Grund war, weshalb April Wein mitbrachte und dann eine Runde Tequila nach der anderen bestellte.
»Wie geht es dir eigentlich?«, fragte Louise. »Wie sieht’s in dir aus?«
»Ach, ganz okay«, sagte April achselzuckend.
»Besonders glücklich wirkst du aber nicht … wenn ich mir’s genauer überlege.«
April lachte. Doch dann stürzte sie sofort das nächste Glas hinunter und schluckte schwer. Und Louise hatte den Eindruck, als schluckte sie Tränen hinunter.
Und dann sagte sie. »Ich weiß auch nicht. Wahrscheinlich … fehlt mir einfach meine Schwester. Und vielleicht mache ich mir auch Sorgen, dass sich in nächster Zeit einiges in meinem Leben ändern wird.« Sie schüttelte den Kopf.
»Du hast Dee schon länger nicht mehr gesehen, oder?«, fragte Louise behutsam.
April nickte. »Eine ganze Weile. Erst kürzlich habe ich von ihr geträumt. Wir wollten einen Ausflug machen, und als ich dann aufgewacht bin, habe ich mich gefühlt, als wäre mir – ich weiß auch nicht – etwas Wichtiges genommen worden.« Sie seufzte bedrückt. »Aber darüber komme ich schon hinweg. Ich muss mich bloß zusammenreißen.«
»Vielleicht ist es gar nicht so gut, wenn du dich immer zusammenzureißen versuchst«, sagte Louise behutsam. »Wenn du möchtest, können wir gern darüber reden.«
April verdrehte zwar die Augen, sagte aber: »Danke, das ist lieb von dir.« Sie legte den Arm um Louise und zog sie an sich. Dann griff sie nach ihrem Handy. »Lass uns ein Foto von uns machen. Zur Erinnerung an diesen besonderen Moment.«
Sie hielt das Handy auf Armlänge von sich und studierte sie beide ein paar Sekunden auf dem Display, bevor sie lächelte und auf den Auslöser drückte.
»Du weißt schon«, sagte Louise, »dass dich die beschwipste Louise genauso gern mag wie die beiden anderen Louises. Und dass sie immer für dich da sein wird.«
»Natürlich weiß ich das.« Es sah so aus, als wollte April noch mehr sagen, aber stattdessen schaute sie auf ihr Handy. »Okay, das Taxi ist in fünf Minuten hier. Lass uns mal austrinken.«
Louise spürte ein Zwicken im Magen. Sie war nicht sicher, ob sie dafür bereit war. So sehr sie die verstörenden Vorfälle der letzten Woche auch vergessen wollte, war ihr alles andere als wohl bei dem Gedanken, schon am nächsten Freitagabend wieder in einem Club zu feiern, in dem Männer waren, die vielleicht mit ihr flirten wollten. Es war ihr schon am letzten Sonntag schwer genug gefallen, ganz allein auszugehen. Und damals war sie noch nicht sicher gewesen, dass ein scheinbar netter Mann sie auf den Boden gedrückt und vergewaltigt hatte.
April war jedoch eine überzeugte Verfechterin der Theorie, dass man sofort wieder in den Sattel steigen sollte, wenn man vom Pferd fiel. Sie hatte das Hotel, in das sie es am Montag nicht geschafft hatten, noch einmal gebucht und darauf bestanden, Louise auf eine zweistündige Massage einzuladen. Außerdem hatte sie im VIP-Bereich eines Clubs, dessen Geschäftsführer sie kannte, Plätze für sie beide reserviert.
»Wir werden nicht wie sonst mit allen anderen an der Bar stehen«, sagte April. »Du wirst einen festen Platz an einem Tisch haben, an den du dich zurückziehen kannst, wenn du dich irgendwie unwohl fühlst, und wenn es dir nicht gefällt, gehen wir einfach.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Aber keine Angst, das wird ein Abend, an den wir uns noch lange erinnern werden. Das habe ich im Gefühl.«
»Ach, wirklich?«, hatte Louise erwidert und danach prompt kapituliert. Im Grunde hatte April ja recht. Bloß weil irgendein Psycho sie angegriffen hatte, war das noch lange kein Grund, sich zu verkriechen. Schließlich war sie eine starke Frau.
Trotzdem hatte sie gewaltiges Herzklopfen, als sie in ihren Mantel schlüpfte und ihre große Handtasche so um ihre Schultern schlang, dass sie wie ein Schutzschild vor ihr hing. Außerdem fragte sie sich wehmütig, ob die betrunkene Louise etwas taffer gewesen wäre.
Zum ersten Mal seit sechs Wochen traf sich das Team wieder zu einem Pub-Abend. Damit seine Leute auch wirklich abschalten und sich amüsieren konnten, verabschiedete sich der DCI meistens schon nach 45 Minuten. Doch bevor er diesmal ging, redete er noch kurz mit Hanson allein.
