Am Samstagabend wäre Jonah am liebsten einfach aus der Station marschiert und nie mehr zurückgekommen.
Es war ein zermürbender Tag gewesen, mit anstrengenden Gesprächen und ausuferndem Papierkram. Am Morgen hatte er als Erstes dem DCS telefonisch Bericht erstattet, und nach langem Schweigen hatte ihn Wilkinson für ein persönliches Gespräch zu sich gebeten. Dieses zweite Gespräch war bohrend und schwierig gewesen und hatte Jonah das Gefühl vermittelt, alle enttäuscht zu haben.
Am Ende hatte Wilkinson geseufzt. »Mein persönlicher Eindruck ist, dass Sie in jeder Phase des Verfahrens die bestmögliche Entscheidung getroffen haben. Ich kann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, Jonah, dass jemand umsichtiger hätte vorgehen können.«
»Danke«, hatte Jonah erwidert und sich bereits gegen das gewappnet, was als Nächstes kommen würde.
»Aber als DCS muss ich das alles noch einmal einer eingehenden Überprüfung unterziehen. Wir müssen allem auf den Grund gehen und nachweisen, dass wir uns keine Versäumnisse haben zuschulden kommen lassen. Immerhin ist es uns nicht gelungen zu verhindern, dass ein Serientäter beinahe eine Frau getötet hätte, die ihn hätte identifizieren können. Wir müssen klarstellen, dass es von unserer Seite zu keinen Versäumnissen gekommen ist. Und vielleicht gelingt es uns dabei sogar, neue Erkenntnisse zu gewinnen.«
»Selbstverständlich.«
Danach war Jonah mit Lightman zu Marc Ruskin gefahren, um ihm mitzuteilen, dass sein Bruder tot war. Marc Ruskin, eine kleinere und harmlosere Ausgabe seines Bruders, war nach und nach immer blasser und stiller geworden und hatte sich eine Weile ins Bad seines Hauses zurückgezogen und sich dort mehrmals übergeben.
Als er wieder zurückkam, setzte er sich Jonah gegenüber und sagte, den Blick auf den Teppich gesenkt: »Es war nicht seine Schuld. Dass er war, wie er war, meine ich.«
»Hat er … ist in seiner Vergangenheit irgendetwas Besonderes vorgefallen?«
»Unsere Mutter«, sagte Ruskin mit zitternder Stimme. »Sie … wir wurden beide von ihr missbraucht. Sie hat uns gezwungen, alles Mögliche zu tun … Charlie war älter als ich und hat sie oft zu überreden versucht, wenigstens mich in Frieden zu lassen. Deshalb hat das Schlimmste er abbekommen. Das Schlimmste von allem. Ich wusste, dass er von Grund auf versaut war, aber ich dachte, wir … wir würden irgendwie darüber hinwegkommen.«
Jonah musste an die Schatulle aus Alex Plaskitts Auto denken und fragte Ruskin, ob seine Mutter dunkelhaarig gewesen sei.
»Ja.« Ruskin nickte. »Sie hatte langes dunkles Haar. Wir mussten es ihr bürsten, bevor …«
Jonah versuchte sein Bestes, alles so behutsam wie möglich aus Ruskin herauszubekommen. Als er das Haus schließlich verließ, tat er das mit einem Gefühl tiefer Beklemmung.
Danach hätte eigentlich April Dumont in die Station kommen sollen, aber es war ihnen nicht gelungen, sie zu erreichen. Ihr Handy war vom Netz genommen, und als sie schließlich jemanden in ihre Wohnung schickten, war dort nur ihr völlig aufgelöster Ehemann. Sie war vor mehr als vierundzwanzig Stunden ausgezogen und hatte alles, was ihr gehörte, mitgenommen, bevor sie mit Louise nach Portsmouth gefahren war. Sie hatte ihm nur gesagt, sie sei unglücklich und wisse nicht, ob sie ihn jemals wiedersehen wolle.
Wie sich herausstellte, hatte April Dumont auch alle anderen Verbindungen zu ihrem früheren Leben gekappt. Sie hatte sämtliche Bankkonten aufgelöst, oder zumindest die, von denen ihr Mann wusste, und ihren Pass in dem Hotelzimmer zurückgelassen, das sie in Portsmouth für sich und Louise Reakes gebucht hatte.
Und irgendwie wusste Jonah, dass sie April Dumont nie mehr wiedersehen würden. Dafür war sie viel zu clever. Sie musste ihre Flucht schon seit Jahren geplant haben.