»Ich möchte mich ja nicht in Ihre Privatangelegenheiten einmischen«, begann er, »aber mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihnen ein Ex-Freund Ärger macht.«
Hanson spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, als er dieses Thema anschnitt. Ihr war jedoch klar, dass er über alles Bescheid wissen sollte.
»Leider kann er es nicht lassen, mir nachzustellen, mich zu verleumden und mein Haus zu verwüsten«, sagte sie. »Deshalb blieb mir gar nichts anderes übrig, als ihn anzuzeigen.«
Hanson vermutete, dass Chief Inspector Heerden dem Chef davon erzählt hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich dazu verpflichtet gefühlt. Hanson lag jedoch viel daran, dass diese Angelegenheit von der Streifenpolizei geklärt wurde. Die Vorstellung, der Fall könnte im CID landen, bei den Leuten, mit denen sie täglich zusammenarbeitete, war ihr zutiefst unangenehm.
Außerdem wollte sie unter allen Umständen vermeiden, dass sie in die Ermittlungen einbezogen wurde. Zumal es dafür auch zu wenig zu ermitteln gab. Jason hatte ein Protokoll der Unterhaltung geschrieben, die er mit ihrem Ex im Pub geführt hatte, mitsamt allen falschen Behauptungen Damians. Da noch nicht endgültig geklärt war, wie es mit ihnen weitergehen sollte, war es ihr peinlich gewesen, ihn darum zu bitten, aber er hatte sich sofort dazu bereiterklärt. Und Ben hatte natürlich einen Bericht über Damians Auftritt am Abend des Brandanschlags beigesteuert. Außerdem waren da noch ihre eigenen Tagebucheinträge, in denen sie die widerwärtigen Belästigungen in allen Einzelheiten festgehalten hatte.
Allerdings hätte vermutlich nichts davon für eine Anklage genügt, wenn Damian nicht den Molotowcocktail in ihre Küche geworfen hätte. Sie musste immer noch grinsen, wenn sie daran dachte. Es war der einzige echte Fehler, den er bisher gemacht hatte, ausgelöst vermutlich von seiner Wut, dass sie ihren Job immer noch nicht verloren hatte und ihre Kollegen sich sogar schützend vor sie gestellt hatten.
Am Morgen danach hatte sie Lightman um eine kurze Unterredung gebeten. Sie hatte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen können, als sie zu ihm ins Besprechungszimmer gekommen war. Trotz des riesigen Lochs in ihrem Küchenfenster und trotz eines kaum weniger großen Lochs in ihrem Schlafhaushalt fühlte sie sich energiegeladener als seit Monaten.
»Ich werde Damian anzeigen«, sagte sie. »Wenn möglich, gleich heute. Könntest du vielleicht ein Protokoll der Unterhaltung schreiben, die du gestern draußen mit ihm geführt hast? Ich würde seine jüngste Aktion gern damit in Verbindung bringen.«
»Und was ist das für eine Aktion?«, fragte er.
Sie erzählte ihm mit wenigen Worten von Damians nächtlichem Brandanschlag.
»Das heißt, jetzt haben wir ihn endlich am Kragen«, sagte sie mit leuchtenden Augen. »Ich habe ihn nämlich ausgetrickst und alles aufgenommen.«
Lightman sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Die Kameraattrappen …«
»Ich habe sie durch echte Kameras ausgetauscht.« Sie lachte geradezu hysterisch. »Sie waren ziemlich teuer, aber diese Anschaffung hat sich gelohnt. Damian ist so ein selbstgefälliges, ichbezogenes Arschloch, und natürlich kam er sich ganz toll vor, weil er sofort gemerkt hat, dass es Attrappen waren. Es sind nämlich die gleichen, die er an unserem Haus angebracht hat, als wir in Birmingham zusammengelebt haben. Deshalb war er sicher, dass sie Fake sind, als er sie an meinem Haus hier gesehen hat. Und natürlich würde er mir nie zutrauen, dass ich richtige Kameras in sie einbauen könnte.«
Sie hielt ihr Handy hoch, auf dem eine Nahaufnahme von Damians Gesicht zu sehen war. Er hatte ganz bewusst mit einem triumphierenden Grinsen in die Kamera über der Eingangstür geschaut, die er für eine Attrappe hielt.
»Auf der Kamera im Obergeschoss ist zu sehen, wie er am Straßenrand parkt und auf das Haus zugeht. Nimmt man dann noch dazu, dass er meinen Bewegungsmelder zerstört hat, ist bereits der Tatbestand von gewalttätigem und zerstörerischem Eindringen gegeben.«
»Klasse«, sagte Lightman mit dem strahlendsten Lächeln, das sie je an ihm gesehen hatte. »Einfach genial.«
Dreieinhalb Stunden später reichte sie ihre Anzeige ein. Auch wenn sie inzwischen nicht mehr so zuversichtlich war – und sogar wieder Bedenken bekam, wie Damian reagieren würde, wenn er von der Anzeige erfuhr –, hatte sie dennoch das Gefühl, dass eine schwere Last von ihren Schultern gefallen war.