»Zumindest beantwortet das ein paar Fragen«, sagte Jonah in dem Bemühen, der Sache auch positive Seiten abzugewinnen. »Ich bin ziemlich sicher, dass es April Dumont und ihr Ex-Mann waren, die Niall Reakes damals angeworben haben. Und ich habe den starken Verdacht, dass sie noch einiges mehr auf dem Kerbholz hat. Wenn Sie mich fragen, hat sie hinter diesen Drogengeschäften gesteckt und im Hintergrund die Fäden gezogen. Aber wenigstens dürfte Niall Reakes jetzt, wo sie sich abgesetzt hat, keine Hemmungen mehr haben, sie ans Messer zu liefern.«
Was April Dumont anging, konnten Jonah und der DCS nicht mehr viel anderes tun, als ihre Erkenntnisse an die National Crime Agency weiterzuleiten und es ihnen zu überlassen, sie aufzuspüren.
Am frühen Abend waren Jonah und Lightman schließlich zu Issa Benhawy gefahren und hatten sich inmitten seiner knallbunten Kissen mit ihm zusammengesetzt, um ihm offiziell mitzuteilen, dass sein Ehemann doch kein Mörder war.
»O mein Gott.« Benhawy schlug die Hand vor seinen Mund. »Im Ernst? Sind Sie auch ganz sicher?«
»Ja«, hatte Jonah gesagt. »Wir glauben, der Täter war Charlie Ruskin. Mit dem er anscheinend befreundet war.«
»Charlie?«, fragte Benhawy verständnislos.
»Wir glauben, dass Alex zufällig dazugekommen ist, als Ruskin versucht hat, Louise Reakes zu vergewaltigen«, erklärte ihm Jonah. »Ruskin war allerdings maskiert und deshalb nicht zu erkennen. Alex ist dazwischengegangen, um ihn aufzuhalten. Inzwischen ist Louise Reakes sicher, dass es so gewesen ist und dass der Mörder Alex ein Messer in den Bauch gerammt hat und dann geflohen ist.«
Benhawy hörte aufmerksam zu. »Dann … dann wollte er ihr also helfen?«
»Ja«, sagte Jonah und fügte ruhig hinzu: »Es tut mir leid, dass wir ihn so lange fälschlich verdächtigt haben.«
Benhawys Blick wanderte ein paarmal zwischen ihm und Lightman hin und her, als versuchte er das alles zu verarbeiten. »Aber wie ist er dann in ihrem Bett gelandet?«, fragte er schließlich, wieder zunehmend aufgebracht. »Warum hat er sich nicht helfen lassen?«
»Der Grund dafür war vermutlich, dass er zu betrunken war, um zu merken, wie schwer verletzt er war. Außerdem wollte er sichergehen, dass Louise Reakes wohlbehalten nach Hause kam. Sie sagt … er habe sie ins Bett gebracht und sie dann gefragt, ob er sich neben sie legen könne, weil er sich plötzlich nicht gut fühlte. Louise Reakes versuchte, ihn zu trösten, so gut es ging – leider ohne zu merken, dass er starb.«
Benhawy verzog den Mund, dann nickte er. »Und was hat es mit dieser … Schatulle auf sich? In seinem Auto.«
»Sie hat Charlie Ruskin gehört, nicht ihm«, schaltete sich an dieser Stelle Lightman ein. »Wir glauben, dass Ruskin in vielem der Zufall in die Hände gespielt hat. Da Alex seine Tasche im Club gelassen hat, hatte Ruskin Zugang zu seinem Autoschlüssel und konnte das Kästchen irgendwann in den frühen Morgenstunden in Alex’ Auto legen, nachdem Sie damit nach Hause gefahren waren und es auf der Straße geparkt hatten. Und hinterher hat er den Schlüssel vermutlich durch den Briefschlitz in Ihrer Haustür geworfen.«
Dieser Zusammenhang war Jonah klar geworden, als ihm wieder einfiel, welche Mühe Benhawy gehabt hatte, die Haustür aufzubekommen, als er ihm die Nachricht von Alex Plaskitts Tod überbracht hatte. Er hatte damals angenommen, der Autoschlüssel, von dem sie blockiert worden war, wäre von dem Tisch in der Diele gefallen, aber in Wirklichkeit war er durch den Briefschlitz geworfen worden.
»Dahinter hat letztlich nichts anderes als pure Verzweiflung gesteckt«, fügte Jonah hinzu. »Das alles sollte dem Zweck dienen, den Verdacht in jedem Fall auf Alex zu lenken – egal, ob er nun überlebt hätte oder nicht.«
»Außerdem haben uns mehrere Zeugen bestätigt, dass sich der Mörder im Club eine Weile mit Louise Reakes unterhalten hat«, fügte Lightman hinzu. »Und wir können seine Anwesenheit an drei Tatorten nachweisen, an denen andere Frauen Opfer eines Verbrechens wurden.«
»Und Sie glauben, vor Gericht wird das genügen?«, fragte Benhawy, der plötzlich wieder aufzuleben schien.