»Na ja.« Der Gesichtsausdruck des DCI lag irgendwo zwischen vorsichtig und freundlich. »Ich werde mich vielleicht nicht direkt in die Sache einmischen können, aber das heißt nicht, dass ich Sie nicht dabei unterstützen kann. Sagen Sie mir einfach, wenn Sie mit jemandem darüber reden und einfach mal richtig Dampf ablassen wollen, um besser darüber hinwegzukommen.«
Hanson grinste. »Danke, Chef, darauf komme ich vielleicht gern mal zurück. Und ähm …« Sie druckste ein wenig herum. »Danke auch, dass Sie zu mir gestanden haben, als er diese Mails an Sie geschickt hat. Ben hat mir davon erzählt. Vielen Dank für Ihren Rückhalt und Ihr Vertrauen in mich.«
»Ach was«, sagte Sheens achselzuckend. »Hatte ich denn überhaupt eine Wahl? Sonst hätte es ja so ausgesehen, als hätte ich eine schlechte Personalentscheidung getroffen, und das …«
Sie lachte gelöst. »Da haben Sie natürlich auch recht. Trotzdem vielen Dank.«
Jonah gefiel der Abend im Pub besser, als er erwartet hatte. Normalerweise fiel es ihm bei solchen Gelegenheiten schwer, sich zu entspannen. Er war sich dann immer zu deutlich bewusst, dass er der Chef war. Und obwohl er sein Team sehr mochte, rechnete er dennoch halb damit, dass sie über Dinge, die er sagte, Blicke tauschten oder dezente Andeutungen machten, dass er langsam gehen sollte.
An diesem Abend jedoch genoss er die Gesellschaft. Er war unzufrieden mit sich und dem immer noch nicht gelösten Fall und konnte einfach nicht abschalten. Irgendetwas in ihm weigerte sich nach wie vor zu glauben, dass Alex Plaskitt tatsächlich so verkorkst gewesen sein sollte, und er musste sich eingestehen, dass ihm die Sache keine Ruhe ließ.
Auch die moralische Grauzone, in die Louise Reakes’ Verhalten fiel, hatte einen üblen Nachgeschmack bei ihm hinterlassen. Wahrscheinlich konnte er gar nicht anders, als nach Gewissheiten und überzeugenden Lösungen zu suchen und nicht eher Ruhe zu geben, bis er eine Ermittlung zu einem befriedigenden Abschluss gebracht, alle offenen Fragen schlüssig geklärt und auch die letzten Zweifel ausgeräumt hatte. Nur war es im Leben selten so. Es gab nicht immer eine unstrittige Lösung der Frage, wer der Schuldige war. Und wenn es überhaupt einen Bösen gab, hatte das normalerweise einen Grund. Etwa Alex Plaskitts schreckliche Eltern oder dass sich Louise Reakes wegen der Untreue ihres Mannes regelmäßig betrunken und dann bei dem Angriff auf sie entsprechend ausgeteilt hatte.
Aber zum Glück hatten dafür alle in seinem Team Verständnis. Jeder von ihnen konnte nachvollziehen, dass er etwas gedrückter Stimmung war, obwohl eigentlich aller Grund zum Feiern zu bestehen schien. Ihren Gesichtern nach zu schließen, ging es ihnen ganz ähnlich, und das hatte etwas Tröstliches.
Dann kündigte um Viertel vor neun ein Summen seines Handys eine weitere Textnachricht seiner Ex-Frau an.
Hast du meine Nachricht vom Samstag nicht bekommen? Ich muss dringend mit dir reden. Kannst du mich bitte anrufen?
Die Nachricht drückte seine Stimmung noch mehr. Er wusste nicht, was er tun sollte. Michelle einfach zu ignorieren, erschien ihm wie unnötige Grausamkeit, auch wenn sie wahrscheinlich nur ein wenig Selbstbestätigung brauchte. Zugleich kam es ihm wie Verrat an Jojo vor, mit ihr zu reden. Und noch schlimmer, es erinnerte ihn an den fahrlässigen Ausrutscher vor vier Monaten, als er sich noch einmal mit seiner Ex getroffen und dabei die Dummheit begangen hatte, mit ihr zu schlafen.
Er schaute eine Minute auf die Nachricht, bevor er das Handy einsteckte. Er würde sie morgen anrufen. An diesem Abend wollte er seine Freundin sehen.
Hanson sah dem DCI auf dem Weg zum Ausgang hinterher und bedauerte, dass er nicht bleiben und einer von ihnen sein konnte.
»Muss ganz schön einsam sein, der Chef zu sein«, sagte sie zu O’Malley.