»Zumindest ergibt das alles ein stimmiges Bild«, sagte Jonah. »Leider ist Charlie Ruskin jedoch gestern Abend unter bisher noch nicht vollständig geklärten Umständen ums Leben gekommen.«
Kurz sah Issa Benhawy aus, als würde er wieder in sich zusammenfallen. Doch dann stieß er einen schaudernden Seufzer aus und sagte: »Gut so. Er hat es verdient zu sterben.«
An diesem Punkt gab es nicht mehr viel zu sagen, und da sie Benhawy nichts über die Vorfälle von vergangener Nacht erzählen durften, verabschiedeten sie sich von ihm. Sie waren bereits an der Haustür, als er ihnen hinterherkam und sagte: »Bitte bestellen Sie Louise Reakes, dass ich ihr sehr dankbar bin, dass … dass sie ihn in seinen letzten Momenten getröstet hat. Das Wissen, dass er nicht einsam und verlassen gestorben ist, macht es irgendwie leichter erträglich für mich.«
Jonah nickte. »Ich werde es ihr ausrichten.«
Auch wenn ihr die Ereignisse vom Tag zuvor noch tief in den Knochen steckten, kam Hanson am Sonntag endlich dazu, Sport zu machen. Sie powerte sich beim Laufen voll aus und genoss dieses Gefühl ungemein.
Lightman schickte ihr am späten Nachmittag eine WhatsApp, ob sie Lust hätte, was trinken zu gehen. Sie fragte sich, ob er sich bloß um sie kümmern oder etwas mit ihr besprechen wollte. Es war ungewöhnlich, dass er ihr ein privates Treffen vorschlug.
Sie verabredeten sich im Marriott, wo sie sich auch das letzte Mal auf einen Drink getroffen hatten. Damals war ihr das als der für sie beide bequemste Treffpunkt erschienen, obwohl es ihr auch ein wenig peinlich gewesen war, die Bar des Hotels vorzuschlagen. Dieses letzte Treffen hatte unter unklaren Vorzeichen gestanden, und sie hatte nicht abschätzen können, ob sie ausschließlich als Freunde zusammengekommen waren.
Sie musterte Ben aufmerksam, als sie auf seinen Tisch zuging. Er sah müde aus, fand sie. Und möglicherweise, aber nur möglicherweise, war er auch traurig. Bei ihm war das immer schwer zu sagen. Das Kakaoherzchen auf seinem Cappuccino war ausdrucksstärker als er. Aber sie beschloss, mutig zu sein und ihn zu fragen, bevor er dazu kam, dem Thema auszuweichen.
»Und? Wie geht’s dir?« Sie stellte ihre Tasche ab und setzte sich rasch. »Wie war’s gestern Abend? Wie geht’s deinem Dad?«
Lightman blickte zu ihr auf und grinste. »Soll ich jetzt alle Fragen auf einmal beantworten, oder eine nach der anderen?«
Sie grinste ebenfalls. »Also, die wichtigste ist auf jeden Fall, wie es dir geht. Aber ich dachte, das könnte mit den anderen beiden zusammenhängen.«
Er bewegte den Kopf ein paarmal vor und zurück, als hielte er diesen Einwurf für berechtigt. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er und sah sie dabei an, als wollte er sich vergewissern, dass sie ihm auch glaubte. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie das nicht tat. Trotzdem fuhr er fort: »Gestern ist es ziemlich spät geworden, aber dem Chef ist es wieder mal gelungen, alle breitzuschlagen.«
»Wie lief’s im Krankenhaus? Bei Louise Reakes?« Das war nicht wirklich die Frage, auf die sie eine Antwort wollte, aber sie erschien ihr unverfänglicher als irgendetwas Persönliches.