»Könnte man eigentlich meinen«, gab ihr O’Malley recht. »Aber groß leidzutun braucht er dir deswegen nicht. Er hat eine richtig scharfe Freundin und ein Haus, das dreimal so groß ist wie deines.« O’Malley beugte sich zu ihr vor. »Und dazu noch eine Pension, die sich sehen lassen kann.«
»Da hast du natürlich auch wieder recht«, sagte Hanson und griff nach ihrem Bierglas. »Er ist eindeutig ein Arschloch. Wer übernimmt die nächste Runde?«
Louise hatte es tatsächlich wieder in einen Club geschafft, der sich nicht nennenswert vom Blue Underground unterschied. Sie war nicht sturzbesoffen und amüsierte sich fast. Das »fast« hatte weniger mit einer gewissen Beklemmung zu tun als mit der Einsicht, dass sich Betrunkene in ihrem angeheiterten Zustand als unglaublich nervig erwiesen.
Es war eine eigenartige Erfahrung für sie, denn erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich noch nie betrunkene Menschen gesehen hatte. Die nüchterne Louise ging immer, bevor es zu spät wurde, und Säuferlouise schien alles durch eine rosa Brille zu sehen.
»O Gott, sieh dir mal den Kerl dort an«, sagte sie in ihrer abgeschirmten Nische zu April und beobachtete einen Clubbesucher, der in Richtung Bar torkelte und es dann schaffte, alle seine Kreditkarten aus seiner Geldbörse auf den Boden fallen zu lassen. Davor hatte er irgendein bedauernswertes Mädchen anzubaggern versucht, das ihn jedoch sofort schroff abgewimmelt hatte. »Bitte sag mir, dass ich nie so bin.«
April schaute zu dem Mann, der sich gerade bückte, um seine Karten aufzusammeln. Sie schien kurz nachzudenken, bevor sie sagte: »Um Gottes willen, nein. Du hast dich noch viel weniger im Griff.«
»Du mich auch«, sagte Louise lachend.
Ein Kellner kam an ihren Tisch und fragte, ob sie etwas zu trinken wollten. Für Louise war das eine völlig neue Erfahrung. Der Club war brechend voll. Normalerweise hätten sie sich mühsam einen Weg an die Bar bahnen müssen. Diese VIP-Privilegien waren ungewohnt für sie.
»Für mich noch einen Screwdriver bitte«, sagte April und fügte, an Louise gewandt, hinzu: »Du könntest übrigens auch einen vertragen.«
Louise sah sie skeptisch an. »Nein, ich … für mich nichts mehr. Ich hatte schon den Prosecco.«
»Bist du sicher?«, fragte April mit einer gewissen Durchtriebenheit, als wäre die einzige richtige Antwort darauf, es sich doch noch anders zu überlegen. Der unvermeidliche Druck, den Trinker auf diejenigen ausüben, die nichts trinken.
Louise seufzte. Wenn sie ganz ehrlich war, fühlte sie sich ziemlich überzuckert. Die drei alkoholfreien Cocktails, die sie getrunken hatte, hatten alle wie Multivitaminsäfte geschmeckt, und sie sehnte sich nach etwas Gehaltvollerem.
»Na gut. Einen einfachen Gin Tonic. Aber dabei bleibt es. Das ist für heute genug.«
»Super«, sagte April. Dann wandte sie sich an den Kellner, der ihre Bestellung entgegennahm: »Ist Charlie schon hier? Er wollte uns hallo sagen.«
»Klar«, sagte der Kellner und blickte sich um. »Er müsste eigentlich hier sein. Ich richte es ihm aus.«
»Das wäre zu nett.« Der Blick, mit dem ihn April dabei ansah, war hundert Prozent Raubtiermodus.
Der Kellner grinste zurück, bevor er sich entfernte, und Louise schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er dein Typ ist.«
»Genau das ist es doch«, sagte April. »Vielleicht muss sich mein Typ ändern.«
Louise sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Was ist eigentlich mit diesem Charlie? Diesem Freund von dir? Du scheinst schwer hinter ihm her zu sein.«
April bedachte sie mit einem frechen Grinsen. »Er ist ein richtiger Schatz. Aber eigentlich wollte ich ihn mit dir verkuppeln, meine Süße. Er ist der Typ, mit dem du auf der Hochzeit geturtelt hast.«
»Bloß nicht, April«, stieß Louise bestürzt hervor, um die Bemühungen ihrer Freundin schon im Ansatz zu ersticken. »Ich will wirklich nichts von ihm. Außerdem bin ich im Moment grundsätzlich noch nicht so weit, mich auf irgendwas einzulassen. Zum einen ist noch nicht klar, ob und wie es mit Niall weitergehen soll, zum anderen steckt mir immer noch tief in den Knochen, dass mich jemand angegriffen hat, auch wenn ich mich an kaum etwas erinnern kann … und überhaupt. Also bitte keine weiteren Verkuppelungsversuche mehr. Damit ist erst mal eine Weile Schluss, ja?«
April schüttelte enttäuscht den Kopf. »Wenn du meinst.« Sie setzte sich ein Stück zurück. »Aber glaub mir, er wird sich an euer wildes Geknutsche gar nicht mehr erinnern. Es wäre, als würdet ihr euch zum ersten Mal sehen.«
»Auf den Fall, den wir schon fast gelöst haben.« Ein wenig unsicher hob O’Malley sein Glas Tonic Water. Hanson bewunderte ihn dafür, wie gut er einen Schwips simulieren konnte, ohne einen Tropfen getrunken zu haben. Er hatte ihr einmal gestanden, dass er sein Verhalten nie bewusst dem seiner Kollegen anpasste. Er wurde einfach von ihrer Besoffenheit besoffen.
»Na ja, ich weiß nicht«, sagte Hanson und hob ihr Glas. »Ich habe heute fünf Stunden lang nachzuweisen versucht, dass Alex Plaskitt das Messer rechtzeitig erhalten hat, um eine junge Frau in London umzubringen, aber irgendwie will es mir nicht gelingen. Er hat nicht zwei Messer gleichzeitig bestellt, und die einzige Bestellung, die halbwegs dafür infrage käme, ist erst nach der Tat erfolgt. Und wenn dabei eine ähnliche Waffe verwendet wurde, muss ich mich wohl oder übel damit abfinden, dass er es nicht war, auch wenn alles andere perfekt passt.«
»Aber er hatte das Messer auch in der Nacht zum neunzehnten Januar nicht«, warf Lightman ein. »Er hat es nämlich Conti geschenkt. Wir sind allerdings sicher, dass er derjenige war, der Gianetta Jilani angegriffen hat. Sie hat ausdrücklich ein Messer erwähnt. Vielleicht hat er eine Weile eine andere Waffe verwendet und irgendwann beschlossen, sich ein Messer im Stil von Contis hochwertigem Steel-and-Silver-Modell zuzulegen.«
Hanson zögerte kurz. »Ja, oder … und wenn er es sich am Neunzehnten von Conti noch mal hat zurückgeben lassen? Wenn er ihm angeboten hat, für ihn darauf aufzupassen, und es ihm dann, nachdem er es verwendet hat, gründlich gesäubert wieder zurückgebracht hat?«
Hanson stellte rasch ihr Glas auf den Tisch und holte ihr Handy heraus.
»Ähm … es ist übrigens Freitagabend«, sagte O’Malley. »Da solltest du nicht mehr arbeiten.«
»Dauert nicht lang«, sagte Hanson grinsend.
Sie ging mit dem Telefon aus dem warmen Pub auf die kalte Straße hinaus. Es war wieder eine eisige Nacht, und die Shirley Road pfiff ein beißender, alles durchdringender Wind herunter. Sie bereute bereits, ihren Mantel auf der gepolsterten Bank gelassen zu haben, aber sie rief trotzdem an.
Step Conti klang misstrauisch, als er ans Telefon kam. Das konnte ihm Hanson schwerlich verdenken. Vermutlich war es normal, misstrauisch zu sein, wenn man gerade erfahren hatte, dass der beste Freund ein Serienvergewaltiger, wenn nicht sogar Schlimmeres war. Bisher hatte jeder Anruf der Polizei noch düsterere Wahrheiten enthüllt, und fast hatte Hanson ein schlechtes Gewissen, dass sie gerade im Begriff war, Alex Plaskitt auch noch einen Mord anzuhängen.
»Guten Abend, Mr Conti«, sagte sie. »Hier DC Hanson. Entschuldigen Sie die späte Störung, aber wir müssen dringend etwas nachprüfen. Es geht um den Abend des neunzehnten Januar, als Ihnen Alex Plaskitt und Ihre anderen Freunde dieses Messer geschenkt haben.«
»Einen Augenblick bitte …« Im Hintergrund ertönte kurzes Kindergeschrei. Vermutlich seine Tochter, die länger auf war, als sie sollte. Dann war zu hören, wie eine Tür geschlossen wurde, und Conti kam wieder ans Telefon. »So, jetzt bin ich wieder da.«
»Ich wollte nur wissen, was aus dem Messer geworden ist, nachdem Sie es bekommen haben«, fragte sie. »Haben Sie es behalten, oder hat es jemand anders an sich genommen?«
»Lassen Sie mich mal überlegen«, begann Conti. »Also, ich habe es hinter der Bar gelassen. Der Club, in dem wir waren, gehört nämlich Marcs Bruder, und er hat mir angeboten, es für mich aufzubewahren.«
»Marcs Bruder?«, sagte Hanson. »Charlie Ruskin?«
»Ja.«
»Gehören ihm auch noch andere Clubs?« Sie versuchte, die Frage so zu stellen, als wäre sie nicht weiter wichtig.