»Anders als erwartet.« Er nickte bedächtig. »Ihr Mann ist hingekommen und war, zu unser aller Überraschung, aufrichtig bestürzt über das, was passiert ist. Und natürlich habe ich ihnen nicht absichtlich zugehört, aber wir waren nun mal nur durch einen Vorhang getrennt …«
Hanson grinste. »Du kannst ruhig zugeben, dass du nicht weniger neugierig bist als der Rest der Menschheit. Komm, das musst du mir an der Bar erzählen.«
»Wenn du meinst.« Lightman stand auf und begann leise zu berichten. »Er hat sich wirklich mächtig ins Zeug gelegt, ihr schwer was vorgesäuselt, wie sehr er sie liebe und was für ein Idiot er gewesen sei, ihr so lange etwas vorzumachen. Aber das hänge alles nur mit seinem Job als Drogenkurier zusammen, in den er mehr oder weniger unfreiwillig hineingerutscht sei. Und dann kam er noch damit an, wie schrecklich Dina sei und dass er hoffe, sie nie mehr sehen zu müssen.«
»Hm.« Hanson fühlte sich an ihre eigene Situation erinnert. Mit Jason. »Nehmen wir ihm das ab?«
Lightman legte die Hände auf den Tresen und schaute sie kurz an. Sein Blick hätte alles bedeuten können. »Schwer zu sagen. In Stresssituationen bilden sich manche Leute ein, dass ihnen mehr an jemand liegt, als das tatsächlich der Fall ist.«
»Durchaus möglich.« Hanson winkte dem Barkeeper und bestellte für sie beide Gin. Irgendwie erschien ihr das wie ein Gin-Tag. Dann fragte sie: »Wie hat Louise Reakes reagiert?«
»Irgendwo zwischen weichgeklopft und skeptisch«, sagte er. »Würde mich nicht wundern, wenn sie ihm noch mal eine Chance gibt.«
Hanson verzog das Gesicht und sagte eine Weile nichts. Beide beobachteten, wie der Barkeeper Tanqueray in einen metallenen Messbecher goss. Schließlich sagte sie: »Ich weiß nicht, was ich ihr raten würde. Ob sie ihm wirklich trauen sollte.«
Ben nickte. Sie spürte, dass er sie ansah, aber es war einfacher, den Barkeeper zu beobachten.
»Letztlich kommt es doch nur darauf an, dass man glücklich ist, oder nicht?« Ben stützte die Ellbogen auf den Tresen und beugte sich vor, bis er auf Augenhöhe mit ihr war. »Ich bin der Auffassung, dass letztlich nur eins zählt: Macht es einen glücklicher, jemanden um sich zu haben, als ihn nicht um sich zu haben? Und wenn die Antwort darauf Ja lautet, ist die Sache ganz einfach.«
Hanson lächelte zaghaft. »Ja, wahrscheinlich hast du recht. Ich habe das allerdings nie auf die Reihe gekriegt.« Sie sah ihn denkbar kurz an. »Vielleicht will ich auch gar nicht glücklich sein.«
»Daran solltest du aber arbeiten«, sagte Ben, ebenfalls mit dem Anflug eines Lächelns.
Der Barkeeper stellte ihre Drinks auf den Tresen. Hanson zahlte und hob ihr Glas. »Auf den Entschluss, sich sein Leben nicht beschissener zu machen, als es ist.«
»Da schließe ich mich gerne an. Cheers.«
Und in perfektem Einklang hoben sie ihre Gläser und tranken.
Zu Jonahs schlimmstem Gespräch kam es am Sonntagabend.
Er saß an seinem Schreibtisch und versuchte, der Staatsanwaltschaft hinreichend Gründe zu liefern, das Verfahren gegen Louise Reakes einzustellen. Zunächst empfand er das Läuten des Telefons als Entlastung. Er sah es nicht als das, was es in Wirklichkeit war. Selbst dann nicht, als er zum dritten Mal in dieser Woche den Namen seiner ehemaligen Verlobten auf dem Display sah.
Er wusste immer noch nicht, was er tun sollte. Aber irgendetwas an Michelles hartnäckigen Kontaktversuchen kam ihm eigenartig vor. Vielleicht steckte sie in Schwierigkeiten. Vielleicht stimmte etwas nicht.
Das Läuten bekam eine Dringlichkeit, der er sich nur mit Mühe entziehen konnte. Deshalb ging er schließlich dran.
»Mein Gott, Jonah.« Ihre Stimme schwankte zwischen wütend und den Tränen nah. »Hättest du nicht wenigstens auf eine meiner Nachrichten antworten können?«
»Sorry.« Warum bekam er bei ihr immer sofort ein schlechtes Gewissen? »Ich habe gerade einen ziemlich schwierigen Fall. Gibt es was Dringendes?«
»So könnte man es nennen«, sagte sie. »Um ehrlich zu sein, bin ich gerade kurz davor … durchzudrehen. Wir haben Scheiße gebaut. Ich bin im vierten Monat schwanger.«
Kurz schien die Zeit stehen zu bleiben, als Jonah instinktiv im Kopf nachrechnete, ob er auch richtig verstanden hatte, was sie da sagte. »Oh Mann, das ist ja …«
»Eine einzige Katastrophe«, sprach Michelle für ihn zu Ende. Und dann hörte er sie am anderen Ende der Leitung weinen. Ihm war jedoch nicht klar, ob er in der Lage wäre, sie zu trösten. Zumal er das Gefühl hatte, dass ihm plötzlich sein ganzes Leben entglitt.