»Ja, insgesamt drei. Normalerweise gehen wir in den in Southampton, aber wegen meines Geburtstags sind wir über Nacht in Portsmouth geblieben.«
»Ach so, klar.« Sie war sich deutlich bewusst, dass sich ihre Stimme etwas eigenartig anhören musste. »Der in Southampton ist doch das Blue Underground, in dem Sie letzten Freitag waren?«
»Ja.«
Hanson schauderte, und das lag mindestens ebenso sehr an dem Adrenalin, das plötzlich durch ihre Adern strömte, wie an der Kälte. Sie versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Keine wichtige Frage zu vergessen.
»Haben Sie es mitgenommen, als Sie nach Hause gegangen sind? Das Messer?«
»Nein«, sagte Conti. »Weil Charlie nirgendwo zu finden war, als wir aufgebrochen sind, habe ich es mir erst am Tag danach geholt.«
»Wunderbar, vielen Dank«, sagte Hanson und fügte hinzu: »Es ist also nicht möglich, dass Alex Plaskitt es genommen hat?«
»Nein«, sagte Conti bestimmt. »Völlig ausgeschlossen.«
April stand auf und griff nach ihrer Handtasche. »Ich muss mal für kleine Mädchen und werde mir bei dieser Gelegenheit auch gleich die Lippen nachziehen. Kommst du mit?«
Louise schüttelte den Kopf. Sie war fest entschlossen, nicht mehr länger das bloße Anhängsel zu spielen, immer nur die ängstliche nüchterne Louise zu sein. »Ich bleibe hier, danke.«
Doch kaum war April weg, bereute sie es, nicht mit ihr gegangen zu sein. Eben noch anheimelnd schummrig, verwandelte sich der Club schlagartig in eine bedrückend düstere Höhle. Die tanzenden Männer bekamen plötzlich etwas beängstigend Animalisches, und Louise ertappte sich dabei, wie sie die Tänzer in ihrer unmittelbaren Nähe misstrauisch anstarrte.
Als einer von ihnen sie verhalten anlächelte, wandte sie sofort den Blick ab und stellte zu ihrer Beschämung fest, dass sie weiche Knie bekam.
Sie legte sich ihre Tasche, ihren großen, beruhigenden Schutzschild, in den Schoß und tat so, als kramte sie darin herum. Als sie wieder aufschaute, hatte sich der Tänzer von ihr abgewandt, als ob nichts gewesen wäre. Sie seufzte.
Reiß dich verdammt noch mal zusammen, Louise. Niemand sieht dich an. Niemand interessiert sich für dich.
Sie überlegte, ob sie sich noch einen Drink genehmigen sollte. Ein zweiten Gin Tonic. Gegen ihre Panik.
Sie schaute zur Bar, an der im Moment gar nicht so großes Gedränge herrschte. Es war erst Viertel nach elf. Für einen Club noch früh. Richtig voll würde es erst später, wenn die Pubs dichtmachten.
Der Kellner, mit dem April geflirtet hatte, war jetzt hinter der Bar und unterhielt sich mit jemandem, aber es hatte sich keine Schlange vor ihm gebildet. Sie brauchte nur hinzugehen und sich was zu trinken holen und wäre wieder zurück, bevor April zurückkam. Ein kleiner Schritt in Richtung größere Unabhängigkeit.
Sie stand auf, legte sich den Handtaschenriemen über die Schulter und steuerte auf die Bar zu. Sie sah den Barmann mit dem Kopf in ihre Richtung deuten, worauf sich der Mann, mit dem er sich unterhielt, zu ihr umdrehte.
Und als sie sein Gesicht sah, war es, als kippte sie plötzlich in ein tiefes gähnendes Loch.
»Du hast echt Nerven.«
Obwohl sie bereits aufgelegt hatte, hatte Hanson das Handy immer noch an ihrem Ohr, als sie herumwirbelte. Damian war der Letzte, den sie in diesem Moment brauchen konnte. Und natürlich, natürlich, war er ihr in den blöden Pub gefolgt. Und natürlich hatte er sich genau diesen Moment ausgesucht, um sie zur Rede zu stellen.
»Was erwartest du dir eigentlich von dieser ganzen Scheiße?«, fuhr er sie an. »Glaubst du etwa, damit wirst du mich los? Ich habe nämlich nichts Unrechtes getan, und du wirst vor deinen tollen neuen Kollegen wie der letzte Idiot dastehen.«
Sie hatte sich so oft überlegt, was sie ihm sagen würde, wenn sie ihm noch einmal begegnete. Tagelang hatte sie sich diesen Moment ausgemalt. Wie sie ihm lachend sagen würde, er solle sich an ihren Anwalt wenden, oder ihn fragen, wie er es fand, dass er auf einem ihrer Überwachungsvideos zu sehen war.
Aber jetzt hatte sie einfach nicht die Zeit, um ihm etwas davon an den Kopf zu werfen. Und als sie hinterher noch einmal darüber nachdachte, merkte sie, dass sie ihm mit nichts besser den Wind aus den Segeln hätte nehmen können als mit dem, was sie stattdessen sagte.
»Sorry, aber für diesen Scheiß habe ich jetzt keine Zeit.«
Sie stieß die schwere Schwingtür des Pubs auf und sagte zu ihren Kollegen: »Wir liegen total falsch. Total.«
Es war eigenartig, wie rasch die Vergangenheit in der Erinnerung noch einmal vor einem ablaufen konnte. Louise stand gerade mit ihrer Handtasche über der Schulter in einer Bar in Portsmouth und hatte nur einen Moment gewankt. Das war die ganze Wahrheit.
Die Wahrheit war aber auch, dass sie fast eine Stunde lang in einer anderen Bar gesessen hatte, mit einem großen, gutaussehenden Mann, der ihr Drinks ausgegeben und mit ihr geflirtet hatte. An seinen Namen konnte sie sich nicht mehr erinnern. Aber sie glaubte, dass er ihr irgendwie bekannt vorkam, aber sie wusste nicht, woher, und hatte es auch versäumt, ihn zu fragen.
Auch an Dina und Niall hatte sie gedacht. Vor allem an Dinas Hand auf Nialls Knie, und sie hatte die Wirkung ihrer Hand auf dem Knie dieses Manns getestet und sich vorgestellt, Dina zu sein. Diese Art von Macht zu haben. Und der attraktive Mann hatte sie mit einem langen, tiefgründigen Lächeln angesehen und sie aufgefordert: »Trink aus.«
Auf einmal lehnte sie schwerfällig an der Bar. Sie fühlte sich viel zu betrunken. Schon halb hinüber. Und dann bekam sie plötzlich vor allem, aber am meisten vor sich selbst Angst und stand unsicher auf. Zugleich merkte sie, dass die Hand des Mannes ganz oben auf ihrem Oberschenkel lag. Und sie war nicht mehr sicher, ob sie überhaupt wusste, wer er war. Was hatte sie in diesem Moment gedacht?
»Willst du schon gehen?«, hatte er sie gefragt. Und sie hatte sich auf sein Gesicht zu konzentrieren versucht. Ihr war die Art, wie er sie anlächelte, nicht ganz geheuer.
»Ja«, hatte sie geantwortet. »So leid es mir tut, aber ich muss … nach Hause.«
Als sie darauf ihre Handtasche nahm und auf den Ausgang zusteuerte, torkelte sie beim Gehen fast von einer Wand zur anderen.
Und sie war immer noch in dieser einen Sekunde stehen gebliebener Zeit auf der Tanzfläche, aber zugleich hatte sie, schien es ihr, stundenlang versucht, sich mit ihren bescheuerten High Heels auf den Beinen zu halten, als sie die London Road hinaufstakste. Irgendwann hatte sie sich in diesen Stunden umgeblickt und gesehen, dass ihr dieses komische Lächeln folgte, und sie hatte es mit der Angst zu tun bekommen.
Sie hatte ihr Handy herausgeholt, aber aus irgendeinem Grund war es ihr nicht gelungen, es zu entsperren. Ihre Finger hatten ihr den Dienst versagt. Sie waren die von jemand anderem geworden. Deshalb hatte sie loszurennen versucht.
Und dann, es schien nicht einmal eine Sekunde verstrichen zu sein, lag sie schluchzend mit dem Gesicht auf der Erde, und ihr Verfolger drückte ihr ein Messer in den Rücken. Und auf einmal erkannte sie auch seine Stimme wieder. Sie erinnerte sich an den Sheffielder Akzent aus dem Club, als er noch nette Dinge zu ihr gesagt hatte.
»Bitte nicht«, hatte sie gefleht. »Lass mich los.«
»Halt dein blödes Maul.«
Das Haar war ihr ins Gesicht gefallen, und er hatte sie herumgedreht, und sie hatte gefürchtet, es jeden Moment vollzukotzen. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Er zerrte an ihrer Unterwäsche, aber das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Sie wollte sich wehren, aber es war wie in einem Traum, und ihr Körper war unfähig, irgendetwas zu tun. Sie war vollkommen hilflos.
»Hey!« Eine andere Stimme. Tiefer. Und in ihr schwang eine ganz andere Drohung mit. »Was soll das?«
Das Gezerre an ihrer Unterwäsche hörte auf, und das auf ihr lastende Gewicht löste sich kurz von ihr. Bloß in ihrem linken Arm spürte sie noch einen heftigen Schmerz. Er rührte von der Hand her, die ihn weiter auf den Boden drückte.
»Mach den Abgang!«, zischte der Mann auf ihr. »Aber schnell!«
Louise bekam eine Hand frei, strich sich die Haare aus dem Gesicht und veränderte ihre Haltung so, dass sie das Gesicht des Mannes sehen konnte, der sie zu Boden drückte. Weil er sich ein Halstuch umgebunden hatte, war das Lächeln weg. Er war gesichtslos geworden. Grauenhaft.
Ein Stück hinter ihrem Angreifer ragte eine große Gestalt auf.
»Egal, wer Sie sind oder was Sie da machen, lassen Sie die Frau sofort los. Auf der Stelle!«
»Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich verpissen?« Plötzlich war eine unglaubliche Kälte in der Stimme mit dem jovialen Sheffielder Akzent. »Das geht dich nichts an.«
»Bitte helfen Sie mir«, schluchzte Louise. »Lassen Sie mich nicht allein.«
Darauf trat kurze Stille ein, und dann machte die große Gestalt einen Schritt auf sie zu. Das Gewicht auf ihrem Arm war plötzlich weg, ihr Angreifer wurde hochgerissen, und es ertönte ein grässliches Geräusch, als seine Faust auf den großen Fremden zuschoss.
Es folgten ein lautes Stöhnen und ein wilder Aufschrei. Die Faust des größeren Manns schoss so schnell vor, dass der mit dem Halstuch getarnte Angreifer nicht mehr ausweichen konnte. Sie traf ihn mit einem brutalen Knirschen. Gleichzeitig traktierte die große Gestalt Louises Angreifer mit heftigen Stößen und Tritten, bis dieser torkelnd von ihr zurückwich. Er versuchte gleichzeitig, zu fliehen und sich vor weiteren Schlägen zu schützen.
Danach wurde es still. Der widerliche Kerl mit dem Halstuch hatte sich davongemacht.
Zunächst hörte sie ihren Retter nur schwer atmen, dann fragte er: »Bei Ihnen alles okay?«
In diesem Moment krümmte sich Louise plötzlich ganz fest zusammen und begann so haltlos zu schluchzen, dass sie keine Luft mehr bekam.
»Shhh.« Er ging neben ihr in die Hocke. »Shhh. Ist ja gut. Alles wird wieder gut.«
Er half ihr vom Boden hoch, und jetzt sah sie, dass etwas aus seinem Bauch stand. Sie streckte die Hand danach aus und berührte den dunklen Fleck, der sich darunter auf seinem T-Shirt gebildet hatte. Und als sie die Hand wieder zurückzog, war sie warm und feucht.
»Sie sind ja verletzt«, stieß sie atemlos hervor.
Er lachte kurz auf, aber sein Lachen ging rasch in ein Stöhnen über.
»Alles nur halb so wild«, sagte er dann.
Jetzt sah sie zum ersten Mal sein Gesicht und merkte, dass sie ihn kannte. Sogar mit ihm gesprochen hatte. Auch er war im Club gewesen. »Ich lasse mich … gleich … verarzten. Aber erst bringe ich Sie nach Hause.«
Er schien sich seiner Sache so sicher zu sein, dass sie nickte und mit ihm losging. Um sie herum begann es zu schneien, und alles wirkte so unwirklich.
Und eine Weile später, aber gleichzeitig im selben Moment, war sie mit ihm oben im Schlafzimmer und zog sich die Schuhe aus, um sich ins Bett zu legen. Sie zitterte immer noch am ganzen Körper und rollte sich eng zusammen, aber seine Anwesenheit beruhigte sie.
Als er sich schwer auf das Bett niedersinken ließ, geriet die Matratze unter ihr heftig ins Schaukeln und Schwanken.
»Ich möchte mich nur … ist es okay für Sie, wenn ich mich kurz hinlege?«, fragte er. »Nur ganz kurz.«
»Klar«, sagte sie. »Legen Sie sich einfach hin.«
Er streckte sich, das Gesicht ihr zugewandt, neben ihr aus und schnappte abrupt nach Luft. Dann mühte er sich eine Weile mit einem gequälten, zum Schluss erleichterten Stöhnen mit etwas ab. Der Gegenstand, der aus seinem Bauch gestanden hatte, war ein Messer, das er jetzt in der Hand hielt, und eine zaghafte innere Stimme sagte ihr, dass er dringend Hilfe brauchte. Sie musste etwas tun.
Doch noch während ihr diese Stimme das sagte, wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie verlor das Bewusstsein, und die Welt um sie herum wich einer anderen, weniger brutalen, die irgendwo hinter alldem existierte.
»Mir ist kalt«, sagte er nach einer Weile, und als sie darauf die Augen wieder öffnete, sah sie, dass er blass war. Sehr blass. Und seine Augen waren voller Angst.
Sie streckte die Hand nach seinem Gesicht aus und begann, es zu streicheln. »Ist ja gut«, flüsterte sie. »Ich bin hier. Ich bin bei Ihnen.«